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Die USA und Präsident Thiel hätten die Herausforderungen zum Beispiel im medizinischen Bereich erkannt. Die Kliniken in Europa waren vom Krankheitsbild des neuartigen Narzissmus geradezu überschwemmt worden. Die Balken eines daraufhin hinter ihr eingeblendeten Diagramms bewiesen, wie stark die Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs zurückgegangen und der Balken für die recht neue Art des Narzissmus angestiegen war. Der Balken war noch höher als der rechts daneben, der für Demenz.

Jenny saß da, mit offenem Mund auf den Bildschirm sehend. Sie verstand das alles nicht genau. Aber dieser Satz des amerikanischen Präsidenten wollte einfach nicht mehr aus ihrem Kopf.

Dann verwies die Kanzlerin auf die Expertise einer Staatssekretärin aus dem Bundesgesundheitsministerium, die gleich sprechen werde.

Der Narzissmus sei über junge Menschen hergefallen, geradezu ansteckend wie im Mittelalter die Pest- und Choleraepidemien, kommentierte die Staatssekretärin, die während der Sendung unvermittelt zu ihrem Handheld griff, weil sie eine Nachricht erhielt. Sie sah irritiert auf das Gerät und dann in die Kamera und kommentierte: Kaum ein junger Mensch könne sich auf irgendeine Sache konzentrieren, ohne ein einziges Mal in einer Stunde auf das Handheld zu sehen oder ein Selfie von sich zu machen. Die sexuelle Reifung junger Menschen sei infantilisiert, denn Jugendliche sähen nur noch Videos – auch viele Pornos darunter. Persönliche Kontakte zum anderen Geschlecht gebe es kaum mehr. Den Begriff ›Tuchfühlung‹ nutzte sie im Folgenden etwas naiv. Selbst wenn es vereinzelt und völlig hölzern zu sexuellen Kontakten unter jungen Menschen komme, sei der Coitus interruptus, der auf die aggressive Kommunikation von Google, aber auch Scribble sei nicht grundlegend anders, zurückzuführen sei, fortlaufend Informationen und Angebote an seine User zu senden, der die Sexualität zwischen den Menschen verhindere. Kein User würde sich dem wirklich entziehen können, weil diese Informationen und Werbungen genau die Wünsche und das Selbstbild des Users spiegelten und zu einem ständigen Wunsch nach einer naiven Bestätigung der eigenen Großartigkeit führten, die als weitaus wichtiger wahrgenommen werde als ein möglicher Partner.

Die Infantilisierung junger Erwachsener auf der einen Seite und die Vergreisung der Gesellschaft, sichtbar an der hohen Zahl der Demenzkranken, auf der anderen, seien wichtige Gründe für die autoritären Regierungen der östlichen Länder, die Europäische Union zu verlassen. Denn sie beurteilten die Entwicklungen im zentralen Europa als unvölkisch dekadent, zumal sie sich von den Subventionskürzungen nach den Pandemien unfair behandelt fühlten. Waren sie es doch gewesen, die keine Flüchtlinge in ihre Länder ließen und deren Infektionsraten unglaublich niedrig gewesen waren – bei jeder der fünf Pandemien. Was den Erfolg ihrer autokratischen Regierungen doch mehr als untermauerte.

Eine Grafik zeigte daraufhin Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei in rotschraffierten Flächen außerhalb Europas und die Europäische Union als grauen Block, der ein zentrales Europa markierte und deswegen ›Zentral-Europäische Union‹ hieß.

Der folgende Chart konnte zwar unmöglich zum Fachgebiet der Staatssekretärin gehören. Dennoch präsentierte sie die Zahlen jahrelang stabiler Wahlergebnisse in den rot schraffierten Ländern der osteuropäischen Staaten, die aus der Europäischen Union ausgetreten waren. Es gab schon lange vor ihrem Austreten aus der Europäischen Union Gerüchte, dass sich die osteuropäischen Staaten politisch auf Russland zubewegten, denn in Russland gab es schon lange kein freies Internet mehr wegen der alles untergrabenden Pornographie, die zweifelsfrei aus den USA kam und damit des Teufels war. Ihren Austritt nannte man nach dem Beispiel Großbritanniens nicht ›Brexit‹ sondern ›Exit‹. Allein Rumänien aus dem Osten war in der Europäischen Union verblieben und galt als Beispiel einer guten Subventionspolitik der Zentral-Europäischen Union, obwohl Rumänien – darauf wies die Sprecherin hin – nach wie vor tatsächlich der korrupteste Staat in der Union war.

Die anderen Nachrichten aus der Welt verstand Jenny nicht. Sie kannte zwar die Länder, aber mit den Politikern, die irgendetwas entschieden hatten, und den Krisen, auf die die Laufzeile während des Wetters hinwies, konnte sie nichts anfangen. William war König von England geworden, nachdem einen Tag zuvor sein Vater Charles abgedankt hatte. Der Sender berichtete über die Vorbereitungen seiner Inthronisierung. Allein, dass er getrennt von seiner Frau Kate lebte, ließ Jennys Augenbrauen ein wenig zucken. Sie fühlte sich auf einmal zu Hause – absolut nah und verwandt mit der Erblast im englischen Königshaus.

Sie hatte über diese interessante Sendung ihren Appetit fast vergessen. Und das Datum, das Jenny mit dem Hinweis auf die nächsten Nachrichten las, haute sie völlig vom Gleis. Sie stand da wie angewurzelt, zu keiner Bewegung fähig. Was für eine Reaktion würde man auch erwarten, wenn man gelesen hatte, was Jenny gerade in der Laufzeile von NTV am Ende der Nachrichtensendung sah?

Sie stand da und war nun völlig mit sich allein, den Imbiss gab es eigentlich gar nicht mehr und Rocco auch nicht. Allein die Zahl, diese Jahreszahl machte sie so unfassbar einsam. Sie kannte ihre Herkunft, die Jahreszahl ihres Todes, und sie wusste nun, in welchem Jahr sie sich aktuell als Engel befand. Dieser kleine so selbstverständliche Hinweis auf NTV hatte es bewiesen. Sie hatte in Verhältnissen gelebt, die waren alles andere als schön, aber im Wort ›Verhältnis‹ befand sich das Versprechen von ›Halten‹, ›gehalten werden‹ und das ›ver‹ versprach eine ›Ver‹bindung.

›Ehe‹ war noch anders, in dem Wort steckte ›ehern‹ wie ein Versprechen aus Platin, Gold und Kobalt. Sie hatte immer gewusst, was ihre Eltern verband, es war kein billiger hingehauchter Schwur! Sie waren ›Gesetz und Ewigkeit‹, ursprüngliche und gehaltene Liebe, auch wenn Jenny von ihrer Mutter sehr enttäuscht war. Aber ›Verhältnis‹ war eine Verbindung zwischen zwei Inseln, eine Fähre zwischen befreundeten Menschen, die auf zwei Inseln lebten. Zwischen ihrem Tod und ihrem augenblicklichen nicht erklärbaren Dasein dagegen gab es keine Fähre. Sie war ausgespuckt worden auf dem Dach des Reichstages, in völlig unbekannte, fremde ›Verhältnisse‹, die sie nicht hielten. Sie schwankte unwillkürlich.

»Wie kommen wir jetzt zu einem Essen?«, fragte Rocco sie plötzlich und riss sie damit aus ihrer Starre. Ihr Appetit schien ihn angesteckt zu haben, aber gerade sprach er mit einer Bewusstlosen, die dennoch stand. Er sah in ihre Augen. Sie waren merkwürdig leer und starrten ausdruckslos auf den Bildschirm, als belanglose Werbung für Kreuzfahrten mit elektrobetriebenen Schiffen warb.

Ihr Zug war entgleist, ein Unfall. Sie hatte es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gewusst, dass sie sich mit Rocco zusammen in einer anderen Zeit befand. Aber das war ein schwammiges Empfinden gewesen, leicht auszuhalten und zunächst für sich selbst zu akzeptieren, da man sich ja überhaupt zurechtfinden musste. Ihre Hoffnung war es, eine Sicherheit zu erkennen. Eine Zuversicht wie ein Gleis mit einem Zug darauf, der sie von einem Ort zum anderen brachte. Sie hoffte darauf, sich zu orientieren – einen Zug mit einem klaren Ziel zu finden, der sie irgendwo hinbrachte, am besten nach Hause. Aber diese Hoffnung zerbarst gerade.

Rocco trat zu ihr und umarmte sie für sie völlig unerwartet. Obwohl es in Berlin so heiß war, hieß sie seine Wärme willkommen und igelte sich automatisch darin ein. Wie schön, dass er so groß war. Seine Wärme, die eine völlig andere war als die da draußen, ließ sie wieder zu klareren Gedanken kommen. Ja, es war alles komisch hier, komplett anders, als sie es kannte. Doch wie ging es Rocco, der sich plötzlich aus einem Massengrab erstanden in Berlin, in einem völlig anderen Land wiedergefunden hatte? Sie drückte sich noch stärker in seine Umarmung. Das gab ihr die Kraft zu denken.

Berlin war nicht so anders, dass sie nicht mehr erkannte, wo sie war. Eigentlich sah alles so aus wie immer. Doch es schien alles dahinter, hinter diesem Bild, dieser Bühne, anders. Sie war immer noch auf der Erde, nicht auf einem anderen Planeten. Es war immer noch der gleiche Reichstag. Aber sie, sie war die Statistin einer ›Truman-Show‹ und der Mann neben ihr, Rocco, auch.

Ihr Gesicht bestand nur noch aus ihren Augen, als sie nun verschreckt zu ihm aufsah. Sie hatte den sechsundzwanzigsten Juli zweitausendvierzig aus der Laufzeile abgelesen. Ein Tag, an dem so manches andere Leben oder so manche andere Liebe begonnen hatte oder verstarb, vielleicht lang her, vielleicht vor zehn, zwanzig, dreißig oder sogar vierzig Jahren oder noch in der Zukunft; aber es war vor allem ein Tag, an dem alles in ihr zerbrach und in diesem Moment vielleicht auch alles wieder zu Leben erwachte, wenn auch in einer ganz anderen Form.

Seit zwanzig Jahren war sie nun schon tot oder anders formuliert: nach zwanzig Jahren war sie wieder da. Zwanzig Jahre! Sie war etwa genauso lange nicht mehr auf der Erde gewesen, wie sie sie zuvor als lebender Mensch bewohnt hatte! Ihre Finger befühlten ihre Lippen, die sich merkwürdig taub anfühlten. Sie stockte, alles in ihr stockte, und sie stand so sehr neben sich, dass sie kein Ausrufezeichen an das Ende ihrer Erkenntnis setzen konnte. Sie kam sich vor wie die Laufzeile unten am Bildschirm des Senders NTV, die schneller lief als die Sequenzen der Bilder. Alles um sie herum war in Bewegung und eine kaum beachtenswerte Laufzeile des Lebens hatte sie mit unglaublicher Geschwindigkeit geradezu hierher geschossen. Ein schales Lächeln begleitete ihren Gedanken.

Ihr Körper musste längst vermodert sein in ihrem Spargrab in Marzahn! Aber sie lebte. Wenn auch anders, als sie sich das jemals vorgestellt hätte.

 

Als sie wieder zu sich kam, ihre Vitalität in sich spürte, sich bewegen konnte, fühlte sie gleichzeitig Angst vor diesem völlig unbekannten Leben, das vor ihr lag. Sie selbst war nicht mehr die, die sie mal gewesen war. Schließlich war sie eigentlich schon gestorben. Sie war eine Andere und hatte keine Ahnung, wie anders die Andere wirklich war. Aber sie existierte, ja sie lebte! Zu leben freute Jenny. Ihre eigene Wärme durchflutete nun ihren Körper wie einst ihr Blut. Aufgewacht war sie in einer Welt der Zukunft, ihre zuvor toten Augen betrachteten nun eine neue fremde Gegenwart. Und sie existierte wieder. Ja, das war ein tröstender Gedanke.

Sanft drückte sie Rocco ein wenig von sich – aber nur ein Stück. Eine Welt war da draußen, die mit alten Fassaden zu täuschen versuchte. Denn dahinter hatte sich womöglich alles verändert. In diesem Moment fröstelte es sie wieder. Sie zog an seinem Arm und er legte sich über sie wie ein Iglu. Wie sehr anders würde es denn sein? Sie drängte sich aus seiner Umarmung, hielt mit beiden Händen seine Oberarme umfasst und lächelte Rocco dankbar an. Sie war nicht allein hier in dieser neuen Welt. Da fasste sie wieder Mut.

Es ging ja nicht, nichts zu essen, bemühte sie ihre eigene Zuversicht. Ob sie wirklich Nahrung zu sich nehmen musste oder nicht, würde Jenny irgendwann erfahren. Jetzt jedoch hatte sie einen riesigen Hunger, nicht nur Appetit. Es war ihr Trotz, sofort mit allem fertig werden zu wollen, was sich ihr in den Weg stellte, der sie wieder handeln ließ. So war es schon zu Hause in Marzahn gewesen, als sie sich gegen alle Schwierigkeiten auflehnte. Sie arbeitete nicht gegen die Schwierigkeiten an wie ihre Mutter mit ihren Putzstellen und Putzlappen. Die Kraft ihrer Gedanken löste Probleme und ihre Gedanken waren der Probleme größter Feind. Sie waren es, die siegen mussten. Dennoch war es unleugbar das Geld aus den Putzlappen, das den Wasserspiegel des Eimers ihrer Mutter immer so hochhielt, die Zehnlitermarke, die ein Überleben ermöglichte.

Angekommen in dieser Zeit war sie nun wieder umgeben von Menschen und fühlte sich trotzdem unmenschlich fremd. Sie bestärkte sich selbst darin, mit den Menschen dieser Zeit klarzukommen, denn sie kannte ihre analytische Fähigkeit und ihre Empathie den Leuten gegenüber. Mit diesen Gaben beschenkt würde sie mit dieser Zeit klarkommen, wurde Jenny sich immer sicherer. Der Zug hatte immer noch kein Ziel. Aber ein Gleis.

Sie richtete sich entschlossen auf, reckte ihren Daumen nach oben und hielt ihre flache Hand aufrecht in die Luft, bis Rocco begriff. Dann schlug sie in seine Hand, wie Sportler das taten. Sie hatte sich wieder gesammelt, es konnte weitergehen.

Die Kraft der Gedanken brauchte Nahrung und aus diesem Grund löste sich Jenny von Rocco, ging hinter den Ladentresen, nahm sich das Messer, das nahe am Grill lag, und säbelte damit das vegane Hähnchen- und Lammfleisch herunter in zwei Pappschalen – wenigstens die gab es noch – und befüllte sie mit Gemüse und Tsatsiki. Damit ging sie zurück zu Rocco, der Gabel und Messer, offensichtlich aus einer stabilen und beschichteten Pappe hergestellt, besorgt hatte und sich mit ihr hinsetzte. Zusammen aßen sie das Fleisch, das kein Fleisch war.

Der Wirt, ein pockennarbiger Osmane, drehte währenddessen fast durch, er sah sich hektisch nach den durch die Luft schwebenden Utensilien um, seine Hände versuchten zu erhaschen, was die Dinge trug und er nicht sehen konnte. Eine Situation, die Jenny nur mit einem lässigen Lächeln quittierte. Nun hatte sie es raus. Speisen und Getränke konnten schweben. Das mussten Newbies eben akzeptieren. Eine Errungenschaft von Engeln auf Erden.

»Wer seid ihr?«, fragte der Wirt angriffslustig, »ich kann euch nicht sehen!« Seine Stimme zitterte, aber außer sich war er nicht.

»Wir haben Hunger!«, sagte Jenny und der Kopf des Ladenbetreibers zuckte in ihre Richtung. Ah, er hörte sie. Wo stellte man das als Engel ein, wann man zu hören sein konnte und wann nicht? Ratlos zuckte sie die Schultern. Rocco erriet, was Jenny gerade meinte. Er öffnete seine Arme weit und zeigte damit ebenfalls Unwissenheit an.

»Ihr seid Geister, oder?«

»Kann man so nicht sagen«, gab Jenny vor.

»Engel«, ergänzte Rocco.

»Engel gibt es nicht in Berlin«, sagte der Wirt, der seinen Kopf irritiert hin und her wandte und nicht wusste, wohin er schauen sollte, »es kann kein Engel in Berlin geben. Die Stadt ist nicht so.«

»Malak«, sagte Rocco nur, was den Wirt zusammenzucken ließ. Ihr Erscheinen hatte ihn sichtlich aus der Fassung gebracht. Seine Hände zitterten, als er Besteck aus einer Lade nahm.

»Wie heißt du?«, fragte Jenny ihn nun.

»Mahmut. Seid ihr von Steuer und habt so Drohne, die mit mir redet, oder was?«, wollte Mahmut wissen. »Ist das Neueste von der Steuerfahndung in Deutschland! Aber ich bin sauber, müsst ihr wissen!«

Rocco ging gar nicht darauf ein, als er fragte: »Du bist ein säkularer Türke?«

»Hab ich nicht so was, Gesundheitsamt, Gewerbe von Aufsicht immer hier, alles in Ordnung!«, erwiderte der Wirt.

»Was ist mit Allah?«, fragte Rocco.

»Allah ist echt groß, meine Großvater ist Imam gewesen in Provinz Hakkari, Zuckerfest, ich bin immer dabei – heute auch bei große Familie im Wedding – kein Thema. Aber vielleicht wollt ihr richtiges Fleisch von Kollegen? Fünf Minuten, ich kann euch dort bringen.«

Jenny schob sofort die Pappschale beiseite. Das Essen hatte sie allenfalls getestet. »Komm, lass uns das ausprobieren! Je mehr wir in dieser Stadt erleben, desto mehr lernen wir darüber und dann müssen wir nicht mehr so vorsichtig sein und nur beobachten, oder?« Rocco stand auf, schob seine halbleere Schale neben ihre. Seine Art der Zustimmung.

Mahmut stellte sich vor die Tür in der Hoffnung, dass sie ihm folgten und er die beiden Malaks damit los war. Er ging mit vorsichtigen Schritten voran, aber als er Jennys Stimme neben sich hörte, war er erleichtert. Er würde sie woanders hinbringen und so loswerden.

Der Weg zu seinem Kollegen war dann doch lang. »Ist hier«, sagte er nach einigen hundert Metern lakonisch. Er wandte sich ab und gab Fersengeld.

Bei Mehmet war auch nichts los. »Hast du Döner aus richtigem Fleisch?«, fragte ihn Jenny fast gierig, nachdem Mahmut verschwunden war. Aber Mehmet konnte sie nicht hören. ›So ein Mist!‹, fluchte Jenny leise in sich hinein. »Wann kann man uns hören und wann nicht? Und warum ist das so?« Rocco zuckte die Schultern.

Gerade hatte Mehmet mit einem Stift etwas auf sein Handheld geschrieben und prompt erschien die Information auf einem Bildschirm im Imbiss. ›Ah, Mehmet verkauft nun auch Eiswürfel in Tüten‹, erkannte Jenny. Rocco hob seinen Daumen: »Gute Geschäftsidee!« Jenny sah sich nach draußen um. Die Hitze flirrte auf dem Asphalt. Da erst fiel ihr auf, wie angenehm kühl es in dem Imbiss war, und auch, warum das so war. Sie sah an die Decke. Ein großer Ventilator schaufelte die kühle Luft, die aus Lüftungsschlitzen kam, in kreisenden Bewegungen herum.

Das Handheld, auf das Mehmet mit dem Stift geschrieben hatte, lag es noch da? War das Programm noch geöffnet? Vorsichtig zog Jenny das Handheld zu sich. Mehmet stand gerade an großen Behältern, sein Rücken ihr zugewandt. Er hatte das Programm nicht geschlossen. Vorsichtig zog Jenny das Gerät und den Stift näher an sich heran.

»Was machst du da?«, Rocco hatte noch nicht begriffen, was sie vorhatte.

›Du kannst uns nicht sehen und nicht hören, Mehmet. Aber wir hören und sehen dich! Wir sind zu zweit, heißen Rocco und Jenny. Dein Kollege Mahmut hat uns zu dir gebracht. Wir möchten gern Lammdöner mit allem, was so dazugehört. Aber wir können nicht zahlen, weil wir unsichtbar sind. Hab keine Angst!‹ Rocco grinste und klopfte ihr bekräftigend auf die Schulter.

In diesem Moment unterbrach Mehmet seine Arbeit an den Behältern und nahm sein Handheld auf. Hatte es nicht eben ein wenig dichter am inneren Tresenrand gelegen? Er nahm es in seine Hand und wollte offensichtlich gerade das Programm schließen. Doch mit einem Ruck hob er das Handheld dicht vor seine Augen. Er drehte sich zum Bildschirm. Für einen Moment stand er bewegungslos wie erstarrt da, doch dann völlig unvermutet lachte er laut los. »Ihr könnt rauskommen, solche Scherze machen die Asiaten immer gern! Sie verstecken sich, viele von ihnen sind so klein.«

Mehmet sah sich überall in seinem Imbiss um, sah immer wieder flüchtig auf den Bildschirm, konnte aber niemanden entdecken. Jenny nahm ihm sein Handheld ab und schrieb: ›Es ist so, wie wir sagen. Glaub uns doch: du kannst uns nicht hören oder sehen, wir aber dich.‹ Ein weiterer flüchtiger Blick auf seinen Bildschirm ließ ihn sich an seiner Arbeitsplatte festhalten, ihnen den Rücken zugewandt.

»Wer seid ihr?«, seine Stimme zitterte. Er drehte sich kaum wahrnehmbar zur Seite und Jenny erkannte seine Augen, sie spähten zu Schlitzen verengt in den Raum hinter sich und auf seiner Stirn waren kleine Schweißperlen zu erkennen. »Seid ihr Viren, die sprechen können? Ich habe noch Desinfektionsmittel im Keller! Also raus mit euch! Bislang habe ich die Pandemien der letzten paar Jahre überstanden und das soll auch so bleiben! Wenn ihr nicht verschwindet, ersäufe ich euch in Spiritus!« Mehmet war rot im Gesicht und er zitterte.

»Diese Pandemien müssen ja in den letzten zwanzig Jahren oft vorgekommen sein«, wunderte sich Jenny.

»Die letzte Pandemie, von der ich weiß, gab es zweitausenddrei. In den medizinischen Kreisen schlug das Virus damals ziemlich hohe Wellen«, erinnerte sich Rocco.

Jenny sah ihn interessiert an. »Rocco, wann eigentlich bist du gestorben? Und wie alt bist du – also, warst du, als du gestorben bist?« Jenny wandte sich ihm zu und legte ihre Hand auf seinen Unterarm und ihr offenes Lächeln unterstrich, dass sie einfach nur neugierig war.

»Ich bin zweitausendneunzehn, ich glaube im März, gestorben. Ich bin neununddreißig Jahre alt, Jenny. Ich bin also viel älter als du, aber ich war noch Student, als die Pandemie zweitausenddrei an der medizinischen Fakultät intensiv diskutiert wurde.« Er lächelte sie an.

Jenny sah sich daraufhin Rocco von oben bis unten an. Wenn es einen Altersunterschied zwischen ihnen gab, stellte sie zufrieden für sich fest, war er nicht von Bedeutung. »Hast du schon mal von Corona gehört?«

»Nein, was ist das?«

»Nicht wichtig, nur so!«, Jenny hatte keine Lust, ihm das Virus und seine weltweiten Auswirkungen zu erklären, denn sie hatte einfach nur eins: Appetit! Vielleicht war es nur Sehnsucht auf Geschmack, der Geschmack von Fleisch, der ihren Appetit bei Mahmut nicht gestillt hatte. Diese Lust darauf war jetzt vordringlich und unaufschiebbar, das war schon immer so bei ihr gewesen; zu Schulzeiten mied sie die Mensa mit dem Verkochten und ignorierte schon damals ihren knurrenden Magen, bis sie nach Schulende am Dönerstand angekommen war. Wenn sie Appetit hatte, war das alles, woran sie denken konnte. Vielleicht würde sie ihm später einmal von Corona erzählen.

Das Handheld lag noch immer da, Mehmet hatte es nicht weggenommen. »Wir müssen genauer erklären, wer wir sind«, schlug Jenny vor. Als Rocco nickte, schrieb sie schon. ›Wir sind Engel, Malaks – keine sprechenden Viren.‹ Mehmet sah sich an, was Jenny schrieb. Sie hatte eine schöne Handschrift, sogar mit diesem Stift. Mehmet atmete tief durch. ›Wir haben Hunger und tun dir nichts, bestimmt nicht, vertrau uns bitte!‹

Unsicher verlagerte Mehmet sein Körpergewicht von einem Fuß auf den anderen, ihnen immer noch den Rücken zugewandt und mit einem Papier von der Küchenrolle hielt er sich Mund und Nase zu. Jenny nahm sich zusammen, sie konzentrierte sich. Sie musste Mehmet anders erreichen, so würde das alles keinen Zweck haben. Sie bemühte sich, einen anderen Kanal zu ihm finden. Sie würde versuchen, ihm einen intensiveren Gedanken zu senden, wie sie es schon auf der Straße versucht hatte: ›Ich bin ein guter Engel, ich war wie du, ein Mensch! Ich bin gut zu dir und ich habe keine Angst. Ich fürchte mich nicht vor dir und du musst mich nicht fürchten, auch wenn du mich nicht siehst oder hörst!‹ Sie verengte ihre Augen, aber hatte kein Anzeichen erkennen können, ob sie den Gedanken versandt hatte und er bei Mehmet angekommen war, denn er stand weiterhin unbewegt da. Dann fasste er sich an seine Stirn, drehte sich mit zusammengekniffenen Augen zu ihnen um, als ob er schlecht hörte. Er wusste genau, dass er nicht seine eigenen Gedanken erfasst, sondern die eines anderen erhalten hatte. Es waren vertrauensstiftende, weiche Gedanken! Er dachte nach. Nun mit seinen eigenen Gedanken. Entweder die sprechenden Viren waren bereits in sein Gehirn eingedrungen, dann war es sowieso zu spät. Oder aber … vor ihm standen tatsächlich Malaks, Engel!

 

Jenny und Rocco beobachteten ihn, als er sich ganz zu ihnen umdrehte und zaghaft lächelte, aber er zögerte. Schließlich fragte Mehmet, und das Zittern aus seiner Stimme war noch nicht ganz verschwunden: »Was soll ich euch drucken?« Dann lächelte er etwas kräftiger und zu gern hätte Jenny ihm ihr eigenes Lächeln sichtbar gemacht.

Er wandte sich zu einem großen Gerät um. Jenny sah sich das Gerät an und die Behälter darüber. Sie konnte sich das nicht erklären. »Frag du mal, was das ist«, stupste sie Rocco an.

»Ich komme aus Afrika«, erklärte Rocco. »Schreibst du das bitte?!« Denn er wusste bislang nicht, ob er auf Deutsch schreiben konnte.

»Sieht man dir gar nicht an«, kam die ironische Antwort. »Versuch es doch mal.«

Rocco nahm Handheld und Stift zur Hand und formte seine Worte im Kopf vor, um sie dann auf den Bildschirm zu bringen. Zu seiner Überraschung waren sie Deutsch, obwohl er gedacht hatte, sie auf Arabisch vorformuliert zu haben. »Dort, wo ich herkomme«, schrieb er, »essen wir viel Fleisch, wenn man sich das leisten kann. Deswegen weiß ich das ganz genau: Das hier ist doch kein Fleisch!?« Jenny grinste, man konnte seine Empörung aus den Zeilen herauslesen.

»Ich weiß, was du meinst«, leitete Mehmet ein, was er gleich erklären wollte, nachdem er die Worte gelesen hatte: »Mein Großvater war ein Ziegenhirte in Anatolien. Ich weiß, wie Fleisch mal ausgesehen hat. Aber das ist in Zentral-Europa vorbei! Das hier ist einwandfrei durch Zellteilung produziertes Muskelfleisch, es stammt garantiert nicht von geschlachteten Tieren, es entspricht Hundertprozent der Iso 90002-56382-498.0 der Zentral-Europäischen Union, biologisch und umweltfreundlich hergestellt. Soll ich euch einen Döner drucken? Lamm oder Huhn?«

»Ja, bitte, Lamm!«, kam von beiden fast einstimmig und Rocco schrieb es in das Gerät.

»Wir können aber nicht zahlen«, setzte Jenny nochmal hinterher.

»Macht doch nichts, wenn man schon mal Malaks zu Gast hat«, bemerkte Mehmet freundlich und wandte sich seiner Arbeit zu. Er schien sich mit ihrer Art zu kommunizieren gut arrangiert zu haben, denn er antwortete ganz frei.

»Mit Tsatsiki, Salat und Gemüse?«, fragte er, als er zwei Schalen aus Pappe, bedruckt mit unzähligen Stempeln, die auf ihre ökologische Zulässigkeit hinwiesen, auf den Tresen stellte. Er hatte noch nicht einmal hingesehen, als die beiden Schalen schon verschwanden und sich gegenüber auf dem Tresen vor den Sitzplätzen wiederfanden.

»Wieso druckst du Fleisch? Wie geht das?« Jenny schrieb nun für Rocco und legte das Handheld neben die Pappschachtel auf den Tisch, um sich beim Essen mit Mehmet unterhalten zu können. Und sie ergänzte Roccos Frage mit ihrer eigenen: »Kommt Fleisch überhaupt nicht mehr von Tieren?«

»Wo ist denn jetzt mein Handheld?«, antwortete Mehmet und entdeckte es auf dem Tisch. Er ging zu ihnen hinüber und nahm es vorsichtig hoch. Er schien nicht zu wissen, ob sie es gerade festhielten, und war sich unsicher, ob er es greifen konnte. Doch Jenny schob es ihm bereitwillig hin. »Ich scribbele jetzt mal einfach die letzten Entwicklungen, so im Allgemeinen. Ich bin nämlich ein sehr vielseitig interessierter Mensch. Politik, Geschichte, Kultur, ich interessiere mich eben für das Leben der Anderen.«

›Das Leben der Anderen‹, war eine Formulierung, die Jenny sofort auffiel. So hieß ein Film, den ihr Vater sehr mochte, als er noch gesund gewesen war. Obwohl er ihn als ehemaligen Werktätigen auch sehr traurig machte. Oft hatte er wegen seiner Schmerzen später Mühe gehabt, ihn zu Ende zu sehen, denn er sah ihn oft. Eine schmerzliche Erinnerung an ihren Vater!

»Wie sind sie denn, die neuesten Entwicklungen?«, schrieb Jenny hastig, wobei sie das Handheld wieder zurückzog und ihm dann hinhielt.

Mehmet griff das Gerät mit einem irritierten Gesichtsausdruck aus der Luft. Er schüttelte nur kurz den Kopf, dann suchte er etwas mit Scribble, was sie auf dem riesigen Bildschirm hinter ihnen, den er entrollt hatte, alsbald sehen konnten. Offenbar hatte er in einer Onlinedatenbank gesucht und einen Videobericht gefunden. »Argentinien ist am Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs«, referierte eine Stimme. Das war nichts Neues, fand Jenny, denn davon berichteten die Nachrichten regelmäßig schon zu ihrer Zeit. Aber die Bilder waren die totale Überraschung! Sie zeigten von Rindern entvölkertes Weideland. Kein Rind bis zum Horizont zu sehen, nicht einmal ein Schaf. »Die Landwirtschaft in den USA ist schwer getroffen.« Auf dem Bildschirm waren verwaiste texanische Weiden zu sehen. Auch dort graste kein Rind mehr. »Seitdem die Zentral-Europäische Union den Import und die herkömmliche Produktion von Fleisch verboten hat, um den Methanausstoß drastisch zu reduzieren, müssen Landwirtschaften auf der ganzen Welt umstellen. Die Zentral-Europäische Union zahlt Umstellungssubventionen, um den Bauern den Umstieg auf eine extensive Landwirtschaft zu erleichtern. In den USA wurde die Rinderzucht auch deshalb stark reduziert, weil sich die Kosten der Technologie zum Drucken von Fleisch halbiert haben. Veganes Fleisch aus eigentlich pflanzlichen Produkten wird sogar zu einem Drittel der ökologischen und ökonomischen Kosten hergestellt.«

Mehmet stellte den Bildschirm ab und ließ ihn sich wieder einrollen.

»Boah!«, schrieb Jenny, »das ist ja …« Ihr fehlten die Worte, um zu beschreiben, was das für sie war.

»Ich bekomme mein Fleisch von der ›IVMC‹«, erklärte Mehmet.

»IVMC?«, fragte Rocco und Jenny schrieb.

»In-Vitro-Meat-Company, sie züchten die tierischen Zellen, so dass Fleisch daraus wird, ganz früher hieß das Unternehmen mal ›Rügenwalder Mühle‹, so sagt man«, erklärte Mehmet, als ob er aus einem Märchenbuch rezitierte. »Ihr seid aber wirklich von gestern, wenn ihr das nicht wisst! Da werdet ihr noch viel Neues lernen«, stieß er aus, dann griff er nach ihren leeren Pappschachteln. »Hat es denn geschmeckt?«

Ihr Nicken konnte er nicht sehen, was Jenny zuerst auffiel. »Es schmeckt sehr gut, wie echtes Fleisch«, schrieb sie.

»Es ist echtes Fleisch, nur dass kein Viech dafür umkommen musste, so Messer am Hals und so. Das gibt es nur noch in Horrorfilmen«, insistierte der Wirt. »In der Welt«, lachte er, »ist vieles – aber leider nicht alles – wirklich viel besser geworden in den letzten fünfzehn Jahren. Überzeugt euch selbst!«

Es schien Jenny in diesem Moment, als sei er ein unverbesserlicher Optimist.

Mehmet wandte sich wieder seinen Behältern mit dem künstlichen Fleisch zu. Er summte irgendeine Melodie, wahrscheinlich gerade den Hit der Charts im Juli zwanzigvierzig. Das war alles, was zu hören war.

»Diese Pandemien, verursacht von Viren«, begann Jenny und sah Rocco dabei versehentlich, sie hatte es bestimmt nicht beabsichtigt, direkt in die Augen, unabsichtlich tief. Fast hatte sie vergessen, was sie ihn fragen wollte. Sternchen tanzten vor ihren Augen und sie fühlte, wie ihr Blick flimmerte. Eigentlich hasste sie es ja, die Kontrolle zu verlieren – aber diese dunklen, tiefen Augen! Die Frage, diese Frage nach den Viren musste sie noch loswerden. Hätte sie doch bloß nicht in seine Augen gesehen! Sie stockte und nahm den Blick von ihrem Mitengel.

»Was ist mit den Viren?«, fragte Rocco nach. Er sprach mit tiefer Stimme und einfühlsamem Tonfall mit ihr, so als wäre er ihr Arzt. Aber seine tiefe Stimme machte alles nur noch viel schlimmer! Sie sah ihm nicht mehr in die Augen, konzentrierte sich auf das Rauschen in ihrem Kopf. War das ihr Blutdruck? Hatten Engel überhaupt einen Blutdruck? Sie senkte den Kopf auf die Tischplatte, um sich zu sammeln.

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