" Hoch Geachter Her Verhörrichter …"

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2.4 Mobilität

Die Fortbewegung war eines der zentralsten Elemente des Landjägerdaseins. Dies traf am offensichtlichsten bei der grossen Mehrheit der Landjäger auf den Laufposten zu. Der Begriff Laufposten ist während der ersten Jahre seit Aufstellung des Bündner Polizeikorps im überlieferten Quellenmaterial kaum anzutreffen. Er avancierte insofern zum Charakteristikum für die entsprechenden Landjäger, als das Laufen zum Namenspaten der entsprechenden Berufsgattung wurde. In der Instruktion von 1828 hiess es, dass die Landjäger

«außer den Sonn- und gebotenen Feiertagen und einem beliebigen freien Tage in der Woche, täglich, wenn aber mehrere Landstreicher bemerkt werden, oder es sonst irgend nothwendig ist, ohne Ausnahme täglich, herum zu patroullieren [hätten]».241

Am augenfälligsten wird dieser permanente Bewegungszustand bei der Konsultation der ersten Instruktion, als das Kantonsgebiet wegen des geringen Korpsbestands in noch grössere Bezirke unterteilt war. Die in Disentis (Surselva), Splügen (Misox und Hinterrheintal) und Oberhalbstein (Bivio, Bergün, Alvaschein, Tiefencastel, Belfort und Churwalden) stationierten Landjäger sollten sich beispielsweise alle acht Tage in Reichenau treffen.242 Damit musste der Landjäger von Splügen innerhalb von acht Tagen für die jeweilige Hin- und Rückreise rund 85 Kilometer zurücklegen. Von Splügen über den San-Bernardino-Pass bis nach San Vittore an der Tessiner Grenze waren es nochmals je 65 Kilometer, sodass er innerhalb von acht Tagen de facto 215 km Grundroute zurücklegen musste. Darin waren all die Nebenrouten mit den berüchtigten «Schlupfwinkel[n]» und «Nachtquartiren»243 in den zahlreichen Seitentälern wie dem Calancatal, Richtung Splügenpass, dem Averstal und so weiter nicht miteinberechnet.

20 Landjägerposten, 1804.

Das anfänglich beabsichtigte Abdeckungsschema der Polizeileitung konnte damit kaum wie erwünscht umgesetzt werden. Mit dem Korpszuwachs verkleinerten sich die Bezirke, was jedoch nicht zwangsläufig bedeutete, dass die Intensität der Patrouillen abnahm. Die simple Berechnung der Landjägerdichte pro Fläche verdeutlicht den Anspruch, durch gleiche Mobilitätsfrequenzen und verkleinerte Zuständigkeitsgebiete die Haupt- sowie andere Auftragsbestimmungen zu einem erfolgreicheren Soll-/Ist-Verhältnis zu führen. Dennoch darf das Mobilitätskonzept des Landjägerkorps wohl als derjenige Bereich der Bündner Polizeiorganisation bezeichnet werden, bei dem Anspruch und Wirklichkeit am weitesten auseinanderklafften. Die Patrouillen machten den mit Abstand grössten Anteil an physischer Arbeit der Landjäger aus, sodass hier die grössten Ausfallquoten zu verzeichnen waren.

Diese Ausführungen berücksichtigend muss der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Leitungsgremien darauf bedacht waren, Ausfällen von Landjägern durch gezielte Massnahmen wirksam entgegenzuwirken. Die Bezirksverkleinerung war zweifelsohne ein wichtiger Aspekt: Dadurch konnte nicht nur der Kanton seinem innerhalb des Hauptauftrags eigens auferlegten Ziel effizienter nachkommen. Auch die Landjäger wurden so in mehrfacher Hinsicht entlastet: Durch die Konzentration auf das Gebiet rund um einen Hauptposten und den daraus folgenden regelmässigeren Aufenthalt in der gemieteten Wohnung konnten sie sich besser von den Strapazen erholen und zudem Kosten sparen. Sie hatten im Übrigen einen besseren Überblick über Veränderungsprozesse innerhalb ihres Gebiets, sodass damit gewisse Zusatzanstrengungen, zum Beispiel eine Kontrollroute als Folge des Vergewisserungsdrangs, vermieden werden konnten. Diese Entlastung der Landjäger war wohl kaum ein kalkuliertes Ziel, sondern eher willkommener Nebeneffekt. Unverkennbar war der Kanton jedoch auch weiterhin an einer möglichst intensiven und maximalen Patrouillentätigkeit der Landjäger interessiert. Dies versuchten die Leitungsgremien in erster Linie durch die Tourbuchkontrolle zu erlangen. Hierbei handelte es sich um die an die Landjäger gestellte Forderung, ihre niedergeschriebenen Patrouillenrouten und sonstige Tätigkeiten bei allen Obrigkeitsvorstehern visieren zu lassen: Gemäss Publikation vom 30. Mai 1804 mussten die Landjäger alle 14 Tage Rapport erstatten und diesen «dem nächsten ersten Gerichts- oder Ortsvorsteher einhändigen», welcher ihn dann dem Kleinen Rat weitersandte.244 Dies war eine Vorform der Mobilitätskontrolle, welche man schon von den Harschierkorps im 18. Jahrhundert her kannte: Gemäss Bundstagsbeschluss sollten der Landrichter von Disentis im Oberen-, der Landammann von Davos im Zehngerichten- und der Amtsbürgermeister von Chur im Gotteshausbund, in ihrer Abwesenheit die Bundsschreiber der jeweiligen Bünde, die Tourbüchlein der drei Harschiere visieren.245 Ähnlich wie 1804 hiess es in der Instruktion von 1813 ohne genaue Angabe, dass die Landjäger «sich ihre gemachten Patrouillen von den Vorgesezten im Dienstbüchlein bescheinigen laßen» müssten.246 Die Instruktion von 1828 forderte ein halbjährliches Einsenden des Tourbuches, in welchem «alle Patrouillen und andere Dienstverrichtungen von den betreffenden Vorgesezten» zu bescheinigen seien.247 In der der Instruktion von 1828 beigelegten Weisung hiess es sogar, dass die Landjäger die Tourbüchlein vierteljährlich einsenden müssten.248 Ab Juli 1829 wurde diese strengere Weisung wieder aufgehoben, wodurch von den Landjägern wie ehemals ein halbjährliches Einsenden des Tourbuches gefordert wurde.249

Unter Patrouillierung ist in erster Linie die ausschliesslich auf Polizeibeamte reduzierte, im Rahmen einer Routinetätigkeit zu erfassende Fortbewegungsart zu verstehen. Sobald der Polizeibeamte der Gesetzesbrecher habhaft wurde, sollte er einen Gefangenen- oder sogenannten Schüblings-Transport ausführen. Zur ersten Gruppe gehörten vor allem ausgeschriebene (signalisierte) Personen und Deserteure, zur zweiten, ganz im Sinn des formal-normativen Hauptauftrags, die sogenannten Eskortierungen von fremden Bettlern, papierlosen Vaganten oder etwa unerwünschten Hausierern. Als Beispiel für eine der zahlreichen Weisungen innerhalb dieses Kommunikationsprozesses kann die Aufforderung des Verhörrichters an den in Splügen stationierten Landjäger Johann Steger dienen:

«Derselbe wird darnach seine Touren so einrichten, daß er gegen Abend immer nach Haus kommen kann auch bei etwa vorfallenden Eskortirungen von Schüblingen nach Mesocco, Runkellen [usw.] so viel als möglich nach Hause eilen [kann].»250

Im polizeilichen Diskurs wurde die Abschiebung der Vaganten und Heimatlosen unter dem Schlagwort «Schub» subsumiert. Dieser Geschäftszweig des Verhörrichteramtes und der späteren Polizeidirektion liess im Lauf der Jahre einen überaus grossen Bestand an Aktenmaterial entstehen, welcher für diesen Aktentypus durchaus typische Archivpurifikationen späterer Jahrzehnte über weite Strecken überlebt hat und seitdem im Staatsarchiv Graubünden unter der Signatur StAGR C IV 5 b 2 eingesehen werden kann.

21 Vom Verhörrichteramt des Kantons Graubünden ausgestellter Schubpass für Johann Hermann Schläpfer von Schwellbrunn (AR), Chur 3. 4. 1835.

Die Organisation der Transporte konnte sowohl zu Fuss als auch mithilfe von Zugtieren erfolgen. Bei letztgenannter Methode bedienten sich die Landjäger der Transportdienste der Fuhrleute. Die ermittelten Fahrt-, Verköstigungs- und Logierkosten für die zu Transportierenden konnten, sofern nicht von den Obrigkeiten zur Verfügung gestellt, 251 die Landjäger dem Verhörrichter später in Form einer Quittung zusenden, 252 wobei dieser sie zur Rückerstattung dem Standeskassier weiterleitete. Im Normalfall wurden Personen ohne Aufenthaltsbewilligung für den Kanton Graubünden von Landjäger zu Landjäger weitergereicht, bis sie über die Grenze – im wahrsten Sinn des Wortes – abgeschoben und den dortigen Polizeibeamten übergeben wurden. In der Zeit zwischen Ende Juni 1832 und Ende Juni 1833 beispielsweise wurden offiziell «462 Individuen mit 107 Kinder wegen Bettel [und/oder] Schriftenlosigkeit» über die Grenzen geführt. Des Weiteren «wurden noch 52 Innländer mit 30 Kindern von den Landjägern in ihre betreffende Gemeinden geschafft».253 Diese Praxis der ständigen Umherschieberei und der permanenten Aufenthaltswechsel ist in bestimmten Fällen auch aus der Sicht der betroffenen Personen dokumentiert: Cyprian Axt etwa berichtete Ende März 1854 während des Verhörs «auf dem Bureau» des Generalanwalts in Bern von den im Verlauf der verflossenen 30 Jahre gewählten Aufenthaltsorten seiner Familie in der Ostschweiz. Darin kommt der Kanton Graubünden für den Zeitraum zwischen 1836 und 1838 zweimal vor, wobei einmal auch von einem Polizeitransport die Rede ist:

«Nun begaben wir uns auch in den Kt. Graubünden: […] durch die untere Herrschaft hintere ins Brättigäu: Schiers und hintere bis nach Klosters. Ich kann da nicht alle Orte angeben es ist dort so «pumpelusisch», ich kann nicht sagen wie sie heißen. Klosters ist z’hinterst. Von dort sind wir nach Davos, und wegen dem Scherr mußten wir zurück durchs Brättigäu in die untere Herrschaft und wurden dann bald über die untere Zollbrücke in den Kt. St. Gallen hinübergeschoben. Im Ganzen mag dieser Aufenthalt in dem Kt. Graubünden etwa 4 Monate ausmachen. [/] Wir blieben nun 3 Monate lang auf einem Gut zwischen Sargans und Ragaz bei einem Lehenmann Namens Hauptmann Zäh. Wir wurden verrathen, da machten wir uns Nachts fort gegen den Kt. Appenzell IR aber dann auf der andern Seite wieder in den Kt. St. Gallen an die Thurgauer Grenze. […] Von der Zeit, die wir wieder an [der] Grenze verbrachten waren wir meistens auf St. Galler Boden; die St. Galler waren nie so scharf wie die Thurgauer. [/] Den folgenden Winter [1836/37, M. C.] waren wir wieder im Kt. Graubünden und zwar 3 Monate lang im Fläscherfelsen, an der Grenze gegen das Lichtensteinische, aber auf Graubündn[e]r Boden. [/] Wir watteten über den Rhein, er ist dort so breit – und giengen wieder zum Hauptmann Zäh hinüber, wo wir abermals etwa 6 Wochen waren.»254

 

Da es sich oftmals um Papierlose handelte, welche keinem bestimmten Zielort zugeteilt werden konnten, wurden diese Personen nicht selten auch ohne offizielle Übergabe über die Grenzen abgeschoben, was nach ihrer Rückkehr zur erneuten Abschiebung führen konnte, sodass es im Extremfall theoretisch zu mehrfachen Überführungen ein- und derselben Person kommen konnte. Insbesondere Wirsing hat in seiner Untersuchung zu den süddeutschen Staaten des frühen 19. Jahrhunderts auf diesen Umstand hingewiesen. Ein extremes Beispiel aus den Verhandlungen der zweiten Kammer der Ständeversammlung des Königreichs Bayern aus dem Jahr 1827/28 zitierend schreibt er, dass ein- und derselbe Vagant in einem Quartal von der Gendarmerie 54 Mal über die Grenzen geführt worden sei, wodurch in der Statistik 54 Vaganten erscheinen würden.255 Ob auch in Graubünden dieselbe Person mehrmals verzeichnet wurde, geht aus diesen Zahlen nicht hervor, ist angesichts der genauen Zahl und der strengen Buchführung mit Übersicht über alle berichteten Personennamen und von den Landjägern erfassten Signalemente jedoch eher unwahrscheinlich.

22 Cyprian Axt, 38 Jahre, aus Tautmergen, Württemberg. Polizeifahndungsfotografie von Carl Durheim, Bern 1852/53.


23 Das Rheintal von Pfäfers aus betrachtet, um 1815. Gouache von J. A. Knip. Am rechten Rheinufer Maienfeld mit der St. Luziensteig und dem zum Rhein abfallenden Fläscherberg an der Grenze zum Fürstentum Liechtenstein.

Als Beispiel für einen polizeilich dokumentierten «Schüblings»-Transport kann der Rapport des provisorischen Landjägers Johann Weber an den Verhörrichter herangezogen werden, welcher sich durch sehr genaue Angaben zu den Übergabezyklen auszeichnet:

«Mitkommend erhalten Sie die Liste die vom 27 Feber bis 4 April durch den unterzeichneten aufgefundenen Vaganten und Transportirten Arrestanten den Patesta Barmolin aus Welsch Lavin dem Landjager Petter Clavadetscher übergeben zu Zernetz den 2 März, und den Victor Canepa aus der Provinzia Babio [Bobbio? M. C.] übernohmend. 3. März vom H. Pass-Commissair zu Madulain u. übergeben dem landjäger [Jakob] Wunderer zu Berganova [Borgonovo, M. C.] den 4. März, und 16 März die Maria Margreth Tschudi übernohmen von Landjäger Petter Clavadetscher, u. dem Landjäger [Leonhard] Fausch zu Avaneuer Land übergebend. 17 März am 18 v. Landjäger Fausch den Petter Joh. Malgrit übernohmen und dem Landjäger [Johann] Bäder in Cierfs [Tschierv, M. C.] übergeben den 20. März, und der Landjäger Petter Clavadetscher schon am Morgens fruh sich nach dem Münster Thall begeben hatte für seine Tur zu machen. […] Unterthänigster Diener [/] Joh. Weber prov Landjäger.»256

Falls möglich wurden Papierlose zuweilen auch für weitere Abklärungen zum Verhörrichter nach Chur transportiert. Dorthin wurden sowohl ausgeschriebene Personen als auch einheimische Gefangene überbracht, welche die Gemeinden zur Verwahrung nach Chur in den Sennhof transportieren lassen wollten. Nach der Abklärung in Chur wurden ausgeschriebene nicht einheimische Personen wieder von Landjäger zu Landjäger bis zur Grenze des den Häftling in Empfang nehmenden Staats transportiert. Schliesslich gab es noch diejenige Gruppe einheimischer Gefangener, welche die Landjäger von Gericht zu Gericht transportieren sollten. Diese Variante war gewissermassen eine Fortsetzung der ursprünglich im Freistaat der Drei Bünde durch den Gerichtsweibel gehandhabten Praxis der vorrevolutionär-protopolizeilichen Gefangenentransporte. In diesem Zusammenhang kann das Beispiel des im Einleitungskapitel erwähnten Landjägers Michael Mutzner herangezogen werden: Der Aufruf zur Verhaftung des Jakob Anton Peterelli von Savognin sei, so Mutzner an den Verhörrichter, durch Landammann Rudolf von Planta und Kommissär Gilli erfolgt.257 Übernommen habe er Peterelli in der Wohnung des Doktors Andreas Bernhard in Zuoz. Nach Präsentation vor den Auftraggebern habe er den Gefangenen «beim Weißen Creüz auf dem Rathaus in beisein des L[and]Weibels» eine Nacht lang überwacht. Danach habe er ihn später «mit Begleit des Weibels beim Herren Gillj» zu Landammann Rudolf Biveron in Pontresina geführt. Letztgenannter habe ihm ein Schreiben an Landvogt Peterelli und an die Obrigkeit von Savognin gegeben, gemäss dem «sie disen mann bei Haus Halten sollen in betretungsvall mann disen auf ihrer Spesen Überlieferren werde».

Abschliessend gilt zu unterstreichen, dass die Landjäger für jegliche Art von Transporten, insbesondere bei Gefangeneneskortierungen, auf die Hilfeleistungen von freiwilligen Ortsbürgern, welche dann vom Kanton vergütet wurden, zählen konnten.258 Die Regelung hatte jedoch nicht absoluten Charakter, sondern war an die jeweiligen Gegebenheiten gebunden: In seiner Weisung an den in Splügen stationierten Landjäger Peter Clavadetscher etwa schrieb der Verhörrichter betreffend Gaudenz Mani, der «wegen Miteskorte über den Bernhardin-Berg bei Transportierung des Vidua und des Negro» behilflich gewesen sei, dass man demselben zwei Gulden zukommen lasse. Das Gesetz schreibe zwar vor, dass man Helfern in der Regel zehn Kreuzer pro Stunde ausbezahle, Mani jedoch erhalte wegen der schlechten Witterung den Sold für zwölf Stunden.259 Ein weiterer Beweis für die Relativität der gesetzlichen Bestimmung zeigt das Beispiel des Johann Sprecher. Der Verhörrichter liess den in Davos stationierten Landjäger wissen, was im Gegensatz zur Behandlung von verurteilten oder ausgeschriebenen Häftlingen bei einem Vagantentransport zu gelten habe: Es sei im Fall Sprechers, da es sich in den Augen des Verhörrichters offenbar um eine vergleichsweise kleine Gruppe handelte, «wegen zweÿ erwachsenen Personen und 2 Kindern wohl nicht nöthig [gewesen,] einen Gehülfen zu nehmen».260

2.5 Der polizeiliche Raumdiskurs

Die Auseinandersetzung mit der polizeilich definierten physischen Lebenswelt der Landjäger enthüllt eine eigene Lexik, die in ihrer Bedeutung und Eigentümlichkeit eine spezielle Betrachtung erfordert. Der Begriff Raumdiskurs wird im Sinne Foucaults als ein «sprachlich produzierter Sinnzusammenhang» verstanden, «der bestimmte Vorstellungen forciert, die bestimmte Machtstrukturen und Interessen gleichzeitig zur Grundlage haben und erzeugen».261 Die Diskursanalyse setzt mit anderen Worten bei der organisationsintern verwendeten Lexik an. Im Zentrum des Interesses steht die Suche nach dem Sinnzusammenhang, der sich hinter den mehrschichtigen Dimensionen der gewählten Begriffsgruppen versteckt.

Im Grunde genommen wäre das Zirkulationsund geografische Haupttätigkeitsfeld der Bündner Landjäger des frühen 19. Jahrhunderts schnell umschrieben: Es umfasste das ganze Kantonsgebiet. Insofern gab es, so wie es im polizeilichen Diskurs ganz allgemein und bis in die Gegenwart die Regel ist, keine wirklichen Verbotszonen, sondern nur das ganze Hoheitsgebiet. Damit ist jedoch bereits die erste Problematik angesprochen: die Privatsphäre. Sie konnte von der Polizei nur dann betreten werden, wenn sie durch hoheitliche beziehungsweise rechtliche Befugnis dazu aufgefordert wurde. Dies verdeutlicht, dass der polizeiliche Handlungsspielraum tatsächlich voll umfassend war, dass die Polizeibeamten jedoch Zonen eingeschränkten Rechts berücksichtigen mussten. Das Überschreiten einer festgelegten Grenze, welche in einem modernen Rechtsstaat durch eine gerichtliche Befugnis erfolgen kann, blieb im jungen und sehr föderalistisch geprägten Kanton Graubünden, in Abwesenheit zentralisierter Gerichte für die einheimische Bevölkerung und angesichts der erhaltenen starken Autonomie der Gerichtsgemeinden, de facto nur den lokalen Obrigkeiten vorbehalten. Primär steht hier deshalb die Umschreibung desjenigen Handlungsraums im Fokus, den die Landjäger ohne spezielle Verfügung zu durchstreifen und zu überwachen hatten.

Der Diskurs innerhalb der Polizeiinstitution konzentrierte sich erwartungsgemäss weniger stark auf die Beschreibung schöner Pässe und idyllischer Szenerien, wie sie in der damaligen Reiseliteratur anzutreffen war, 262 sondern interessierte sich vielmehr für die Schattenseiten der Landschaftstopografie. Die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Geowissenschaften manifestierende Unterteilung in sogenannte Aktiv- und Passivräume263 kann im polizeilichen Raumdiskurs als ein entgegengesetzten Vorzeichen unterworfenes Dichotomisierungsschema betrachtet werden. Passivräume waren hierbei nicht Zonen abwesender anthropogener Aktivität, sondern als Rückzugsort und Versteck diejenigen Territorien, in welchen die gesuchten oder ausgeschriebenen Personen am ehesten zu vermuten waren. Als Beispiele für die Rückzugsräume verdächtiger Personen können die zahlreichen Weisungen betrachtet werden, die der Verhörrichter den jeweiligen Landjägern bei einem bevorstehenden Postenwechsel zur Erinnerung weitergab. Dem in Mesocco stationierten Landjäger Joseph Sandriser etwa, welcher von Johann Baptista Bergamin abgelöst werden sollte, schrieb der Verhörrichter:

«[E]r [Sandriser, M. C.] hat denselben in seinem ganzen Bezirk herum zu führen, allen H[erren] Vorstehern vor zu stellen, den selben auf alle verdächtige Leüte aufmerksam zu machen, alle verdächtige Häuser, Schlupfwinkel, Ausörter zu zeigen, dann anher zu kommen.»264

Die hier anzutreffende Raumkonstellation ist schnell nachgezeichnet: Der Aktivraum oder eben der hauptsächliche Aufenthaltsraum der Gejagten ist der Passivraum des sich sittlich korrekt Verhaltenden beziehungsweise des im Kantonsgebiet Tolerierten.265 Diese räumliche Abgrenzung wird in den Begriffen «Ausörter» und «Schlupfwinkel» besonders klar erkennbar. Dabei suggeriert insbesondere letztgenannter Begriff eine Art Randzone, in die sich die Zielgruppe zurückzog oder eben (zurück) schlüpfte. Das Verb (sich zurück)schlüpfen verweist ganz allgemein auf die Vorstellung des Verborgenen und Versteckten, wodurch es sehr gut mit dem im Zitat zweimal auftauchenden Adjektiv verdächtig zusammenpasst und dieses verstärkt. Die Bezeichnung der Schlupfwinkel war im polizeilichen Raumdiskurs fest verankert und erfuhr auch in den Instruktionen eine Schlüsselrolle:

«Jeder Landjäger soll alle in seinem Bezirke befindliche verdächtige fremde, […] alle verdächtige Häuser, auch alle Ausörter, Schlupfwinkel, Feldküchen und Züge, wo Vaganten und Fremde gewöhnlich zu übernachten oder sonst zu lagern und zu gehn pflegen, möglichst auskundschaften, jede diesfällige Auskundschaftung sogleich dem Verhörrichter-Amt anzeigen, auch für sich, zur bessern Bezeichnung an die etwaigen Nachfolger, aufzeichnen. […Er soll] alle erwähnten Orte, auch Waldungen und Nebenstrassen, besuchen […].»266

Das Zitat zeigt, dass erwartungsgemäss nicht alle topografischen Bezeichnungen metaphorischen Charakters waren, dass aber selbst konkret interpretierbarere Begriffe wie «Waldungen» und «Nebenstrassen» das ständig anzutreffende Bild des Dunklen und Furchterregenden suggerieren. Dadurch verkam die vom polizeilichen Diskurs geprägte Topografie des Landjägerraums zum Credo der Polizeibeamten: Der gebrauchte Wortschatz führte zu einer Kodifizierung der Umwelt, die nach Unterscheidungskriterien wie Licht- und Schattenzonen gegliedert war und die Probabilität hinsichtlich des Ertappens von Zielgruppenpersonen ermöglichen beziehungsweise erhöhen sollte. Hierin zeigt sich die Machtkomponente des Diskurses, indem er definiert, was «als wahr oder falsch, normal oder anormal, dazugehörig oder ausgrenzbar zu gelten hat»267.

Deutlich wird, wie solch abgrenzende Betrachtungsweisen relativ einfach zu ideologischen Automatismen, das heisst zur Einteilung des physischen Lebensraums in abgestufte Gefahrenzonen führten: Den ablösenden Landjägern wurden die Rollen und die Raumgliederung mit den jeweiligen Konnotationen268 bei einem Postenwechsel in Form einer bereits vorgezeichneten mentalen Karte (der Instruktionsparagraf sprach ja bekanntlich von einem Aufzeichnen) präzise übertragen. Oberstes Ziel war die Reinhaltung des Bezirks vor unerwünschten Personen. Diese Richtlinie wird auch in den Landjägerrapporten manifest: Nachdem etwa der provisorische Landjäger Christian Grass d.Ä. im April 1834 Johann Webers Posten in Ponte übernommen hatte, berichtete er am letzten Arbeitstag desselben Jahres, dass er seinen «Bezirck vom Frömden Bätelgesindel zimlich Rein hab[e] jezt».269 Das Kantonsgebiet war in diesem diskursiven Kontext ein Raum, der unbeschmutzt sein sollte. In seiner kurzen Zusammenfassung zu den Verrichtungen des Landjägerkorps wurde dieser Aspekt vom Thusner Pfarrer Leonhard Truog (1760–1848) ganz besonders hervorgestrichen: «Die Landjäger sind […] in allen Gegenden des Cantons vertheilt [… und] säubern es […] von gefährlichem Gesindel.»270 Im bestmöglichen Fall sollten die dunklen Zonen ausgeleuchtet, von Schmutz befreit und auf die Dauer rein gehalten werden, so wie es Grass im Verlauf eines Dreivierteljahres durchgeführt zu haben versicherte. Die akzentuierten Dichotomisierungen von gut und schlecht, rein und unrein, sittlich und unsittlich, eingegliedert und randständig haben eine lange Tradition, die im sich konstituierenden bürgerlichen Rechtsstaat und dem damit verbundenen Instrument der Verwaltungssystematisierung und Datenerhebung zementiert wurden. Diese Gouvernementalität271 war jedoch nur aussagekräftig und auch für weitere Verwaltungsschritte anwendbar, wenn sie lückenlos war und keine Schattenzonen gewährte.

 

Auffallend ist in diesem Raumbefreiungsdiskurs die wiederholt auftauchende Symbolik von Jäger und Gejagtem. Dass es sich bei diesen Begriffen (die Landjäger trugen ihre Hauptverrichtung bereits im Namen) nicht um eine reine Metapher handelte, zeigt sich daran, dass unter Jagd die Verfolgung einer realexistierenden und in den Augen der Bürgergesellschaft durchaus als wild gesehenen Menschengruppe subsumiert wurde. Dieser Jagddiskurs ist seit Beginn des Landjägerkorps (1804) anzutreffen: «Die Landjäger fangen ihre Function mit einer allgemeinen Jagd auf das im Land befindliche Gesindel an, um selbiges, so viel möglich auf einmahl aus dem Land zu schaffen.»272 Die Spuren ebendieses Diskurses lassen sich bis in die Entstehungs- und Anfangsphasen moderner Polizeiinstitutionen zurückverfolgen. Auf dem Gebiet der Drei Bünde waren dies die berüchtigten Treibjagden, wobei der Vergleich der Menschengruppe mit Wild durch das Verb treiben noch verstärkt wurde. Bemerkenswert ist, dass bereits die Bezeichnung der ersten Bündner Protopolizisten (Harschiere) vom französischen Wort archer (Bogenschütze) stammt.273 Der Polizeibezirk ist in dieser Begriffswelt ein Jagdrevier beziehungsweise -land, wobei mit letztgenanntem Begriff wiederum auf die tendenzielle Ruralität des polizeilichen Zielraums verwiesen wird: Im Gegensatz zum Polizeijäger (Stadt Chur) oder zu den Weibeln in den Gerichtsgemeinden hatte der Landjäger seinen Blick in erster Linie auf die spärlich besiedelten Zonen, das heisst auf all die erwähnten Ausörter und Schlupfwinkel zu richten. Dass Kantone wie Zürich oder Bern nach Aufstellung des Landjägerkorps einen Teil desselben auch für die polizeiliche Tätigkeit im Stadtgebiet bestellten, war eine Folge des im Vergleich zu Graubünden wesentlich zentralistischeren Aufbaus dieser ehemaligen Alten Orte der Eidgenossenschaft, wodurch die Verwendung der Landjäger(bezeichnung) innerhalb der Stadtmauern kein vergleichbares Konfliktpotenzial barg. Es ist wohl unbestreitbar, dass der Name beziehungsweise die Idee des Landjägerkorps auf dessen ausserurbane Aktivitäten zurückgeführt werden kann. Dabei ist es für zentralistisch gesinntere Kantone wie Bern oder Zürich (und mit diesem Ansinnen sind die Anfang des 19. Jahrhunderts bestimmenden Eliten gemeint) nicht infrage gekommen, für das Stadt- und Landgebiet zwei verschiedene Namensbezeichnungen zu wählen. Die überproportional häufigere Verwendung der neuen Polizeibeamten auf dem Land dürfte in dieser Hinsicht wohl für die Namensgebung ausschlaggebend gewesen sein.

Zur Vervollständigung sei erwähnt, dass der Begriff Landjäger eine typische Bezeichnung für die Polizeibeamten der süddeutschen Länder und der deutschschweizerischen Kantone war. Wirsing hat am Beispiel des württembergischen Polizeiwesens exemplifiziert, dass dessen Umbenennung von Gendarmeriekorps auf Landjägerkorps im Jahr 1823 auf die damaligen Wünsche der liberalen, antifranzösischen Mehrheit zurückgeführt werden könne. Die Bezeichnung «Gendarmerie» sei mit der französischen, repressiven Geheimpolizei der Rheinbundära, welche «jedwede Politisierung und Formierung der Öffentlichkeit unterbunden hatte», assoziiert worden.274 Diese antifranzösische Haltung dürfte auch im Fall der eidgenössischen Kantone der Grund gewesen sein, bei der Gründung der Landjägerkorps nicht wieder auf die vorrevolutionäre, frankofone Bezeichnung Harschier zurückzugreifen.

Bei den erwähnten Aufenthaltsorten der verfolgten Personen konnte es sich, um zu den Bündner Verhältnissen zurückzukehren, sowohl um solche in der freien Natur (etwa Höhlen, Waldabschnitte oder Schluchten) als auch um verlassene Höfe oder Verstecke unter Brücken handeln. Der eingangs erwähnte Privatraum konnte, wenn er von Einheimischen als Schlupfwinkel offeriert wurde, ebenfalls zu dieser Verdachtszone gezählt werden. In diesem Zusammenhang genügt das kurze Beispiel des in Alvaneu Bad stationierten Landjägers Leonhard Fausch, welcher dem Verhörrichter im Herbst 1832 mitteilte, dass ein Deserteur von einem Einheimischen namens Paul Anton Heinz Unterschlupf erhalten habe und von diesem versteckt worden sei.275 Für die Überschreitung dieser spezifischen Raumgrenze bedurfte es jedoch der Einwilligung der jeweiligen lokalen Obrigkeit. Aus diesen Überlegungen wird ersichtlich, dass die polizeilich definierte Lebenswelt der Landjäger und ihr Arbeitsraum keineswegs nur mit Begriffen aus der konkret-physischen Umwelt umschrieben werden können. Durch ihre metaphorische Dimension verwiesen viele Begriffe des Raumdiskurses auf anthropogene Beziehungs- und Machtstrukturen des Gesellschaftssystems. Damit soll keinesfalls auf eine Einzelerscheinung in der Polizeigeschichte, jedoch auf die Eigentümlichkeit des polizeilichen Raumdiskurses im Allgemeinen verwiesen werden. Das sich durch Licht- und Schattenzonen hindurchziehende Spiel des Jägers und des Gejagten, das eigentlich gar keines war, lässt sich schliesslich, wenn auch oftmals in veränderten Kontexten, bis in die Gegenwart weiterverfolgen.276

Die zeitgenössisch-diskursive Praxis birgt noch weitere bemerkenswerte Aspekte. In vergleichsweise ruhigeren Zeitabschnitten taucht der Landjäger als eine Art Aufseher auf. Gemäss polizeilichem Raumdiskurs, der an einigen Stellen an das Vokabular eines Wildhüters erinnert, soll der Polizeibeamte neuralgische Zonen unter permanenter Aufsicht halten. Als der Landjäger Johann Weber den Posten im Oberengadin übernommen und kurz darauf dem Verhörrichter den Wunsch des Landammanns Curdin von Planta weitergeleitet hatte, Samedan als Unterkunftsort auszuwählen, liess ihn der Verhörrichter wissen, dass die beste Stationierung in Ponte sei, nämlich so, dass er von seinem Hause aus immerwährend freie Sicht zum Albulaberg habe.277 Hier fungiert der Polizeibeamte als Späher, der sein Territorium vor unerwünschten Eindringlingen freihalten sollte.

24 Das Oberengadin, um 1835. Aquatinta von J. J. Meyer, J. J. Sperli d.Ä. In der Reihenfolge ihrer Entfernung die Ortschaften Cresta, Celerina, Samedan, Bever und das am Fuss der Albula-Alpen mit dem Piz Kesch gelegene Ponte.

Dem Landjäger Georg Niggli, der sich 1830 für einige Zeit in Rongellen oberhalb der Viamala-Schlucht postiert hatte, wurde aufgetragen, «irgend in einem Haus an der Landstraße, Quartier zu nehmen, um auch wenn er zu Hause ist alles zu sehen, was paßiert».278 Das Quartier Nigglis erinnert in diesem Kontext an das Bild eines Jagdhochstands. Falls der Landjäger seine Hütte selbst bauen musste, wie der Verhörrichter dies dem kurzzeitig in Roveredo postierten provisorischen Landjäger Jan Gees vorgeschlagen hatte, 279 liest sich das wie eine in die Alltagspraxis umzusetzende Bestätigung dieser diskursiven Konzeption.