" Hoch Geachter Her Verhörrichter …"

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Nacht

Die Erforschung der Nacht nach geschichtlichen Gesichtspunkten kann nicht auf eine lange Tradition zurückblicken. Im Zentrum der Untersuchungen stand zumeist die Beleuchtungsgeschichte als Teilgebiet der Technikgeschichte. Sozialgeschichtliche Forschungsarbeiten zum Nachtleben sind dagegen dünner gesät. Die bisherigen Untersuchungen konzentrierten sich in erster Linie auf das Stadtleben und behandelten, was das frühe 19. Jahrhundert betrifft, insbesondere Sicherheits-, Sittlichkeits- und in deren Folge auch Disziplinierungsfragen.310 Auf der Nacht auf dem Lande dagegen ruht nach wie vor ein verdeckender Schleier. Dieser Themenbereich ist im vorliegenden Zusammenhang insofern von Bedeutung, als die Bündner Landjäger in ihrer grossen Mehrheit nicht in der Stadt, sondern in mittelgrossen bis sehr kleinen Dörfern und Weilern stationiert waren.311 Aufgrund ihres Hauptauftrags, illegale fremde Aufenthalter zu vertreiben, erfolgten ihre Patrouillen über weite Strecken abseits des besiedelten Gebiets. Im polizeilichen Raumdiskurs traten diese Zufluchtsorte fernab der Siedlungen mit Bezeichnungen wie «Schlupfwinkel» oder «Ausörter» in Erscheinung.312 Es wurde bereits erwähnt, dass die Landjäger gemäss Paragraf 7 der Instruktion von 1828 Tag und Nacht in Alarmbereitschaft zu stehen hatten. Abgesehen von dieser passiven Dienstpflicht wurde in den Instruktionen betreffend aktive Bereitschaft während der Nachtzeit nichts verfügt. Gewohnheitshalber galt jene Weisung, welche der Verhörrichter auch dem in Splügen stationierten Landjäger Johann Steger auferlegt hatte: Dieser sollte «seine Touren so einrichten, daß er gegen Abend immer nach Haus kommen» könne.313 Anders jedoch scheint es sich im Fall eines Transports verhalten zu haben: Die betroffenen Personen sollten, sofern nicht explizit krank oder in ihrer Mobilität schwer beeinträchtigt, so schnell als möglich, das heisst ohne allzu starke Berücksichtigung von Tages- und Nachtzeit, weitertransportiert werden. Daraus wird ersichtlich, dass eine aktive Nachtdienstpflicht insbesondere darin bestand, zu transportierende Personen während der Nachtstunden zu beaufsichtigen und zu verpflegen. Hingegen sollten für die externe Verköstigung der «Schüblinge» nicht zu viele Pausen eingelegt werden, da dadurch aus Sicht des Kantons Spesen eingespart werden konnten. Es sei, so hatte der Verhörrichter dem in Splügen als Nachfolger Stegers stationierten Landjäger Sixtus Seeli zu verstehen gegeben, immer schnellstmöglich weiterzumarschieren:

«Anbei muß man aber bemerken, daß die Landjäger mit Schüblingen, die nicht krank sind, Stationen von 4 bis 6 Stunden ohne einzukehren machen sollten, 18 [Kreuzer] für einmal Eßen wohl viel ist, indem den Leüten nur Suppe und Brod abzureichen kommt, man bemerkte auch im Unkosten-Verzeichniß, daß Seeli mehrere Schüblinge ohne Ursache über Mittag und Nacht in Splügen verpflegte. [/] Da dieses nur Zeit verloren und Unkosten vermehrt ist, wird selbes ihm verwiesen und er beauftragt, in Zukunft mit den eintretenden Schüblinge gleich so weit als möglich weiter zu gehen.»314

Wenn der Verhörrichter dem Landjäger Johann Steger mitteilte, dass «auch bei etwa vorfallenden Eskortirungen von Schüblingen» versucht werden solle, abends «so viel als möglich nach Hause eilen» zu können, 315 dürfte dies wohl eher eine Ausnahmeregelung gewesen sein. Im Regelfall jedenfalls war, angesichts der Tatsache, dass mit der obrigkeitlichen Unterstützung nicht hinlänglich zu rechnen war, 316 anders vorzugehen: Der in Ponte stationierte Landjäger Christian Grass d.Ä. beispielsweise wurde dafür kritisiert, transportierte Personen «über Nacht und Mittag» an seinem eigenen Stationsort verpflegt zu haben. Weiters wurde ihm vorgehalten,

«daß er für die Pitsch Largiader mit 48 [Kreuzern] über Nacht besonders aber mit 24 [Kreuzern] Frühstük den 17. Apr. in Brail zu viel für Zehrung [ausgelegt habe], indem der Landjäger den Schüblingen nur Suppen und Brod geben laßen soll[e] u. 4–6 [Kreuzer] pr. Kopf hinreichen sollten, wonach er sich in Zukunft zu halten [habe]».317

Auf diesen Verweis wusste Grass zu antworten:

«[H]ab ich es ihnen ihm Rapport gemäldet, das ich sie habe müßen über Pfingsten hir behalten, wegen schlechten Wetter, den Glauben Sie mir nur ich hab noch am Pfingstmontag genug zu schaffen mit ihnen, den ich muste sälbsten ein Kind über ziehen oder tragen, darmit ig ab dem Weg komme, und mit ihnen mehr verzegren als wirklich Rächt ist, sonst hat ich noch ein nacht müsen aus bleiben.»318

Die an Landjäger Grass gerichtete Weisung des Verhörrichters verdeutlicht drei wesentliche Aspekte: Erstens zeigt sich ganz allgemein, dass der nächtliche «Schüblingstransport» grosse Bedeutung hatte. Zweitens wird deutlich, dass die Polizeileitung an einem raschen nächtlichen Transport interessiert war. Die oberste Priorität bei der Umsetzung des formal-normativen Hauptauftrags war drittens, und dies unabhängig von der Tageszeit, ein möglichst effizientes Zeit- und Kostenbudget. Diesem Ziel fiel die Nacht gleich in doppelter Hinsicht zum Opfer, denn Übernachtung kostete unnötige Zeit und Geld. Obiges Zitat verdeutlicht zudem, dass eine Rückvergütung der Spesen bei unverhältnismässigem Vorgehen der Landjäger nicht zwingend gewährleistet war. Dies erklärt auch Grass’ d.Ä. Verhalten: Er versorgte die zu transportierenden Personen in oder in der Nähe seiner Unterkunft. Dies konnte im Fall kooperierender Obrigkeiten eine Räumlichkeit der Gemeinde, ein sehr einfacher Unterschlupf wie etwa ein Stall oder eine Scheune oder aber sogar ein Platz im Freien sein. Zuweilen wurden die Personen auch in der Unterkunft des Landjägers selbst verwahrt. Landjäger Michael Mutzner etwa berichtete im November 1829 dem Verhörrichter, dass er von Landammann Rudolf von Planta aufgefordert worden sei, einen gewissen Untervazer namens Johann Schalldorf, den er verhaftet hatte, über Nacht in sein Quartier zu nehmen:

25 Passage in der Viamalaschlucht bei Nacht, um 1820. Sepiatusche von unbekanntem Künstler.

«[Sodass ich] den Schalldorf den 13ten Arÿthieren Mußte. in Zuoz, und von 11 Ur. bis 7 Ur. hier vor der Behörde hatte und mit ihme nachts nach Samedan Mußte, beim Herrn Landammann Rudolf Planta gebracht, den ich von ihm Beordert in mein Quathier nahm […].»319

Hierbei erweist sich ein Vergleich mit einem der nächsten Rapporte, in dem Mutzner über den Transport des Bündners Jakob Anton Peterelli nach Savognin berichtete, als interessant: Angesichts der Tatsache, dass es sich sowohl beim transportierenden Landjäger (Michael Mutzner) als auch beim Landammann von Samedan (Rudolf von Planta) in beiden Fällen um dieselben Personen handelte, wird ersichtlich, inwiefern sich die nächtliche Verwahrungspraxis je nach Bürgerstatus der Personen unterscheiden konnte. Im Gegensatz zum fremden Johann Schalldorf, den Mutzner in seinem Quartier überwachen musste, wurde der Kantonsbürger Peterelli «beim Weißen Creüz auf dem Rathaus in beisein des L[and]Weibels» verwahrt.320

Der grosse Anteil der «Schüblingstransporte» erfolgte während der schneefreien Monate, da Fahrende und Vaganten die Wintermonate wegen des rauhen Klimas in vielen, insbesondere den hoch gelegenen Bündner Tälern wie dem Engadin, eher mieden und sich in tiefere Lagen zurückzogen. Dies lässt sich auch aus den Rapporten der Landjäger und den ihnen beigefügten «Schüblingslisten» herauslesen, welche in den Sommermonaten deutlich mehr eingetragene Personen enthielten als während des Winters. In den von Kälte und Schnee dominierten Monaten sandten die Landjäger dem Verhörrichter auch weitaus häufiger inhaltslose Rapporte, welche immerfort einen ähnlich reduzierten, die Vorkommnisse zusammenfassenden Satz enthielten, wonach im abgelaufenen Monat «nichts Neues» vorgefallen sei. Als Beispiel für eine grössere Anzahl entsprechender Rapporte kann der Bericht des in Thusis stationierten Landjägers Jakob Jecklin aufgeführt werden, wobei anzumerken ist, dass zahlreiche Rapporte noch wortkarger verfasst wurden:

26 Landammann Rudolf von Planta (1789–1840). Öl auf Leinwand, von Frizzoni.

«[Es] ist mir noch Bis daher nicht verdächtigs Bekant geworden was wider die Landjäger Instrukion Laufen möchte, sonderen alles in ruhiger Verhältnis. so wohl in den dörferen, abgelegenen häuseren als auf den Straaßen und abwägen meines Bezirgs.»321

Anders als beim Transport von «Schüblingen» war die nächtliche Verwahrung ausgeschriebener Verbrecher und eingefangener Deserteure unter strikterer Überwachung zu vollziehen. Als Landjäger Sixtus Seeli sich etwa in seinem Rapport an den Verhörrichter darüber beklagte, dass das Fehlen von Lichtquellen die nächtliche Gefangenenüberwachung erschwere, unterschied derselbe zwischen der Verwahrung von Vaganten und «wichtigen Gefangenen»:

«[…] Lur schriver dils 7. jener vai jou vieu Ca ei viengig bucca pagau pli. par Cazola par La nog. singiur Barron cheu a spliga vein nuss aung nagiennas parschuns a zenza aver parschuns a stuver viller lanog senza Cazola san ins bunamen bucca star Rissponzavels par par sunas mal faigias […].»322

«[In] Eurem Schreiben vom 7. Januar habe ich gesehen, dass [die Kosten] für die Nachtlampe nicht mehr [rück-]vergütet würden. Herr Baron, hier in Splügen haben wir noch keine Gefängnisse und man kann, ohne solche zu besitzen und die ganze Nacht ohne Licht hüten zu müssen, beinahe nicht die Verantwortung [übernehmen] für grobschlächtige Person[en].»

 

Die Weisung des Verhörrichters lautete, dass es legitim sei, das Licht «bei wichtigen Gefangenen z. b. Verbrecher» brennen zu lassen. Bei «bloß zu Transportirenden Vaganten», so lautete seine Weisung weiter, dürfte «solches jedoch wohl überflüßig seyn».323

Eine weitere nächtliche Polizeitätigkeit konnte schliesslich das Patrouillieren bei Dunkelheit sein. Hierbei können zwei Arten unterschieden werden: Einerseits konnte das Patrouillieren, je nach punktueller Weisung des Verhörrichters, singulären und ganz spezifischen Charakter haben. Andererseits gab es aber auch Zeitperioden, während denen einer oder mehrere Landjäger über mehrere Tage oder Wochen jede Nacht Streifzüge unternehmen mussten. In beiden Fällen lässt sich seitens der Führungsgremien der Wunsch herauslesen, jegliche Art von nächtlicher Tourführung wenn möglich zu zweit oder in einer grösseren Gruppe durchzuführen.

Punktuellen Charakter hatte die zielgerichtete Nachtstreife mit einer einheimischen polizeilichen Hilfsmannschaft der jeweiligen Gemeinde beziehungsweise des betroffenen Gerichts. Landjäger Johann Bäder berichtete dem Verhörrichter im Herbst 1834 von der Nachtstreife, welche er mit einer sechs Mann starken Dorfgruppe in den Alpen von S-charl durchgeführt habe, um dort eine «Bande» aufzuspüren:

«[…] und da ich am abend nach Schuls zurück kam lies mich der Dorf-Meister zu sich rufen und sagte, daß ich geschwind nach Scharl gehen solte es halte sich dort in den Schulser Alppen eine Bande auf, er wolle mir sogleich einige Manschaft nach schicken und in Scharl erwarten ich machte mich geschwind fort und kam in der Nacht um 9 Uhr in Scharl an und wartete alda bis 12 Uhr dan kam die Manschaft und ich nahm 6 Mann mit mir und Streifte die ganze Nacht alle Alppen durch so wie auch den 19ten und habe nichts angetrofen den es war gar nichts an der Sache als die Alp-Knächten haben den Tag hindurch einige […] Wurzengraber gesehen […].»324

Das geschilderte Ereignis zeigt, dass obrigkeitliche Weisungen in der Regel nicht im Zusammenhang mit dem Hauptauftrag erfolgten, sondern vielmehr dann zur Anwendung kamen, wenn die Lokalbehörden eine konkrete Gefahrensituation für ihre Dorfgenossen vermuteten oder wenn sogar ein Dorfmitglied festgesetzt werden musste, welches auf der Flucht war und dem man den Prozess machen wollte. Für die polizeiliche Hilfestellung wurden in der Regel ortseigene Bürger bewaffnet und dem Landjäger zur Verfügung gestellt, wobei es sich oftmals um ehemalige oder aktive Milizpflichtige handelte. Im Vergleich zur Aufbietung eigener Milizen zugunsten des sich im schleppenden Aufbau befindlichen Militärwesens scheint eine unmittelbare Verfügbarmachung zum Vollzug polizeilicher Verrichtungen innerhalb des eigenen Gerichtes trotz Ausnahmen auf weniger Ablehnung gestossen zu sein.325 Dass den Landjägern einheimische Hilfskräfte zur Aufspürung fremder Einwohner zur Verfügung gestellt wurden, scheint eher weniger häufig der Fall gewesen zu sein. Das Beispiel des Landjägers Michael Mutzner bildete deshalb eher die Ausnahme: In einem Bericht schilderte Ortsvorsteher Valentin Augustin von Susch dem Verhörrichter den Zwischenfall, bei dem Mutzner ihn über verdächtige Italiener in einem dorfnahen Tobel informiert und um Unterstützung gebeten habe, um diese allenfalls verhaften zu können:

«Der Unterfertigte, auf diese Anzeige hin, verfügte sich selbst mit dem Landjäger auf einen Punkt von wo aus er die für verdächtig gehaltene Personen mit einem Fernrohr besichtigen konnte; da es aber ein Regen und Nebel-tag war, so konnte er die Verdächtigen nicht für Gemeindsbürger erkennen und somit wurden auf der Stelle mehrere hiesige Bürger bewafnet in begleit mit dem Landjäger nach dem Tobel geschikt.» Die ganze Angelegenheit habe sich schliesslich als falscher Alarm herausgestellt, da es sich um «zweÿ hiesige Gemeindsgenoßen» gehandelt habe. «Anbeÿ darf der Unterschriebene sicher seÿn [so Augustin das Vorgehen des Landjägers vor dem Verhörrichter verteidigend, M. C.], daß Landjäger Mutzner nicht aus Feigheit seine Anzeige hier gemacht, sondern nur der festen Uberzeugung dadurch sicherer zu seinem Zwecke, der Festnehmung der Verdächtigen zu gelangen.»326

Im anderen Fällen mussten sich die Landjäger nach erhaltenem Obrigkeitsbefehl eigenständig arrangieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Bericht des in Roveredo stationierten Landjägers Christian Bantli. Im Zusammenhang mit der Verwahrung des Joseph Kap327 war eine Weisung zu dessen Verhaftung vorausgegangen. Der Fall wird deshalb in längerer Ausführung wiedergegeben, weil er aufzeigt, wie die permanente Alarmbereitschaft die Nacht zum Tag werden liess:

«Neüikeiten vom bezirk Roveredo und Calanga In Roveredo wirt ein man gesucht Nammens Joseph Kap; schon ville Jahr. sich hier in der gemeind aufgehalten; und einmals ein guter lob hatte; aber; allezeit unterstüzung von seinen guten freünden den summer; thut er kohllbrennen und ietz fangt er an Camin fägen. Den 13ten und 14ten haben ihn die Herren vor gericht auf dem Rathaus gehabt; und den 16ten vor Mitags sihe ich ihn über die brück gehen; aber ich wuste von seinen fähler gahr nichts; und get in seiner Caminordinanz gegen Grono zu; und des abens ongefähr eine stund nachts Ruft man mier ich soll kommen um ein Man zu fangen; mit zweÿ man und wuste nichts auf wen es gieng; aber der Caminfäger wahr nicht zu haus seit dennen seind wier gewiß; des tags und nachtes vill mahll dort um das haus aus zu suchen aber nicht funden unter deßen sagt mier der Ginilin der Kap seÿ mit 2 guten freünden über den bärg; und unter deßen als den 23ten wärd ich von einem schmärzhaften Ruken schmärzen das ich mich 4 tag gar nichts hälfen könte; und geschwind den Doktor kummen lies; und aber bald geholfen wurde; den 28ten lies der H. Fisgall Damon den Bärgamin kommen glaubt der soll ihn fangen; in der nacht komt; Ginilin und bärgamin; und fragen wo er ietz sein wonung habe aber sie liefen ganz; St. Videl; und St. Jülius aus; aber nicht fünden; den 29ten abens komt der genelin allein glaubt es zu zwingen aber nein […].»328

«Neuigkeiten vom Bezirk Roveredo und Calanca: In Roveredo wird ein Mann Namens Joseph Kap gesucht. Er hat sich schon viele Jahre hier in der Gemeinde aufgehalten und hatte einst einen guten [Ruf]. [Jedoch] war er immer auf Unterstützung durch seine guten Freunde [angewiesen]. Den Sommer [hindurch] brennt er [üblicherweise] Kohle, und [neuerdings hat er sich als] Kaminfeger [versucht]. Am 13. und 14. [November] haben ihn die Herren [der Obrigkeit] im Rathaus vor Gericht [verhört]. Den 16. habe ich ihn vormittags in seiner Kaminfegeruniform über die Brücke Richtung Grono gehen sehen. Ich wusste [jedoch] gar nichts von seinen [Vergehen]. Abends, ungefähr zur ersten Nachtstunde, hat man mich gerufen und [gesagt], ich solle kommen, um einen Mann einzufangen. [Ich wurde von] zwei Männern [begleitet], wusste [jedoch] nicht, um wen es ging. [Da] der Kaminfeger nicht zu Hause [war], wussten wir, [um wen es sich handelte]. [Wir sind/Ich bin sowohl] während des Tages, [als auch] während der Nacht viele Male [bei] seinem Haus [gewesen, habe(n)] aber nichts gefunden. Unterdessen [hatte] mir [Landjäger Placidus] Genelin [gesagt, dass] Kap mit zwei guten Freunden über den Berg [geflüchtet sei]. [Da] ich [in der Zwischenzeit], am 23. [November], von schmerzhaften Rückenschmerzen [geplagt wurde], konnte ich [während] vier Tagen gar nicht helfen, [Kap einzufangen]. Ich liess [stattdessen] den Arzt kommen, [der mir schnell] helfen [konnte]. Am 28. [November] liess der [Kantons]fiskal de Mont [d. h. der Verhörrichter] den [Landjäger Joseph] Bergamin [herbei]kommen, [im Glauben, dass] dieser ihn [ein]fangen [würde]. In der Nacht [auf den 29. November] [sind] Genelin und Bergamin [ge-] kommen und [haben ge]fragt, wo [Kap] seine Wohnung habe. Sie [patrouillierten daraufhin die ganze Nacht und den 29. November tagsüber in den Ortsteilen] San Fedele und San Giulio, [ohne eine Spur zu] finden. [Am] 29. [ist] abends Genelin alleine [ge]kommen, im Glauben, [die Aufspürung] erzwingen zu [können, was jedoch nicht eintraf]. [Ergänzungen, M. C.]»

Am 30. November schliesslich, so beendete Bantli seinen Bericht, habe Landjäger Genelin Kap aufgespürt. Anfang Dezember dann berichtete Bantli in einem weiteren Rapport von der Überwachung und dem mehrmaligen Verhören Kaps.329 Ende Dezember beklagte er sich ferner über die zeitraubende Gefangenenwache, welche ihm nicht erlaube, seine Ausrüstung instand zu halten.330 Ende Januar schliesslich berichtete er dem Verhörrichter von der Entlassung des Joseph Kap am 13. Januar 1830.331

Das Beispiel Kaps verdeutlicht die von der kantonalen Polizeileitung eingefädelte Kooperation zwischen den Landjägern. Sie wurde im Allgemeinen dann in die Wege geleitet, wenn das Verhörrichteramt vom Entweichen eines Häftlings Kenntnis genommen hatte. Gemäss polizeiorganisatorischer Richtlinie versuchten sich die Landjäger, falls sie sich in unmittelbarer Nähe befanden, bei obrigkeitlichen Expressanweisungen auch eigenständig zu organisieren.332 Wenn Landjäger Joseph Bergamin in seinem Dezemberrapport trotz intensiver Suche nach Joseph Kap berichtete, dass im Monat November nichts Neues vorgefallen sei, deutet dies in gewisser Weise auf die Normalität solcher Ereignisse hin.333

Im Gegensatz zu diesen Gefahrensituationen mit verhältnismässig konkreter Zielvorgabe standen die Weisungen zweiter Art, deren zeitliche Bezugsrahmen ausgedehnteren Charakters waren. Sie kamen dann zur Anwendung, wenn der Verhörrichter durch verschiedene Quellen von überproportionalen Mobilitätsströmungen erfuhr. Beispielsweise sollte bei ausgebrochenen Epidemien oder Nutztierseuchen die Übertragung der Krankheiten verhindert werden. In solchen Fällen wurden mehrwöchige oder gar mehrmonatige Grenzbesetzungen oder Extrastreifen befohlen, welche oftmals auch explizit während der Nacht zu vollziehen waren. Der Verhörrichter berichtete beispielsweise über die Ende 1827 ausgebrochene Viehseuche im Kanton St. Gallen,

worauf man auf dem Kunkelspass und dem St. Margrethenberg «Landjäger als Wachtposten ausgestellt» habe. Da es diese «wegen der längern Dauer an der Gränze» nicht ausgehalten hätten, seien sie «wie es die Natur der Oertlichkeiten gab, nach Vettis und von St. Margrethen-Berg zu den nächsten Höfen auf St. Gallen-Gebiet» gezogen. Daraufhin hätten die Behörden «ihre Quartierträger mit 40 Franken Strafe bedroht, falls sie selben noch ferners Quartier geben würden, welches jedoch nicht exequirt wurde».334

In einem anderen Beispiel liess der Kanton Graubünden gemäss Amtsbericht des Verhörrichters wegen der schnell fortschreitenden «Cholera morbus» an der Grenze zum Tessin und zum Lombardo-Venetischen Königreich von Ende September bis im Dezember 1831 einen «Cordon ziehen», welcher aus einer unerwähnten Anzahl Landjäger sowie aus 15 provisorisch aufgenommenen Landjägern bestand, um die Grenze permanent besetzen zu können:

Die Massnahme sei mitunter auch deshalb getroffen worden, weil die beiden Nachbarstaaten unmittelbar davor eine ähnliche Verfügung erlassen hätten und befürchtet wurde, dass der Kanton «von Fremden ganz überfüllt werden möchte», wobei explizit auch «einiges Zuströmen besonders von Handwerksburschen» drohe. Von den provisorischen Landjägern seien zehn Männer im Dezember wieder entlassen und deren drei vorläufig beibehalten worden.335

Ein gleicher «Cordon» wurde, dies zur Ergänzung, auch im Sommer 1836 errichtet.336 Im Idealfall patrouillierten die Landjäger in solchen Fällen erhöhter Alarmbereitschaft in Begleitung. Eine im Spätsommer 1833 festgestellte Welle aktiverer Migration an der Tessiner Grenze beispielsweise hatte den Verhörrichter veranlasst, die Landjäger Christian Desax (Roveredo), Franz Derungs (San Vittore) und Placidus Genelin (Grono) gemeinsame Touren entlang des Grenzverlaufs machen zu lassen. An Desax schrieb der Verhörrichter, er solle

«[…] besonders bei Tages- und Nacht Anbruch, hie und wieder auch selbst in der Nacht /: versteht sich, bei Nacht wenn möglich in Begleitung des Genelin oder des Derungs, worüber Desax sich mit selben jedes Mal einzuverstehen hat:/ eine Streif Tour auf der linken Seite des Waßers von Roveredo bis an die Landes Gränze gegen Tessin […] machen und […] sehen, daß kein Konterband getrieben werde, auch keine verdächtigen Leüte ins Land kommen.»337

27 Fernrohr, 1823. Teilweise unleserliche Aufschrift des Namens Gian Marchet Colani (1772–1837), dem bekannten Gämsjäger aus Pontresina.

 

28 Laterne für Kerzenlicht, 19. Jahrhundert. Herkunftsort: Mathon.

Des Öfteren mussten die Landjäger ihre Touren auch allein durchführen. Zu dieser Auftragsart, welche sehr variierende Tagesabläufe bewirkte, gehörten auch die Tourführungen, die anlässlich spezieller Jahrmärkte angefordert wurden. Dazu zählten die traditionellen südalpinen Viehmärkte, die in Chur stattfindenden Mai- und Andreasmärkte sowie sonstige regelmässig organisierte Märkte.338 Der Verhörrichter erteilte jeweils vor Beginn der Viehmärkte allen Landjägern eine ausserordentliche Weisung betreffend Routenführung. Gewisse Landjäger mussten sogar über einige Wochen ihren Ausgangspunkt ändern und eine strategisch wichtige Stelle einnehmen, wobei in den meisten Fällen die Besetzung der Passgänge beabsichtigt war. Als Beispiel für diese alljährlich getätigte Praxis kann eine Anfang Oktober 1832 den betroffenen Landjägern erteilte Spezialweisung herangezogen werden:339

Landjäger Joseph Maculin (Grono) solle während der Rückkehr der Viehhändler von den Viehmärkten besonders auf der «dießeitigen Gränze bei Montecello bis St. Bernardin» eifrig (und dies bedeutete gerade auch während der Nacht, M. C.) patrouillieren. Er werde noch von Landjäger Mark Hartmann unterstützt, mit dem er gemeinsam, noch «vor Eintritt der strengern Jahreszeit», eine «Haupttour» durch das ganze Misox und das Calancatal zu machen und «Schriftenlose oder sonst verdächtige Fremde aus dem Kanton zu entfernen» habe. Hartmann (Castasegna) hingegen solle sich sofort nach Chur begeben. Er solle während der Rückkehr der Viehhändler mit mehreren Landjägern zu zweit Haupttouren durchführen, also mit dem erwähnten Maculin im Misox und im Calancatal, mit Peter Riedi im «ganzen Rheinwald» und mit Jakob Jecklin im Schams, das heisst von «Hinterrhein bis Bärenburg» bei Andeer. Jecklin (Thusis) solle während der Rückkehr der Viehhändler insbesondere in der Gegend zwischen Rofflaschlucht und Thusis patrouillieren. Landjäger Hercules Derungs d.Ä. (Filisur) müsse, solange Landjäger Johann Luzi Sutter in der Gegend des Berninapasses verweile, «hie und wieder eine Tour über Albula bis Silvaplana [und] dann von dort zurück […] über Scaletta und Davos nach Filisur […] machen». Landjäger Giovanni Misani (Poschiavo) solle sich auf den Berninapass begeben und mit dem von Samedan dorthin beorderten Landjäger Johann Luzi Sutter eine Haupttour durch das Val Poschiavo durchführen. Landjäger Ulrich Maculin (Disentis) müsse sich zusammen mit Korporal Joseph Casparin nach St. Mariaberg (Lukmanierpass, M. C.) begeben, um dort zu patrouillieren. Landjäger Joseph Janett (Savognin) schliesslich solle während der Zeit, in der Landjäger Mark Hartmann im Bergell abwesend sei, «hie und wieder eine Tour über Seth [Septimerpass, M. C.] bis Castasegna und von dort über Maloja und Julier zurück […] machen».

Solche im Zusammenhang mit den Märkten stehenden Weisungen hatten für die Landjäger in erster Linie häufige Nachtpatrouillen zur Folge. Andreas Flütsch beispielsweise, Landjäger am Grenzzoll in Brusio, meldete dem Verhörrichter im Oktober 1832, dass er wegen der ungewöhnlich hohen Anzahl Viehhändler unaufhörlich bei Tag und Nacht habe patrouillieren müssen.340 Weiter bedeuteten die Nachtpatrouillen aber auch häufiges auswärtiges Übernachten. Da laut Polizeileitung in solchen Stossphasen auch viele Fahrende in den Kanton einreisten, wurde eine Spezialweisung und Patrouillenverschärfung verfügt.341 Landjäger Michael Mutzner wurde vom Verhörrichter explizit dazu angehalten, während und im Anschluss an den Churer Markt «jeden Tag wahrend der Morgen und Abenddämerung bis eine Stunde Nachts von Parpan bis Lenz zu patroulieren, auch vom Markt zurückkehrende auf allenfälliges Verlangen zu eskortiren».342

Es lässt sich aus all den obigen Beispielen ganz allgemein eine Korrelation zwischen Nachtaktivität und Sicherheitsempfinden feststellen. Das nächtliche Erholungsbedürfnis wurde in der polizeiorganisationsbezogenen Beurteilungsweise sowohl der Abwendung von Bedrohungen als auch der effizienten Erfüllung des Hauptauftrags untergeordnet. So kann anhand der nächtlichen Aktivität gewissermassen die Prioritätensetzung des formalen Polizeisystems aufgezeigt werden. Dies ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Nächtliche Polizeiaktivität bedeutet nämlich auch, geleistete oder vollzogene Polizeiarbeit nicht unergiebig werden zu lassen beziehungsweise dank aktivem Vorgehen ein voraussehbares Problem sogar im Keime zu ersticken. In diesem Zusammenhang ist die Frage, inwiefern die im Kontext des Hauptauftrags verfolgte Gruppe der Fahrenden und Bürgerrechtslosen in den Augen der Mehrheit oder sogar der Polizeigremien selbst eine wirkliche Bedrohung darstellten, irrelevant. Ihre Existenz und ihre Handelspraktiken wurden im polizeilichen Diskurs als durchgehend problematisch betrachtet. Ihre Auswüchse mussten deshalb auch mit nächtlicher Polizeiaktivität eingedämmt werden. Dass das Urproblem (die Existenz von Fahrenden innerhalb des bürgerlichen Rechtsstaats) auch mit noch so grossem Polizeiapparat nicht beseitigt werden konnte, sollte sich erst in einer langen politischen Debatte mit einem daraus resultierenden Erkennungsprozess zeigen. So waren die Landjäger, und dies wird im Zusammenhang mit ihrer nächtlichen Tourführung vielleicht am klarsten erkennbar, ähnlich wie die Stadtdiener nichts anderes als Wächter in einem grossen Herrschaftsbereich, wobei ihr Verfügungsbereich im Gegensatz zu den Stadtdienern einfach mauerlos war: Während die Kriminellen in einem ummauerten Ort innerhalb dieses Gebiets verwahrt wurden, ging es bei der polizeilichen Ausübung des Hauptauftrags in der Tradition des fremdenpolizeilichen Credos um die Hütung des Gebiets vor illegalen Eindringlingen.

Im Idealfall waren die Patrouillen bei Tages- und Nachtanbruch durchzuführen. Den sich in Rongellen niederlassenden Landjäger Georg Niggli etwa wies der Verhörrichter an:

«Er hat […] täglich bei Tages und Nachts-Anbruch im verlornen Loch in der Via Mala und bisweilen auch in der Rofla auf der Landstraße und Fussweegen zu patrouillieren, die übrige Zeit aber in Schams und Avers Touren zu machen und alle Samstag den Wochen-Markt zu Thusis zu besuchen, um wegen Polizei-Patenten das Gehörige Hand zu haben.»343

Die zitierte Vorgabe verdeutlicht das vorherrschende organisationssystematische Mantra: Das zu diesen Tageszeiten vorhandene Licht war aus Sicht des Polizeibeamten insofern erwünscht, als es nicht zu hell war, um von der Zielgruppe gesichtet zu werden, und gleichzeitig nicht zu dunkel, um dieselbe zu übersehen.

Schliesslich soll zur Beantwortung der Nachtfrage noch auf die spezielle Situation der Landjäger am Grenzzoll eingegangen werden. Deren nächtliche Präsenz an der Zollstätte war in den allermeisten Fällen unabdingbar.344 Florian Flütsch etwa wurde vom Kleinen Rat explizit darauf hingewiesen, während der Nacht im Zollhaus zu bleiben345, obwohl für dessen Familie in der Nähe des Zollhauses in Castasegna eine kantonale Unterkunft gebaut worden war. Entsprechend wurde ihm im Zollhaus auch ein eigenes Bett aufgestellt. Der Grund für diese Aufforderung lag in der Bedeutung des Grenzübergangs, der auch über Nacht gesichert werden musste. Nach dem Bau der Kommerzialstrassen 1818 bis 1823 war über die Hauptrouten wie beispielsweise den Splügenpass sogar während der ganzen Nacht Durchgangsverkehr möglich. Diesbezüglich drückte Peter Conradin von Tscharner, eigentlich ein Befürworter der Kommerzialstrassen, in seinen Wanderungen durch die Rätischen Alpen auch einen gewissen Missmut über gegenseitige Entfremdung der Bündner aus:

«Mögen übrigens die großen Straßen entfernte Länder sich näher bringen; hier dienen sie eher dazu den Bündner dem Bündner zu entfremden. Denn wenn vorher in abgemessenen Tagereisen die Ermüdung des Fußgängers oder die Sorge für’s eigene Pferd auf kurzen Stationen eine mehrmalige Einkehr erforderte; so fährt man jezt mit Wechselpferden Tag und Nacht durch, und der von Chur Verreis’te kömmt über die Gränze hinaus nach Bellenz, ohne seinen Landsmann in Schams oder in Misox anders zu sehen als im Schlaf.»346