Ferdinand Baum & Die Reise des Herrn Kleinmann

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Die Band

Francesco Giuliano und Ferdinand gingen zwar in der Schule in dieselbe Klasse, richtig kennen lernten sie sich aber im Jazz Haus in Lustenau, direkt an der Schweiz-Österreichischen Grenze. Ferdinand und Francesco waren begeisterte E-Gitarristen. Die Lustenauer Jazz- und Blues-Szene war in den Achtzigern berühmt für ihre Musiker, die sich in Österreich einen gewissen Namen erspielten. Beeinflusst wurden sie durch einen amerikanischen Jazz Musiker, Less Rose, der von Los Angeles aus nach Europa geschickt wurde, um eine Zweigstelle des »Guitar Institute of Technology« zu errichten. Durch die Nähe der Geldgeber in der Schweiz und Liechtenstein kam er über Mittelsmänner zu den Musikern des Jazz Haus in der Schmugglergemeinde Lustenau, welche direkt an der Schweizer Grenze liegt. Less Rose eröffnete in den Achtzigern mit Hilfe eines renommierten Lustenauer Musikers das American Institute of Music, kurz AIM in Wien. Dabei wurde ein Teil der Finanzierung über die »Lustenau Connection« abgewickelt. Die ersten Workshops sowie Schulungen fanden im Jazz Haus Lustenau statt. Ferdinand stand am Anfang seiner musikalischen Laufbahn mit der E-Gitarre, welche er liebevoll »alte Lady« nannte. Die alte Lady erwarb er während einer London Reise in einem kleinen Guitar Store für vierhundert Pfund. Obwohl Ferdinand profunde Vorkenntnisse diverser Blasinstrumente hatte, welche er sich über die lokale Blasmusik in seiner Kindheit aneignete, spielte er auf der E-Gitarre nur die Basics. Einfache Skalen der Blues Pentatonik sowie die gängigen Griffe wie A, E, G. Der Clou an den ersten Workshops im Jazz Haus mit den amerikanischen Lehrern lag darin, jeden einzelnen der Besucher in den Himmel zu loben. Wenn Ferdinand zurück denkt, wurde ihnen nahezu etwas vorgegaukelt, um ihnen ein Gefühl zu geben, am Anfang einer großen musikalischen Karriere zu stehen. Less Rose erhoffte sich dadurch sein AIM mit Studenten zu füllen, egal ob sie talentiert waren oder nicht. Es war mehr wie logisch für Ferdinand und Francesco, die Liebschaft zu der Gitarre und den Künstlern weiter zu fördern, sowie eine professionelle Laufbahn einzuschlagen. Francesco saß im Jazz Haus neben Ferdinand. Beide waren gleich nervös, was den Ablauf des ersten Workshops mit Less Rose betraf. Sie nickten sich am Anfang kurz zu, ohne nur ein Wort zu reden. Als Less Rose schließlich alle aufforderte, ein kurzes Solo über einen Blues in der Tonart A zu spielen, um das Level der Gruppe besser einschätzen zu können, lagen die Nerven der beiden blank am Boden. Jedoch war es das Talent des immer gut gelaunten Less Rose, jedem das Gefühl zu geben, der beste Musiker der Welt zu sein. Was sich im Laufe des Workshops zu einem Phänomen entwickelte. Die anfangs steife Situation und die seicht oberflächliche Konversation entwickelte sich zu einer lebendigen, freudigen Aufbruchsstimmung, bei der sämtlich Hemmschwellen über das nicht vorhandene Können der Provinzmusikers vollkommen ausgeblendet wurde. Ferdinand und Francesco wurden Freunde, die gemeinsam noch unzählige Workshops miteinander besuchten, bis sie den Entschluss fassten, eine eigene Band zu gründen. Seit der Gründung ihrer Band »The Sinep« welche einige Konzerte in diversen Jugendhäusern gaben, entwickelte sich ein umgangssprachlicher Code, den sie heute benutzen, um ihre Geschäfte am Telefon zu besprechen. Es sind zwei Musiker, die über ihre Proben und Auftritte reden. Verpackt darin sind alle Informationen, die Francesco und Ferdinand brauchen, um kurz und ohne Umschweife ein Telefonat zu führen. Jemand, der mithört, würde meinen, es geht um einen Auftritt oder eine Probe.

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Zwei Croissants

Ferdinand setzt seinen Heimweg fort. Er macht noch einen kurzen Abstecher im Café & Bäckerei Ulmer in der an Lustenau grenzenden Stadt Dornbirn. Von dort aus über die Landstraße und die Dörfer weiter bis zur Villa von Zobel nach Bregenz. Im Café Ulmer gibt es, seiner Meinung nach, die besten Croissants der ganzen Gegend. Außerdem treffen sich im Ulmer jeden Morgen einige alte Männer, die über die Vorkommnisse der letzten Stunden und Tage immer Bescheid wissen. Ein bunter Haufen von sechzig- bis neunzigjährigen. Besucher sollten sich nicht vom Interieure des Ulmers abschrecken lassen, fühlt man sich doch in die siebziger Jahre zurück versetzt. Nicht bunt und fröhlich, eher rustikal und in braun bis gelb gehalten, wurden hier die letzten dreissig Jahre keine Änderungen vorgenommen. Für Ferdinand eine Goldgrube, da die Alten aus verschiedensten Schichten der Gesellschaft zusammengewürfelt sind. Einige spielen Karten. Andere diskutieren jeden Tag über Politik sowie den Job, den sie einmal ausgeübt haben. Ferdinand ist der Galerist, der mit dem Mercedes 123c vorfährt, sein Croissant isst und einen Kaffee trinkt. Der 1979iger Mercedes Benz war damals das absolute Top-Auto jedes Firmenbesitzers sowie derjenigen, die es in der Gegend zu etwas gebracht haben. Industrielle, Banker, hohe Politiker fuhren einen W123. Jeder der Männer im Café Ulmer wollte damals in den siebziger und achtziger Jahren einen W123er sein Eigen nennen. Der Benz ist wie ein Büchsenöffner für den Anfang eines Gesprächs, da die meisten sehr gut über das Modell Bescheid wissen. Später lenkt Ferdinand die Unterhaltung geschickt auf ein Thema, das er ansprechen will, um an Informationen für sein Vorhaben zu kommen. Eines hatten die frühen Besucher alle gemeinsam: sehr gute Kontakte zu ihren alten Arbeitsstellen sowie Kindern, welche jetzt ihre Geschäfte leiten oder in der Politik in Österreich, der Schweiz oder Liechtenstein tätig sind. Heute beschließt Ferdinand, zwei Croissants mit auf den Weg zu nehmen. Er ist zu früh für die alten Herren im Ulmer angekommen. Kurz nach neun, gut eine Stunde bevor sich der Stammtisch füllt.

Ein Croissant für Liselotte, Alma Maria Stevens Haushälterin, das zweite wird Ferdinand am späteren Nachmittag zu sich nehmen. Er liebt es, das Gebäck mit feinem Parmaschinken und einer Scheibe Bregenzer Wälder Käse zu belegen. Diesen Vorgang zelebriert er am liebsten alleine, ohne die kritischen Blicke von Liselotte oder anderen, die darüber ihre Nase rümpfen. Manche empfinden es als Beleidigung, ein gutes Croissant so ordinär zu behandeln. Für Ferdinand hingegen ist es seit einigen Jahren zu einem täglichen Ritual geworden, das ihm Struktur für den Tag gibt. 16 Uhr Croissant mit Schinken, Käse und einer Tasse Arabica Kaffee. Mit Liselotte verbrachte er unzählige Nachmittage damit, über die Notwendigkeit von fixen Tagespunkten zu diskutieren. Liselottes Meinung darüber ist weit entfernt von Ferdinands Einstellung zu diesem Thema. Als Haushälterin der fast nie anwesenden Besitzerin Alma Maria Stevens hatte sie keine Zeit, sich über Tagesstrukturen Gedanken zu machen. Die Villa von Zobel ist viel zu groß, als dass Möglichkeiten eines arbeitstechnischen Leerlaufes entstehen konnten.

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Villa von Zobel

Die alte Villa, die John Stevens von Star Architekt August von Zobel im Jahr 1916 errichten ließ, braucht ständige Aufmerksamkeit. Vom Keller bis zum Dachboden im dritten Stock benötigt Liselotte zwei Tage, um nur die Räume vom lästigen Staub, der sich durch die alten Holzbalken und Teppichböden zu Hauf bildet, zu befreien. Das Herrenzimmer mit der Bibliothek in der untersten Etage in Schuss zu halten, ist für sie die größte Herausforderung. Über dreitausend Bücher sammelten sich im Zeitraum von hundertzwanzig Jahren an. Jedes Buch muss sorgfältig einzeln abgestaubt werden. Eine Sisyphusarbeit. John Stevens, Alma Marias Vater, konnte sich von keinem der Bücher trennen und ließ es sogar testamentarisch eintragen, dass die Erben verpflichtet sind, die Bibliothek zu behalten und den Bestand fortlaufend zu erweitern. Was seit dem Wechsel von Alma Maria Stevens Hauptwohnsitz auf die Fijis Ferdinand übertragen wurde.

Die schmale Auffahrt zur Villa von Zobel ist gesäumt durch eine Allee von alten Lindenbäumen. Sie lassen Ferdinand kaum mehr wie eine Wagenbreite Platz, als er kurz vor zehn Uhr zum Haupteingang fährt. Gepflanzt wurden die Bäume noch auf Anordnung von Architekt August von Zobel, der in seinem Vorantreiben einer reduzierten Ästhetik das Wachsen der Bäume über die letzten hundert Jahre vergessen hatte. Die Bäume mit einem Durchmesser von über einem Meter verengten die Straße hoch zur Villa um einen Meter. Ein Versuch, die Bäume durch neue zu ersetzen, wurde von den Beamten der Stadt Bregenz jedoch abgelehnt. Die Villa sowie der gesamte Garten mit seinem Baumbestand sind seit den achtziger Jahren unter Denkmalschutz gestellt. Die Villa liegt im nördlichen Teil von Bregenz, auf einer Anhöhe, die von der ersten Etage freien Blick auf den Bodensee und den Nachbarstaat Deutschland ermöglicht. Vor der dreistöckigen Villa, welche in der Mitte einen winzigen Glockenturm besitzt, ist nur genug Platz für ein Auto. Alma Maria Stevens setzte es bei den Bregenzer Behörden durch, trotz Denkmalschutz eine geeignete Tiefgarage unter der Villa errichten zu lassen. Sie nutzte die Gelegenheit und ließ die Tiefgarage um einiges größer bauen als es genehmigt wurde. Ferdinand lässt sein »Auto des Tages« immer vor der Villa stehen, was meistens zu Konflikten mit Liselotte Gruber führt, die dann ihre Besorgungen durch die Tiefgarage und die steile Treppe in die Villa tragen muss. Wenigen Einwohnern von Bregenz ist bekannt, welch ein Juwel sich hinter den vielen Bäumen und Sträuchern praktisch mitten in der Stadt verbirgt. Ferdinand wiederum ist froh, dass dieser Umstand ihm eine gewisse Anonymität einbringt. Nur der Postbote und der Zeitungsausträger besuchen einmal am Tag den Postkasten beim massiven Einfahrtstor der Villa. Ferdinand sieht Liselotte an den Fenstern des Herrenzimmers im Untergeschoss. Da er sich erneut auf den kleinen Parkplatz vor der Villa stellt, würdigt Liselotte Ferdinand keines Blickes. Ein Croissant für die liebe Liselotte und die Situation wird sich neutralisieren, ist sich Ferdinand sicher, als er die Villa betritt.

 

Ferdinand serviert Liselotte das mitgebrachte Croissant mit einer Tasse Kaffee, Butter sowie Marmelade auf einem Jugendstil Tablett mit dunklem Holzboden und verschnörkelter Silberumrandung. Neben der Kaffeetasse liegt eine Nelke, die er aus einem Blumenstrauß in der Küche entwendete und elegant als seine eigene Kreation auf dem Tablett platziert. Liselotte ignoriert ihn, als er das Herrenzimmer mit einem »Schönen guten Morgen, meine Liebste«, betritt. Erst als der Duft des frischen Kaffees Liselottes Geruchsnerven erreicht, lässt sie von ihrem Staubwedel am ersten der fünf Bücherregale ab.

»Auch einen guten Morgen, der Herr. Schon früh raus heute?«

»Ein Kunde, der nur morgens zu sprechen war. Überaus nervig so etwas. Aber was tut man nicht alles für Misses Stevens und ihre Galerie.« Liselotte setzt sich zu Ferdinand auf das schwarze Chesterfield Sofa. Sie ist sichtlich beglückt über das Bemühen Ferdinands, sie bei guter Laune zu halten. Die Nelke legt sie vorsichtig mit einem »Danke« neben das Tablett, wissend, dass die Blume aus ihrem Strauß in der Küche stammt. Ferdinand beobachtet Liselotte, wie sie graziös ihre Tasse zum Mund führt. Obwohl sie Ferdinand nie ihr richtiges Alter verraten hatte, vermutet er, dass sie trotz ihres jugendlichen Aussehens knapp über 60 Jahre alt sein könnte. Liselotte Gruber arbeitet schon über vierzig Jahre für Alma Maria Stevens. Sie stammt aus Schwarzenberg, einer kleinen oberösterreichischen Gemeinde an der Grenze zur Tschechischen Republik im Böhmerwald. Während ihrer Arbeitszeit in der Villa pflegt sie stets eine weisse Dienstmädchen-Schürze über ihrer in schwarz gehaltenen Kleidung zu tragen. Ihre Haare arrangiert sie zu einem traditionellen Zopf. Ihr war es schon immer wichtig, eine perfekte Frisur zu haben, auch während der Arbeit. Der in letzter Zeit leichte Blauton ihrer schwarzen Haare lässt vermuten, dass sich Liselotte in der Tönung vergriffen hat. Ferdinand wagte es einmal, sie darauf anzusprechen, woraufhin sie ihn für eine ganze Woche mit Schweigen strafte. Ihr innerösterreichischer Akzent drang nur ganz selten durch ihr perfektes Hochdeutsch. Vor allem, wenn Liselotte verärgert war, fiel sie in einen Sing Sang unverständlicher Flüche, welche teilweise auch in die tschechische Sprache, die sie als Zweitsprache beherrschte, abwanderten. Hinter ihrer Dienstmädchen-Schürze versteckt sich eine perfekte Haushälterin, die auch Alma Maria Stevens Buchhaltung in Schuss hält und ihre Güter während ihrer Abwesenheit verwaltet. Liselotte ist Alma Maria Stevens rechte Hand in allen Belangen während ihrer Abwesenheit. Vor allem hält sie die Hand über die Finanzen, was die Stiftung in Liechtenstein sowie die Galerie El-Mar in Bregenz, angeht.

Die Stelle der Geschäftsleitung in der Galerie El-Mar wurde lokal im Bregenzer Gemeindeblatt ausgeschrieben. Interessierte konnten sich donnerstags direkt in der Galerie vorstellen. Es war Zufall, dass Ferdinand genau an jenem Donnerstag die Galerie besuchte, einige Tage, nachdem ihr alter Galerist, Herr Van der Zwarn, ein Holländer, im Alter von 92 Jahren bei einem Autounfall verunglückte. Ferdinand war drauf und dran, der Galerie einen Denifl, den er im Dachboden seines Elternhauses gefunden hatte, zu verkaufen. Dazu kam es zu Ferdinands Glück aber nicht. Der Denifl war am unteren Ende der Preislisten für lokale Maler. Mehr als hundert Euro hätte er wohl nicht bekommen, obwohl Denifl als angesehene Persönlichkeit von Dornbirn galt. Den Denifl ernsthaft einer Galerie zu überhöhtem Preis anzubieten, hätte bei geschultem Personal den Eindruck eines versuchten Betruges erwecken oder ihn als Laie darstellen können. Liselotte begrüßte ihn an jenem Donnerstag mit einem »Sie kommen sicher wegen der Neubesetzung der Leitung für die Galerie.« Ferdinand hatte zur der Zeit weder eine Arbeit, noch Geld, um seinen Lebensaufwand bezahlen zu können. Er stieg auf die Anfrage von Liselotte ein und schon nach wenigen Worten merkten sie, dass beide auf der selben Wellenlänge lagen, was ihre Vorstellung von Arbeit und Leben betraf. Ferdinand schenkte Liselotte und der Galerie den Denifl, der nun seit Jahren im Keller auf seinen Einsatz wartete. Einige Tage später wurde Ferdinand offiziell als neuer Leiter der Galerie El-Mar vorgestellt.

Liselotte ist Mitglied des Stiftungsrats von Alma Marias Stevens Stiftung in Liechtenstein. Sie schlug Ferdinand vor, einen Sitz im Gremium für An- und Verkäufe im Aufsichtsrat zu übernehmen. Ab und zu kam es vor, dass Geschäftsabschlüsse der Stiftung einen sensiblen Umgang mit Geld gegenüber der Finanzbehörde verlangte. So begann Ferdinand, Devisen für die Stiftung von Liechtenstein über die Grenze zu schaffen und sich die Basis für die ersten privaten Transporte von Gütern, die nicht deklariert werden sollten, zu legen. Die Stiftung unterstützt junge Künstler, indem sie ihre Werke ankauft und in der Galerie weiter verkauft, lagert oder umgekehrt.

»Wie läuft es in der Galerie?«

»Nicht viel los im Moment. Ein, zwei Bilder, die eventuell aus einer Liechtensteiner Stiftung freigegeben werden. Ich versuche, die Bilder für die Galerie zu bekommen. Nichts Bewegendes, aber immer noch besser, als das, was wir im Moment in der Sammlung haben. Geplant ist noch ein Ankauf von der Stiftung, ich habe mich noch nicht entscheiden können, welches Bild. Ich werde wohl morgen nochmals nach Liechtenstein fahren, damit ich das regeln kann.«

Ein SMS Ton, der eine Nachricht von 117 ankündigt: »Auftrag kann erledigt werden.«

»Was gibt es Neues von Alma Maria?« fragt Ferdinand Liselotte und beginnt, Francesco auf 117 zu antworten. Das Thema Alma Maria Stevens löst bei Liselotte immer einen schier nie endenden Monolog aus. Liselotte steht im täglichen Kontakt mit Alma Maria auf den Fijis. Irgendwann machte es sich Ferdinand, aus anfänglich genervten Zügen über ihren Redeschwall, zu Nutze, während Liselotte‘s Monolog seine kleineren Arbeiten am Mobiltelefon zu erledigen. Liselotte schien das nie sonderlich zu stören, da sie froh war, den täglichen Reinigungstrott durch eine gepflegte Tasse Kaffee und eine kleine Unterhaltung zu unterbrechen. Ferdinand öffnet das Kuvert von Michi Schneider und fügt die Daten der Übergabe zu Francescos Nachricht. Während Liselotte redet, versucht er, so unauffällig wie möglich seine Nachrichten zu verschicken. Gelegentlich blickt er auf und nickt ihr zu. Alle zwei bis drei Sätze wirft er ein »Aha« ein. Das »Aha« eignet sich hervorragend gut als Allgemeinantwort sowie Bestätigung seiner Aufmerksamkeit. Ferdinand will Liselotte nicht unterbrechen. Er schreibt, entgegen seinen Gewohnheiten, wichtige Angelegenheiten persönlich zu besprechen, eine SMS an Michaela Schneider. »Nehme den Auftrag an. Bitte um Bezahlung der Bilder wie üblich.« Sekunden später erscheint die Antwort OK von der 13, wie er Michaela Schneider gespeichert hatte. Zur gleichen Zeit von der 117 »Auftritt steht, muss noch Proben, bis morgen.«

»Ferdinand, ich weiss, Sie hören mir nicht zu. Aber dennoch danke für den Kaffee und das Croissant. Eines Tages werde ich es schon noch schaffen, mit Ihnen einen Kaffee zu trinken, ohne dass sie anderen Arbeiten nachgehen. Ich würde sagen, ich entlasse sie aus meinen Diensten. Ich muss heute noch die Regale entstauben. Und nochmals danke, dass sie so unregelmäßig die Büchersammlung von Alma Maria erweitern. Jedes Buch weniger zählt.« Liselotte steht auf und geht wieder zu ihrem Bücherregal. Ferdinand antwortet mit einem »Aha«, ohne wirklich auf Liselotte einzugehen, den Blick immer noch auf sein Mobiltelefon gerichtet. Der Ton eines Raben mit dem Symbol einer Kamera erscheint auf seinem Telefon. Das Zeichen, dass eine Aktivität beim Briefkasten an der Galerie stattgefunden hat. Er wird nachher an Liselottes Computer eine Auswertung der Kamerabilder durch-führen, bevor er morgen in die Galerie El-Mar fährt, um die Bezahlung zu überprüfen. Ferdinand vermutet, dass es sich hier um die Bezahlung von Michaela Schneider handelt. Er wundert sich aber über die Schnelligkeit der Bezahlung. Knappe fünf Minuten, fast unmöglich, wenn man nicht schon in der Nähe der Galerie ist.

»Danke, meine Dame. Ich werde mich nochmals kurz zurückziehen. Morgen geht es früh los. Es scheint, so als ob sich in der Sache in Liechtenstein etwas getan hat.« Ferdinand lässt das Geschirr stehen und begibt sich in seine Wohnung im ersten Stock, ohne Liselotte nochmals anzusehen. Jetzt will er noch eine Runde schlafen. Er beschließt, morgen den Defender für den Auftrag zu fahren.

7

Der Auftrag

Ferdinand biegt mit seinem Auto des Tages, dem weissen Land Rover Defender um die letzte Kurve vor der Grenze Feldkirch Schaanwald. Der Grenzübergang zwischen Österreich und Liechtenstein ist sehr frequentiert von Autos und LKWs, die über Liechtenstein nach Italien fahren. Für heute Vormittag der ideale Übergang, denkt sich Ferdinand. Leider erweist sich diese Entscheidung als fataler Fehler. Ausgerechnet am Vormittag werden die LKWs einer Schwerpunktkontrolle unterzogen. Vornehmlich handelt es sich um die Fahrzeuge aus Osteuropa, welche selten die strenge Überprüfung eines Grenzbeamten ohne Beanstandung übersteht. Im Zeitlupentempo fährt Ferdinand neben einem rumänischen Sattelschlepper in der zweiten Spur. Der Rumäne ärgert sich lautstark darüber, seinen knappen Zeitplan heute nicht einhalten zu können. Ferdinand weiss von befreundeten LKW Fahrern, dass sie bei einem Zeitverlust mit Abzügen bei ihrem Gehalt rechnen müssen. Rumänische, polnische oder serbische LKWs eignen sich auf keinen Fall für Ferdinands Transportunternehmungen. Sie sind für die Beamten und Polizisten wie Glühwürmchen im Wald. Fast schon ein Muss, einen Fahrer aus einem der Länder anzuhalten. Besonders dann, wenn der Tagessoll an Strafzetteln noch nicht erfüllt wurde. Bei den osteuropäischen Transporteuren ist immer etwas zu finden. Gerade in Zeiten, wo der Menschenhandel mehr und mehr in den Fokus der Grenzwächter fällt, gilt für Ferdinand Regel Nummer 2: »Immer unter dem Radar bleiben.« Nervös blickt Ferdinand wieder auf seine Juwel Uhr. Er hat zwar einige Minuten Reservezeit für die Fahrt eingerechnet, aber dieses Mal scheinen die Schweizer Grenzbeamten besonders hartnäckig, auch den Personenverkehr zu kontrollieren. Ferdinand vermutet, es kann sich nur um die Umsetzung der neuen Flüchtlingsgesetze der Schweiz handeln. Liechtenstein ist zwar als Staat souverän, dennoch übernimmt das Fürstentum die adaptierten Gesetze der Schweiz, wenn es um die Flüchtlingspolitik geht. Das zumindest behauptet Ferdinand immer wieder an seinem Jassbend mit einem seiner Kollegen, einem Grenzbeamten in der Verwaltung. Morgen wird er ihn treffen und auf diese Situation ansprechen, nimmt sich Ferdinand vor. Immerhin erhofft er sich regelmäßige Informationen über die Aktionen der Beamten an den Grenzübergängen. Diese Verschärfung der Kontrollen wurden mit keinem Wort erwähnt. Wenn er es in den nächsten fünf Minuten nicht schafft, muss er die Aktion abbrechen. Er würde viel zu spät zu der Übergabe eintreffen. Ein gefundenes Fressen für Francesco, den er dort erwartet. Ausgerechnet heute, hat er doch erst letzte Woche Francesco darauf hingewiesen, regelmäßig mit Verspätung einzutreffen. Es war eine hitzige Diskussion zwischen den beiden, die Ferdinand für sich entscheiden konnte.

Er bräuchte knappe fünfzehn Minuten von der Grenze in Feldkirch nach Vaduz in Liechtenstein. Vorausgesetzt, er findet sofort einen Parkplatz in der Nähe der Tiefgarage, könnte er es noch schaffen, rechtzeitig anzukommen. Endlich erreicht er die Grenze. Pass und Führerschein hält er in der linken Hand, als er vor dem Liechtensteiner Grenzbeamten stehen bleibt. Mit »Keine Waren dabei, nichts zu deklarieren«, in einer perfekten Liechtensteiner Aussprache übernimmt Ferdinand die Arbeit des Grenzbeamten. Der Beamte winkt ihn mit versteinerter Miene, herablassend und ohne ein Wort zu sagen, weiter. Ferdinand hat es schon lange aufgegeben, sich über die wortkargen Beamten zu ärgern. Dieser jedoch kommt ihm in der Situation gerade recht. Keine weiteren Fragen oder gar noch Kontrolle des Passes oder Kofferraums. Das wäre das Ende des heutigen Auftrags gewesen. Über die Landstrasse schafft es Ferdinand in neuer Rekordzeit nach Vaduz. Er will auf keinen Fall Francesco ein Gefühl der Überlegenheit geben. Francesco würde es nicht sofort zeigen, nicht einmal eine Miene verziehen, sollte sich Ferdinand für seine Verspätung entschuldigen. Diese Retourkutsche würde viel später kommen, dann, wenn Ferdinand wieder einmal etwas auszusetzen hätte. Ferdinand kannte jede Radarbox im ganzen Grenzgebiet von Liechtenstein, Österreich und der Schweiz. Normalerweise hält er sich penibel genau an die Geschwindigkeitsvorschrift. Regel Nummer 2: »Immer unter dem Radar bleiben.« Ein Foto von seinem Auto und Gesicht wäre eine Katastrophe. Das wäre ein fataler Verstoß gegen Regel Nummer 2. Ferdinand hat Glück. Durch das geschickte Umfahren bekannter Stauzonen bei Kreuzungen mit langen Rot-Phasen und einem Parkplatz in einer Seitengasse, dem Beckagässli, kaum hundert-fünfzig Meter von der zentralen Tiefgarage, die direkt unter dem ehemaligen Hotel Real liegt, erreicht er sein Ziel im geplanten Zeitfenster. Ferdinand versucht trotz Eile, eine gewisse Ruhe in seinen Gang zu bringen. Es gleicht einem Schlendern, die Hände auf dem Rücken haltend. Er grüßt einen vorbeigehenden Passanten, dann bleibt er kurz stehen, um sich die Auslage des Herrenausstatters Schneider&Co anzusehen. Er tut so, als ob ihn ein Mantel in der Auslage besonders interessiert. Nickt einmal mit dem Kopf und geht dann weiter zu dem Juwelier Mokka auf der gegenüberliegenden Straßenseite, um sich dort kurz die Auslage anzusehen. Ferdinand weiss genau, welche Ecken im Zentrum von Vaduz mit Kameras ausgestattet sind. Das ist der Grund seines unauffällig ruhigen Spaziergangs über den Hauptplatz von Vaduz. Keiner einzigen Kamera dreht Ferdinand sein Gesicht zu. Die Gasse links neben dem Juwelier führt direkt zu einem Seiteneingang der Tiefgarage, Ferdinands Ziel. Die Treppe des Eingangs in die Tiefgarage führt in das zweite Untergeschoß. Erst jetzt rennt Ferdinand los. Eine Minute zu spät. Dafür muss er sich nicht entschuldigen. Eine Minute gab er damals auch Francesco als verschmerzbar an. Das kann schon mal an der Uhr liegen. Analoge Armbanduhren. Auf keinen Fall ein Mobiltelefon. Schon gar nicht eines mit GPS und Treckingfunktion. Regel Nummer 16: »Keine nachvollziehbaren Spuren hinterlassen.« Francesco ist sicher noch nicht da. Er betritt die Tiefgarage im zweiten Untergeschoss. Hier stehen fast ausschließlich Autos von Dauerparkern. Die Liechtensteiner vermeiden es, lange Wege zu gehen und schon gar nicht in die zweite Ebene der Tiefgarage zu fahren. Im hinteren Teil der Garage gibt es keine Videoüberwachung. Ferdinand vermutet, dass hier gezielt gespart wurde beim Bau der Anlage. Allerdings findet er den Platz ideal für eine Übergabe mitten in der Gemeinde. Er versucht nun, ganz entspannt weiter zu gehen. Francesco darf auf keinen Fall vermuten, er wäre in Eile. Regel Nummer 19: »Immer cool bleiben.« Plötzlich ertönt ein Schuss, der durch die Betonwände zu einem gewaltigen Echo führt. Ferdinand geht sofort hinter einem Auto in Deckung.

 

»Von wegen Regel Nummer 19«, sagt er vor sich hin. Schüssen aus dem Weg gehen ist hier seine oberste Priorität. Er ärgert sich über die Auftragszusage, noch bevor er überhaupt weiss, was geschehen ist. Durch den Nachhall des Schusses hindurch hört Ferdinand zwei Männerstimmen. Sie schreien so laut, dass es einfach herauszuhören ist, dass es sich bei beiden nicht um Francesco handelt. Vorsichtig kriecht er hinter einem grauen Bentley S2 zum Gang in der Mitte der Garage. Gut zehn Meter vor ihm sieht er zwei Männer. Einer liegt auf dem Boden und hält einen Aktenkoffer fest. Er scheint am linken Oberschenkel angeschossen. Seine Hose ist blutverschmiert. Dennoch hält er den Koffer fest in seiner Hand. Der Mann mit der Pistole trägt einen langen Herrenmantel und einen hellen Panamahut. Er richtet die Waffe auf den Mann am Boden. Der Mann auf dem Boden macht eine schnelle Rückwärtsbewegung, verheddert sich aber mit seinen Füssen mit denen des Mannes mit der Waffe. Der Mann mit der Waffe verliert kurz sein Gleichgewicht löst dadurch einen weiteren Schuss aus seiner Pistole und trifft den Mann am Boden erneut. Diesmal bleibt der Mann am Boden liegen und rührt sich nicht mehr. Ferdinand vermutet, dass er direkt in die Brust getroffen wurde. Kann tödlich sein, muss aber nicht, wenn er Glück hat. Der Mann am Boden landet mit dem Gesicht in Richtung Ferdinand, der mittlerweile unter dem Bentley liegt und ihm von seiner Position aus direkt in die Augen sieht. Jetzt erkennt er den Mann. Gerald Mitterer, ein Mitarbeiter der MEL Bank AG Vaduz, welche kaum dreihundert Meter von der Tiefgarage entfernt ist. Ferdinand führte vor einem Jahr ein längeres Gespräch mit Mitterer. Er versuchte, bessere Konditionen für sein Girokonto zu bekommen, da er ja Mitarbeiter der Stiftung von Alma Maria Stevens ist. Mitterer allerdings ließ sich nicht auf lange Diskussionen mit Ferdinand ein. Er würde zu wenig verdienen, um Vergünstigungen zu bekommen. Ferdinand wusste damals, dass es bei einigen Bankern durchaus möglich war, auch mit einem ganz normalem Einkommen in den Genuss günstiger Kontoführungsgebühren sowie moderaten Zinsen bei einem möglichen Abrutschen ins Minus zu kommen. Mitterer ließ Ferdinand in der Filiale stehen wie einen kleinen Schulbuben, der vom Lehrer gerade zurecht gewiesen wurde. Ferdinand schwor sich damals, nie mehr einen Banker um etwas zu bitten. Doch jetzt liegt er da. Keine zehn Meter von Ferdinand entfernt blickt Mitterer ihm direkt in die Augen. Ferdinand bemerkt, dass noch Leben in ihm steckt, doch kann er ihm nicht helfen. Auf keinen Fall will er mit dem Mann mit der Pistole in Kontakt kommen. Zum ersten Mal seit langem bereut Ferdinand, sein Telefon - wie bei jeder Übergabe - im Auto liegen gelassen zu haben. Was war nur mit Francesco los? Über die obere Etage der Tiefgarage kann man durch die Galerie Sirenen der Polizei hören. Es kann sich nur noch um ein, zwei Minuten handeln, dann würden sie hier eintreffen. Der Mann mit der Pistole greift nach dem Koffer. Erst jetzt bemerkt er, dass der Koffer mit einer Kette an Gerald Mitterer’s Hand befestigt ist. Es nützt das ganze Ziehen am Koffer nichts, ohne Schlüssel oder Bolzenschneider wird er ihn nicht von Mitterer’s Hand abbekommen. Hektisch sucht der Mann mit der Pistole Mitterer’s Sakko und seine Hosentaschen ab. Ohne Erfolg, er kann den Schlüssel nicht finden. Mit noch einem Schuss versucht er die Kette aufzuschießen, was ihm nicht gelingt. Noch ein Schuss auf eines der zwei Schlösser des Koffers, der sich einen Spalt weit öffnet, gerade so weit, dass eine kleine Hand hinein passt. Er ergreift einige Geldbündel, die er sofort wieder neben den Koffer wirft, um es erneut zu versuchen. Stimmen im oberen Geschoß sind zu hören. »Polizei!« Jetzt lässt er von Mitterer und dem Koffer ab und rennt, ohne das Geld mitzunehmen, in Richtung des westlichen Ausgangs, welcher direkt zum Kunstmuseum Liechtenstein führt. Ferdinand erhebt sich, um einen genauen Blick auf ihn zu werfen. Leider hat er keine Chance, da der Mann nun den Kragen seines Mantels nach oben gestülpt hat. Trotz herannahender Polizei muss Ferdinand zu Gerald Mitterer. Er fühlt Mitterer’s Puls, der sehr schwach ist. Dann dreht er ihn in die stabile Seitenlage. Die rechte Hand, auf welche Mitterer gefallen ist, hält etwas verkrampft fest. Vielleicht der Schlüssel? Es ist ein goldenes Amulett. Ferdinand steckt es in die Seitentasche seines Sakkos.

»Ganz ruhig, die Polizei und Rettung sind gleich da.« sagt Ferdinand zu Mitterer. Mitterer scheint ihm etwas sagen zu wollen, was Ferdinand nicht verstehen kann.

»Fesso, Fesso, Fesso…« Dann schweigt er. Nochmals fühlt Ferdinand nach Mitterer’s Puls. Kein Zeichen mehr, Mitterer ist tot. Ferdinand rinnt der Schweiss von der Stirn, sein Puls steigt nun weit über die neunzig Herzschläge, was für ihn wie für andere hundertachtzig ist. Er weiss, dass diese Situation für ihn ein »schlechtestes mögliches Szenario« ist. Nur noch Sekunden, dann wird die Polizei das zweite Untergeschoss erreicht haben. Francesco versteckt seinen Schlüssel immer im rechten Sockenrohr, vielleicht Mitterer auch. Ein Versuch ist es wert, denkt sich Ferdinand. Der Schlüssel ist da. Ferdinand öffnet das Schloss am Handgelenk, nimmt ihm den Koffer ab, sammelt das Geld, das noch am Boden verteilt ist, ein. Er verliert keine Zeit, sich schnellstmöglich über die Treppe Richtung Ausgang zu begeben.

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