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»Grad noch so, wat?«, sagte sie freundlich. Jenny hatte es geschafft. Sie hustete und merkte es gar nicht, als sie ihren Mund in die Armbeuge schmiegte. Sie hatte es gepackt und würde gerade noch rechtzeitig in der Uni ankommen! Sie dachte an ihre Mutter. Sie war schon lange unterwegs zu ihrer ersten Putzstelle. Sie verbrachte wahrscheinlich mehr Zeit mit S- und U-Bahn als mit ihrer eigentlichen Tätigkeit. Berlin war zweifelsohne eine schöne Stadt. Aber Berlin war auch ein Verkehrschaos und machte es seinen Arbeitnehmern schwer.

Die Matheklausur war anspruchsvoll und das war Jenny und ihren Kommilitonen anzusehen. Ihr Gesicht war verspannt und blass. Sie kämpfte gegen die Anstrengung an und hustete immer wieder, weshalb ihre Kommilitonen sie strafend ansahen; die akustische Unterbrechung störte sie. Jennys Hand stützte ihren Kopf an der Stirn. Sie löste die leichteren Aufgaben. Dann wagte sie sich an die schwierigeren. Die Formeln fielen ihr nicht ein. Es konnte doch nicht sein, dass sie die Formeln vergessen hatte! Das konnte einfach gar nicht sein, nicht jetzt! Sie hatte sie doch alle in ihrem Kopf! Jenny fasste sich an ihre Stirn. Sie schien ihr kochend heiß. Erschrocken nahm sie die Hand herunter und legte sie ganz gerade neben ihr Aufgabenblatt.

Immer wieder sah sie auf ihre Uhr. Die Zeit schien langsam zu vergehen. Warum verging Zeit mal schneller und mal langsamer? Und würde sie nicht jetzt, zu diesem Zeitpunkt, zu dem sie hoffte, alles rechtzeitig zu schaffen, umso schneller vergehen? Jenny blinzelte ein paar Mal und legte den Gedanken zu dem anderen an den Rand des Waschbeckens.

Sie hatte schließlich drei Viertel der Aufgaben geschafft, doch gegen Ende der Klausur während der letzten Minuten verließ sie die Konzentration vollends. Sie wischte sich immer wieder Haarsträhnen aus ihrem Gesicht, die nicht da waren, weil sie sie bereits hinter ihre Ohren geklemmt hatte. Sie riss sich zusammen, drückte ihren Rücken durch, so wie sie es immer machte, spannte sich an wie ein Pferd vor der Kutsche. Ihr gefiel das Bild. Die Kutsche waren die Aufgaben und das Pferd würde die Kutsche aus dem Dreck ziehen. Doch das Pferd knickte erst vorn ein und dann hinten, denn der Sumpf, in dem die Kutsche steckte, war einfach zu tief. Jenny spürte, wie ihr Rücken zusammensackte, sie anfing zu zittern und ein Weinkrampf sie überkam. Hellrote Tränen fielen auf das weiß karierte Papier. Sie wischte die Tränen mit einem Taschentuch aus Papier weg. Nichts sollte ihre Leistung verunstalten. Doch ein roter Streifen blieb. Fast erleichtert blickte Jenny auf die roten Spuren. Sie freute sich, doch nicht ungeschminkt zur Uni gefahren zu sein, auch wenn sie sich nicht daran erinnerte, dafür Zeit gehabt zu haben. Sie war heute Morgen doch ziemlich verpeilt gewesen. Doch sie irrte, denn sie hatte sich nicht geschminkt. Und auch das Weinen, das sonst immer ihre Schmerzen linderte oder ganz verschwinden ließen, sorgte heute nicht für eine Besserung.

Als sie aufwachte, fand sie sich in einer Klinik wieder. Ihre Augen blickten hektisch nach links und rechts. Sie kannte den Raum nicht, in dem sie lag. Aber er sah eindeutig nach Krankenhaus aus. War ihr Vater eingeliefert worden? Aber nein, sie lag ja selbst im Bett. Doch was machte sie hier? Sie runzelte die Stirn und stützte ihre Arme ab, um aufzustehen. Da legte ihre Mutter ihre Hand auf ihren Arm und flüsterte ihr zu, dass sie liegen bleiben müsse. Jenny gehorchte und stierte an die weiße Wand gegenüber. Warum nochmal ging sie nicht nach Hause? Doch bevor sie erneut versuchen konnte aufzustehen, fielen ihr die Augen zu.

Als sie wieder erwachte, war ihre Mutter immer noch bei ihr, aber sie verließ Jenny bald, weil sie weiterarbeiten musste. Jenny schaffte es kaum, mit ihr zu sprechen, sie fühlte sich so müde und erschöpft. Sie drückte nur die Hand ihrer Mutter, als diese ging, und schlief dann wieder ein. Nur den Kuss auf ihre Stirn hatte sie noch bemerkt – eine seit Jahren völlig ungewohnte, fremde Geste.

Irgendwann später kam eine Ärztin in Schutzkleidung in Begleitung einer Psychologin zu Jenny und erläuterte ihr ihre Diagnose. Sie waren einfühlsam und erklärten es ihr so, dass sie es verstand. Jenny hatte dieses neuartige Coronavirus bekommen und es könnte sein, dass sie sterben würde. Genau könne man das nicht sagen, da man noch zu wenig über die Krankheit wisse, die das Virus auslöse, aber es gehe auf die Lunge und verursache hohes Fieber. Die Ärztin richtete ihr währenddessen den Sauerstoffschlauch, der in ihrem Gesicht hing und den sie erst jetzt bemerkte.

Jennys Hand fuhr zu ihrer Stirn und befühlte sie. Angenehm kühl fühlte sie sich an. Jenny lächelte. Ärzte logen wie gedruckt. Es ging ihr doch viel besser, als sie sagten. Wieso sollte sie ihnen glauben? Menschen ihres Alters überlebten Corona immer, das hatte sie aus den Nachrichten schon mitbekommen.

Sie schüttelte den Kopf und erklärte, dass es ihr gut ginge, sie viel zu jung sei, um daran zu sterben. Sie lachte fast, fühlte sie sich, umringt von diesen Leuten in futuristischen Katastrophenanzügen, doch wie in einem Film, in irgendeiner lächerlichen Szene gefangen. Aber ihr Lachen verwandelte sich bloß in Husten.

Die Ärztin, die Psychologin und die Krankenschwester, die nun zwischen ihnen herumwuselte und Jennys Tropf überprüfte, tippelten mit hilflosen Mienen von einem Fuß auf den anderen. Bis die Ärztin, brünett wie Jenny, an ihr Bett herantrat, um erneut mit ihr zu sprechen.

Allein liegend im Bett ein Gespräch zu führen, empfand Jenny als Niederlage. Ihr Inneres wehrte sich dagegen, im Liegen zu der Ärztin oder wem auch immer aufzusehen. Das war zu viel, eine Zumutung, wenn sie schon hier sein musste. Wegen der Augenhöhe grinste sie nicht ohne einen gewissen Sarkasmus in sich hinein, als sie sogleich ihre Position im Bett veränderte und ihren Oberkörper aufrichtete. Ihr wurde schwindelig dabei. Doch so sah sie die Ärztin ein wenig genauer. Die Frau hatte ein faltiges Gesicht. Das konnte Jenny trotz ihres Mundschutzes und des Schutzanzuges erkennen – diese Krähenfüße um die Augen. Da fühlte sie sich nicht mehr so unterlegen und Jenny lächelte zaghaft.

»Ihre Coronainfektion an sich ist tatsächlich nicht das entscheidende Problem«, erläuterte die Ärztin, als ob Jenny nicht schon wüsste, dass diese Fake-News-Krankheit aus dem Radio nicht schlimm wäre. Ihr Blick klebte in diesem Moment auf Jennys Augen wie Pattex. »Die Coronainfektion hat nur zutage gefördert, was in Kürze evident, also offensichtlich, geworden wäre. Ihre eigentliche Erkrankung.«

Sie räusperte sich, die Krankenschwester räusperte sich und die Psychologin dann auch, die verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. Das musste ansteckend sein. Ein Räusper-Virus, der sich auf Stimmbänder legte und verlegen machte. ›Ein gesellschaftlicher Virus‹, dachte Jenny ironisch. ›Corona pack ich‹, war sie sich sicher nach dem, was sie im Radio gehört hatte. Das war das nur so ein Ausrutscher wie die höchstwahrscheinlich missglückte Matheklausur. Sie straffte ihren Rücken und lächelte die Mediziner siegesgewiss an.

Die Ärztin fasste sich mit Worten kurz, die bei Jenny wie ein Stakkato der Tatsachen ankam, als es um das Wesentliche ging: die Covid-19, also die durch das Coronavirus ausgelöste Krankheit, begünstigende Vorerkrankung. Es war ein Tumor hinter ihrem Auge. Der sei genetisch bedingt, erblich. Sie habe nichts falsch gemacht, könne gar nichts dafür, erklärte die Ärztin vorsorglich.

›Vorhersehung‹, knallte es Jenny daraufhin aus dem Geschichtsunterricht in das beschädigte Hirn. Adolf in ihrer Birne, dachte sie, sich an den Geschichtsunterricht erinnernd, dass das eines seiner Lieblingswörter gewesen war, und zog ihre dünne Bettdecke schützend über ihr Gesicht. Sie lachte innerlich hässlich und ihr fiel ein Lieblingslied ihrer Mutter ein, alt, Neue Deutsche Welle, aber sie hörte es oft, weil es ihr irgendwie ihre Mutter beschrieb: ›hässlich, ich bin so hässlich, so grässlich hässlich‹. So war nun Jenny wie ihr Vater. ›Ich bin der Hass, hassen, ganz hässlich hassen‹, genau das würde ihre Mutter empfinden, denn sie, Jenny, die Hoffnung für die ganze Familie, aus Marzahn wegzukommen, war nun genauso nutzlos wie ihr Vater! ›Und ich düse, düse, düse, düse im Sauseschritt und bring’ die Liebe mit, von meinem Himmelsritt‹ würde nicht mehr gelingen, wenn sie stürbe. Sie brächte nur Elend mit. ›Denn die Liebe, Liebe, Liebe, Liebe, die macht viel Spaß, viel mehr Spaß, als irgendwas.‹ Hatte ihre Mutter den Spaß und die Liebe vermisst? Liebe war kein Spaß, sie war viel mehr, auch das fühlte Jenny, denn sie hatte ihren Vater geliebt. War sie, Jenny, deshalb hier, nicht wegen des Spaßes, aber wegen der Liebe? Ein unerwünschtes Resultat von Liebe? Ein genetischer Defekt? Sie war der Kollateralschaden ihrer Familie. Das war sie.

Jenny schloss die Augen und zog sich zurück in ihr inneres Gehäuse; an sich nützlich, aber nun war sie ansteckend krank und dem Tod geweiht und damit umso mehr unanfassbar eklig wie eine schleimige Schnecke, die sich in ihr Haus zurückzog.

»Wenn Sie Ängste empfinden, vielleicht Fragen haben, die Sie noch beantwortet wissen wollen, wenn Sie sich nach empathischer Begleitung sehnen«, hob die Psychologin nach wie vor unruhig hin und her tretend an, »können Sie mich jederzeit dienstags bis donnerstags in der Zeit zwischen fünfzehn und achtzehn Uhr hier über das Haustelefon anrufen. Ich habe die Einhundertzwölf!« Jenny wünschte sich einen der Eimer ihrer Mutter neben ihrem Bett, wünschte sich, die Psychologin zu sich hinabzuziehen, den Eimer zu nehmen und ihr das Wasser über dem Kopf auszuschütten. Jenny sagte nichts, aber sie sah die Psychologin mit einem durchdringend vernichtenden Blick an. Was für eine Farce. Die Ärztin, die Psychologin, das Sterben. Alles war nur noch lächerlich. Sie wollte nach Hause.

 

Die Ärztin spürte die Spannung im Krankenzimmer. Sie hielt den sachlichen Vortrag für den besten Weg, mit Jenny umzugehen. Wehtun würde der Tumor nicht, fuhr sie fort, während Jenny sich verkroch. Sie wollte hören, wie es um sie stand, gleichwohl wissend, dass ihr dieses Wissen zu viel sein würde. Denn palliativ würden sie die Schmerzen in den Griff kriegen. Keine Frage. Es war eine besonders aggressive Variante. Er würde sie nur sterben lassen. Jenny wusste nicht, was mit ›palliativ‹ gemeint war. Sie kannte das Wort nur in Zusammenhang mit alten Leuten. Und sie hörte gar nicht mehr richtig hin.

›Psycho-Kanaken‹, erfand Jenny für sich einen Begriff für die fähige Ärztin, die ihr so sachlich das Todesurteil verkündet hatte, und die Psychologin, die größtenteils geschwiegen und sich dann in Allgemeinplätzen ergangen hatte. Schwarzverfärbter Zynismus, wusste sie, war eine Leidenschaft im Verborgenen in ihr.

Die Psychologin war eine ›HP‹, wie ihr Namensschild verriet, eine Heilpraktikerin. Also nichts, was ernstzunehmen war. Sie tat ja nichts, um ihr, Jenny, wirklich zu helfen, außer ihr Ende kommunikativ vorweg zu nehmen, zu dem Jenny noch gar nicht bereit war. Die Psychologin war bezahltes Beiwerk, wie Jenny lakonisch feststellte.

Vielleicht zehn Wochen hatte sie noch, wenn sie die Covid-19-Erkrankung in den Griff bekämen, sagte die Ärztin. Sie riet zu einer Wohngruppe in einem Hospiz – noch so ein Wort, das Jenny nur von alten Menschen her kannte, die bald stürben. War sie nun wie solche Menschen?

Sie schlug die Bettdecke zurück. »Ich möchte nach Hause.«

Doch sie kam nie wieder nach Hause. Die durch das Coronavirus ausgelöste Krankheit klang binnen zwei Wochen ab. Jenny war eine starke junge Frau, zumindest stärker als das Virus. Doch der Tumor übernahm danach die Kontrolle über sie. Sie durfte nicht mehr heim, wurde gepflegt in einer Einrichtung. Sie blieb allein dort. Allein mit ihrer Angst. Denn dieser Tumor ängstigte sie, die Aussicht, die Kontrolle über sich zu verlieren. Nie verlor sie die Kontrolle – nie! Wer aus Marzahn raus wollte, konnte dies nur planvoll kontrolliert schaffen. Doch nachdem sie von Covid-19 genesen war und danach noch wegen der Quarantäne im Krankenhaus, fand sie ihr Gleichgewicht nicht mehr wieder, wenn sie aufstand, obwohl sie in diesen Momenten tief in ihrem Inneren zweifelte, je ihr Gleichgewicht gehabt zu haben. Das aber konnte gar nicht sein: die Kontrolle verloren zu haben! Früher hatte ihr Körper stets gerade Gewehr bei Fuß gestanden. Jetzt wankte Jenny, kaum dass sie aufgestanden war, und stützte sich mit der Hand an der Wand ab. Sie straffte ihr Kreuz und selbst das half nicht.

Wenn das Tablett mit dem Mittagessen im Krankenhaus gegen zwölf Uhr zu ihr kam, sah sie das Tablett doppelt und griff häufig ins Leere. Wenn sie aufstand, schlingerte sie dem Bad entgegen wie eine Betrunkene und prallte schmerzhaft auf die Wand einen halben Meter neben der Tür. Sie rieb sich die Stirn, die ihr wieder normal warm vorkam, aber was nützte ihr das gegenüber einem übermächtigen tödlichen Feind, der in ihrem wichtigsten Körperteil, ihrem Gehirn, einen Mord – ihre Ermordung vorbereitete?

Sie schob die öde dünne Bettdecke ganz langsam beiseite, sie hatte Zeit, die ganzen Tage hier in der Klinik dehnten die Stunden und Minuten, hatte sie vielleicht unendlich Zeit? Sie betrachtete ihren Körper. Ein schöner Körper, schlank, damit war alles okay – alles bestens – eigentlich. Ging es ihr zeitweise sehr viel besser, erschienen vor ihrem inneren Auge junge Männer, die sie kannte. Aber sie hatte keine Lust auf sie. Wobei, eigentlich hatte sie schon Lust auf sie, wären die Umstände ihres Lebens andere. Doch so würde sie Sex mit einem Jungen wohl nicht mehr erleben. Schmählich, so empfand sie es, würde sie als Jungfrau sterben. In Berlin gab es so eine doofe Formulierung dazu: ›ungeöffnet zurück‹. Aber so würde es kommen. Sie wusste ganz genau, dass ihre Ablehnung der Jungs nur symptomatisch dafür war, wie sehr sie ihr Leben auf ein einziges Ziel hinsteuerte. Raus aus Marzahn! Aber Marzahn war nur ein Symbol für den Dreck und das Elend. Während der Quarantäne und der Behandlung in der Klinik hatte sie die Zeit, über sich selbst nachzudenken. Ihren nahenden Tod blendete sie einfach aus, so wie sie das Elend in Marzahn zeitlebens hatte ausblenden können. Vielleicht würde sie eine Naturwissenschaftlerin werden, aber eine schöne Naturwissenschaftlerin, nicht so ein brilletragender Nerd. Charmant und doch straight. Das traute sie sich zu. Und in ihrer Vorstellung lebte sie nicht mehr dort, nein, lebte sie nicht mehr bei ihrer Familie, sondern irgendwo außerhalb von Berlin in einer hübschen Wohnung, würde zur Arbeit pendeln und Geld verdienen. Und dann brach ihre Vorstellungskraft bei den immer wiederkehrenden Gedanken zusammen. Sie konnte ihre Familie nicht verlassen – es ging einfach nicht!

Hatte sie zwei Wochen lang nach dem Abklingen des Virus über Tage nur geschwiegen, nahm Jenny das Angebot, das Hospiz zu beziehen, mit einem einzigen klar artikulierten Ja an. Eine einzige Unterschrift auf der letzten Seite des Vertrags mit dem Hospiz, so einfach war das!

Ihre Mutter hatte sie noch abgehetzt einige Zeit lang nach ihrem Einzug ins Hospiz täglich besucht. Jeweils für fast eine halbe Stunde. Sie hatte ihr über ihr Haar gestrichen. Liebe als Herrschaft. Doch sie wusste nichts zu sagen, gar nichts. Sie schwieg, sie war sprachlos und ihre Nähe brachte keinen Trost. Sie würde auch weiterhin schweigen, wenn ihr Kind tot war. Was sollte man schon mit einem Fleck anfangen, der nicht zu beseitigen war und sich ohnehin bald von selbst auslöschte? Da ahnte Jenny den Betrug ihrer Mutter an ihrem Vater und den wahren Grund, warum ihr Papa so krank war. Sie nahm die Hand ihrer Mutter und schüttelte sie, als sie ging und danach nicht mehr wiederkam – bis zum Schluss. Sie verabschiedete sich von ihr wie von einer Fremden. Ihre Mutter hatte sie angenommen als Fleck, der nun bald gereinigt sein würde. Jenny hatte die berechtigte Hoffnung, dass ihre kleine Schwester überleben würde. Da war sie sich sicher, sie würde überleben. Ihr Vater war ein Anderer, sie würde verschont bleiben von diesem unzuverlässigen Gehirn. Das beruhigte Jenny sehr.

Jenny blieb allein die letzten Tage, nur begleitet von mitfühlenden Krankenschwestern und Pflegern. Ihren Vater sah sie nicht mehr und ihre kleine Schwester auch nicht. Sie hatte sich schon lange von ihnen beiden verabschiedet.

Jenny war wie immer zuverlässig und pünktlich. Sie starb auf den Tag genau sieben Wochen nach ihrer Diagnose, war fünf Wochen im Hospiz, wie die Ärzte es ihr vorhergesagt hatten.

Das war es also gewesen. Jenny war tot und dennoch lebte sie – jetzt, wieder. Ihr Ende passte zu dieser Stadt. Immer etwas lakonisch, sogar der Dialekt war so. Die Seele etwas zu sehr versteckt.

»Allah yakun maeak«, hatte Rocco gesagt, als er aufgestanden war und sie an sich hochzog, sie auf die Wange küsste.

Jenny war erleichtert, jetzt ein Engel zu sein. Sie hatte abgeschlossen, und sie war aus Marzahn verschwunden, geflohen, aber sie war kein Flüchtling mehr zwischen Herkunft und Ziel, denn an ihre Herkunft erinnerte sie sich. Nur das Ziel ihrer Reise blieb ihr verborgen. Denn das Ziel war fast wichtiger als die Zeit, in der sie sich befand. Warum war sie hier? Warum war Rocco hier? Was sollte sie hier? Eines schien ihr ziemlich sicher: Ihr Vater würde nicht mehr leben, also sollte sie ihm nicht helfen oder so etwas. War er jetzt auch ein Engel oder einfach nur ein modernder, säkularer Toter oder hatte er vor Gott gestanden, dem einen Gott, der alles geschaffen hatte, Himmel und Erde und wohl auch eine sichtbare und eine unsichtbare Welt, ihre Welt der Engel, und war nicht zurückgeschickt worden? Und sie? Hatte sie vor ihm gestanden? Sie erinnerte sich daran nicht. Aber was war aus ihrem Vater geworden? Warum war er nicht mit ihr hier?

Diese Vorstellung eines wirklich existierenden Gottes entsprach nicht dem, was sie in ihrer Familie der unreligiösen Werktätigen gelernt hatte. Die Vorstellung war irgendwie trotzdem nicht zu verbannen.

Ihre Mutter war schon tot gewesen, als sie noch lebte, sie würde kein Engel werden. Sie würde sich vielmehr eines Tages selbst als Fleck erkennen und aufsaugen und, wenn das nicht gelang, wegwischen. ›Oops, I did it again?‹ Jenny grinste innerlich, fand sich dann aber sehr gemein ihrer Mutter gegenüber, die tatsächlich so viel ausgehalten haben musste.

Aber ihre Schwester: Ihre Schwester würde vielleicht noch leben, wenn Jenny endlich herausbekommen würde, in welchem Jahr sie sich befand. Sie würde eine wunderschöne, intelligente Frau sein. Sie war stolz auf sie, schon immer gewesen. Denn ihre Schwester liebte sie so wie ihren Vater. Ihr schlechtes Gewissen ihrer Mutter gegenüber machte sich in ihr breit. Aber schlechtes Gewissen zahlte nicht auf Liebe ein. Denn auch Liebe war offensichtlich niemals gerecht.

Deutschunterricht im Dönerladen

Jenny war irre heiß. Sie schwitzte, während an Rocco keine einzige Schweißperle zu sehen war. Er roch nach wie vor frisch nach Moschusduschgel. Es hatte offenbar Vorteile, in Afrika gelebt zu haben, dachte sie. Soeben hatten sie einen türkischen Imbiss passiert, und Jenny hatte Rocco am Shirt gezogen, wobei sie einen angenehm frischen Hauch von ihm aufgefangen hatte. Er hielt nun an und sah sie fragend an.

»Ich würde gern etwas essen, du weißt schon, warum.« Sie klemmte eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.

»Die Zunge, der Geschmack«, er hatte es nicht vergessen.

»Bist du Muslim?«, fragte sie ihn mit Blick auf den Imbiss etwas zu direkt. Ihre unbändige Lust auf Essen jedoch machte ihr lange Umwege höflicher und empathischer Annäherung an seine vermutliche Religion gerade unmöglich.

Rocco dagegen war ganz und gar mit dieser Stadt beschäftigt, sah das Leben auf der Straße und die Gebäude mit offenem Mund und aufmerksamem Blick an, er war nicht hungrig nach Essen. Gelegentlich griff er auch beiläufig nach ihrer Hand, um sich festzuhalten. Alles war so fremd hier. Nun war er irritiert. ›Warum fragt sie mich das?‹, wunderte er sich, den Blick nach oben gerichtet die Häuser betrachtend. Dabei stolperte er über seinen eigenen Fuß, kam ins Taumeln, Jenny beugte sich nach vorn, um ihn an den Arm zu fassen, aber da hatte sich Rocco schon wieder gefangen. Verärgert über sich selbst sah er an sich hinunter. Ihre Frage, was sollte ihre Frage? Deswegen war er gestolpert und das letzte Mal, als ihm Ähnliches passierte, war er in eine, in die Mine getreten.

Sie standen sich jetzt gegenüber und tauschten Blicke. »Glaubst du, im Islam gibt es keine Engel?«, fragte er das Einzige, was, wie er dachte, ihre Frage begründete. Er klang sehr verstimmt. Jenny sah ihn von der Seite etwas verstohlen an.

›Haben wir jetzt Engelzoff?‹, fragte sie sich, doch bevor sie auf ihre Frage eine eigene Antwort fand, begann Rocco zu erklären, was sie nicht wusste.

»Bei uns heißen die Engel auf Arabisch ›Malak‹«, sagte er mit leichter Ungeduld der Unwissenden gegenüber. »Jeder Muslim hat zwei Engel an seiner Seite. Einer schreibt die guten Taten auf und der andere die schlechten Taten. Und wenn ich sterbe, bringen Engel meine Seele zu Allah. Der Erzengel Gabriel hat dem Propheten gesagt, dass es nur einen Gott gibt. Gabriel ist in deiner Religion und in meinem Glauben ein Erzengel. Du bist nicht besser und nicht schlechter als ich. Deine Engel sind auch meine Engel«, beharrte er, wobei er nicht wusste, dass Jenny keiner Religion angehörte.

»Wir sind Engel, schon vergessen?«, rief Jenny die überraschende Entwicklung in sein Gedächtnis zurück.

Sein Ärger war verflogen, aber er lächelte nicht, als er sagte: »Dann bin ich als Muslim so viel wert wie du als Christin.« Er packte gerade ein großes Paket alter Vorurteile zwischen Christen und Muslimen, Kolonialisten und Kolonialisierten aus. Er empfand sich in diesem Moment als Repräsentant der ehemaligen Kolonien in Afrika und war überraschend mitten bei den ehemaligen Herrschern in Europa gelandet. Nur, dass Jenny wirklich in keiner Hinsicht zu diesen Herrschern gehörte, abgesehen von ihren europäischen Genen, die eine Erblast waren, für die sie nichts konnte.

»Ich meinte etwas anderes.« Ihr Ton war sachlich, und sie ließ sich nicht von ihm und dem Missverständnis zwischen ihnen triggern. »Meine Eltern kommen aus der DDR, ich glaube nicht an Gott. Paps war ein Werktätiger, Mama auch. Wir waren auch nicht bei der Wende dabei, die zur Einheit Deutschlands führte. Weißt du von der Teilung Europas und dem Mauerfall 1989?« Rocco nickte fast unmerklich. »Als das passierte, sah meine Mam abends ›Ein Kessel Buntes‹, eine Unterhaltungssendung im Fernsehen. Der Trabi, das war so ein ganz kleines, furchtbar knatterndes und räucherndes Auto aus Plaste, stand auf seinem Parkplatz. Wir waren wie viele Menschen in der DDR weder politisch interessiert – wir wollten einfach nur zufrieden leben – noch glaubten wir an irgendwas. Wie die meisten Deutschen inzwischen, glaube ich nicht an Gott. Diese Sache hier, wie ich Engel wurde – ich muss darüber nachdenken, echt nachdenken, wenn ich mal Ruhe habe.« Jenny klang in diesem Moment wenig nach Engel und das wusste sie. Sie klang nach einem rationalen Menschen. Sie kam mit ihrer Verwandlung derzeit offensichtlich schlecht zurecht. »Ich meinte eigentlich nur«, seufzte sie nun, erleichtert, endlich zum Punkt zu kommen, und etwas genervt darüber, dass dabei solch ein Fass aufgemacht worden war, »wenn wir essen wollen, sollte es etwas sein, das auch du essen darfst.«

 

»Kein Schwein«, seine Auskunft war lakonisch kurz. Wusste sie das nicht?

Jenny nickte. Seine Einsilbigkeit war okay für sie. Sie wollte nur etwas essen, nicht über Gott und die Welt philosophieren. Sein Gefühlsausbruch über seine Religion hatte sie etwas Nerven gekostet, war es doch nicht das, was sie in dem Moment von ihm gewollt hatte. Und so war es auch gleich der nächste Dönerladen, der Jennys Versuchung nicht widerstand, denn dort gab es Lamm und Huhn und Jenny lief das Wasser im Mund zusammen.

Das Leben eines Engels bestand auch aus furchtbar einfachen, aber handwerklichen Schwierigkeiten, mussten sie nun feststellen. Die Dönerbude war leer. Wahrscheinlich war es noch keine Essenszeit für die meisten Kunden, das hieß, dass sie keine Mahlzeiten klauen konnten. Andererseits waren sie unsichtbar, sie könnten ja auch hinter den Tresen gehen. Dass man sie nicht sehen konnte, belegte der Wirt, der gelangweilt seine Dönergrillpyramiden in Position brachte und den Grill einschaltete, worauf sich die senkrechten Spieße unter orangefarbenem, heißem Licht drehten, ohne sich um die beiden vermeintlichen Gäste zu kümmern. Gerade erst hatte er den Laden aufgemacht. Bis die ersten Gäste kamen, würde es dauern. Jenny freute sich, dass dieser Dönergrill denjenigen aus Marzahn so ähnlich war, die sie kannte.

Der Betreiber fuhr seinen Laptop hoch und sein ›Smart Business‹-Programm brachte die Leuchtreklame, die in Laufzeilen draußen an der Fassade wie auch im Imbiss lief, an den Start. ›Vegan-Chicken, Vegan-Lamb‹, verfolgte Jenny die rote Laufzeile. Sie verstand gar nichts mehr. Sie war doch in einem Dönerladen! Da gab es Hähnchen und Lamm zur Auswahl, eingepackt in Teigtaschen, die mit Gemüse und Tsatsiki gefüllt wurden und dann himmlisch schmeckten, auch wenn ihr immer die Hälfte von beidem über die Finger quoll. Was war denn dieses Vegan-Fleisch?

Rocco sah die Enttäuschung in ihrem Gesicht. »Doch Schwein?«, fragte er, da er offenbar nicht verstand, was ihm geboten wurde.

»Nein, nein, alles Pflanzenzeug, kannst du auch essen.«

Der Wirt, der sie noch immer nicht bemerkt hatte, wandte sich der gegenüberliegenden Seite seines Ladens zu. An der Decke hing etwas, das nach einem dünnen schwarzen Rollo aussah, von Metallarretierungen links und rechts gehalten. Mit einem Klick auf sein Handheld fuhr die Rolle langsam nach unten, bis die einzelnen Elemente sich zu einem Bildschirm zusammenschoben.

Jenny beobachtete ihn, während der Wirt ein weiteres Mal klickte. Er hatte NTV ausgewählt. NTV sandte gerade das Wetter für Berlin. Das war immer das Ende einer aktuellen Nachrichtensendung. In der Mittagszeit sei mit dreiundvierzig Grad zu rechnen. Kein Regen. Die Hitze wurde mit einem Luftstrom aus dem Südwesten erwartet, der sich aus der Sahara und der Sahelzone speiste. Die Hitze aus der Sahelzone verstärke die Wärme aus der Sahara noch. Eine feine Schicht rötlichen Sandes würde sich auf Berlin legen.

Unten lief die Laufzeile von NTV, die sich Jenny genau ansah. Noch heute würde sich die Kanzlerin, Annalena Baerbock, neunundfünfzig, zu der gesamten Krisensituation in Deutschland und in Zentral-Europa äußern. Man erwartete zudem ihre Stellungnahme dazu, warum sie einen hochdotierten Aufsichtsratsposten bei Scribble angenommen hatte, dem in Europa tätigen Konzern, der der Nachfolger von Google geworden war.

Die Sequenzen einer Regierungserklärung von Annalena Baerbock tauchten auf. Sie verteidigte ihren Aufsichtsratsposten bei Scribble. Sie ließ historische Filmschnipsel zeigen, als die Zentral-europäische Union Google in Europa fünf Jahre zuvor verboten hatte, weil der Konzern rücksichtslos seit Jahren Daten seiner User einsammelte und anders nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen war. Google gab es noch in den USA und überall sonst auf der Welt – nur in Zentral-Europa nicht mehr.

Mit eindringlichem Blick sprach sie von einer Kontrolle über Scribble, damit niemals eintrat, was in den USA tatsächlich drei Jahre zuvor passiert war. Nach zwei erfolglosen Amtsperioden von Präsidenten der Demokraten war Peter Thiel am Horizont erschienen. Thiel hatte seinerzeit den Bezahldienst Paypal mitbegründet und frühzeitig in Facebook investiert. Der gebürtige Deutsche befürwortete die Diktatur, die Annalena Baerbock mit dem folgenden Satz Thiels in ihrer Regierungserklärung zitierte: »Das Schicksal unserer Welt liegt vielleicht in den Händen eines einzelnen Menschen, der den Mechanismus der Freiheit erschafft oder verbreitet, den wir brauchen, um die Welt zu einem sicheren Ort für den Kapitalismus zu machen.«

Sie ging auf diesen Satz mit keinem Wort weiter ein. Sie betonte die Bedeutung der Gründung Scribbles als eine der wenigen Entscheidungen der Kommission der Zentral-Europäischen Union, die mit großer Einigkeit aller Mitgliedsstaaten zustande gekommen war. Scribble sei ein Produkt, das eine Reihe zentral-europäischer Staaten konzipiert habe und das einer strengen demokratisch legitimierten Kontrolle unterläge, gerade was den Datenschutz beträfe. Scribble sei ein Leuchtturm der Demokratie im Dunkel des Machtanspruchs der Internetkonzerne, deren bedeutendster Lobbyist Thiel als Präsident der USA sei. So undiplomatisch deutlich hatte es die Kanzlerin noch nie ausgesprochen, kommentierte eine Laufzeile am unteren Rand des Bildschirms. Seiner Bedeutung in Zentral-Europa angemessen, sei es wichtig, dass Deutschland im Aufsichtsrat von Scribble vertreten sei und sich der Sitz in Paris befände, was die Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft betone.

Jenny wunderte sich. War dieser Satz Peter Thiels, an dessen Namen sie sich erst gewöhnen musste, bloß eine rein inneramerikanische Angelegenheit, oder hatte dieser Satz nicht noch eine weitaus größere Bedeutung? Der Satz war von globaler Bedeutung, denn seine Tragweite hatte Jenny sofort begriffen, auch wenn sie in der neuen Zeit fremd war. Denn schon zur Zeit ihres ersten Lebens war ein Leben ohne Google, Microsoft oder Apple kaum denkbar gewesen. Lenkte die Kanzlerin von irgendetwas ab, indem sie nun nur noch auf Scribble eingegangen war?

Statt den Satz weiter zu erläutern, ging Annalena Baerbock nun unerwartet auf die Fortschritte im Gesundheitssystem der USA ein. Jenny kam es definitiv so vor, als ob sie etwas vertuschen wollte. Aber vielleicht war die Kanzlerin ja auch nur gelegentlich etwas sprunghaft bei der Behandlung verschiedener Themen.