" Hoch Geachter Her Verhörrichter …"

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System

Interessant für die Untersuchung des Polizeiwesens ist weniger die Luhmann’sche Theorie der Funktions- als vielmehr diejenige der Organisationssysteme. Ihre Vorteile sind die wesentlich konkretere «Flughöhe» wie auch der weniger holistische Ansatz.

Als Ausgangspunkt für die Bildung jeglicher Art von sozialen Systemen verweist Luhmann auf die Komplexität der Welt.37 Diese steigere sich parallel zur Vermehrung von Beziehungen und Ereignissen, wobei dieselben nicht zwangsläufig geschehen müssten. Die Möglichkeit ihres Eintreffens allein genügt gemäss Luhmann schon, um den vom Menschen rezipierten Grad der Komplexität der Welt zu erhöhen. Vor diesem Hintergrund muss die Ausdifferenzierung von Systemen betrachtet werden. Dabei geht Luhmann vom «Prinzip der Ordnung aus Chaos» aus, wobei «Ordnung zufällig aus den vielen möglichen Handlungen und Beziehungen zwischen Handlungen in einer höchst komplexen und kontingenten Welt entsteh[e]». Infolge ständiger «Gefahr von Zusammenbrüchen und Unterbrechungen» steigere sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich die «Akteure an allem festhalten» würden, was «eine Verbindung und Fortsetzung von Handlungen ermöglich[e]». Entscheidend nun für die Bildung sozialer Systeme ist bezeichnenderweise, dass sie sich nicht durch Menschen, sondern allein durch Kommunikationen konstituieren. Menschen sind im Luhmann’schen Verständnis insofern nicht als (physische oder etwa materielle) Teile sozialer Systeme zu betrachten, durch ihr kommunikatives Handeln für deren Aufrechterhaltung jedoch unabdingbar. Dementsprechend ist die Kommunikation gemäss Luhmann das Grundelement sozialer Systeme. Sie wirkt sich sowohl bei der Bildung als auch bei der Fortentwicklung eines sozialen Systems konstitutiv aus, wodurch sich das System autopoietisch erhält. Damit ist gemeint, dass ein soziales System die «Elemente, aus denen es besteht, selbst produziert».38 Indem nun Personen durch ihr kommunikatives Handeln ein System im wahrsten Sinne des Wortes am Leben (mit-)erhalten, eröffnet sich für die Untersuchung einer Organisation wie dem Polizeiwesen ein überaus vielversprechender Ansatz. Damit kann nämlich die Gefahr umgangen werden, durch dem Kulturbegriff eine Grenze zwischen Personen zu ziehen und damit für einen Einschluss beziehungsweise Ausschluss von Kulturträgern zu sorgen, der selektiert und verallgemeinert. Wenn also vom Polizeisystem gesprochen und nach spezifischen Eigentümlichkeiten dieses Systems gefragt wird, beziehen sich die Antworten selbsterklärend auf das System und nicht direkt auf die Personen als Träger des Systems kraft ihrer Kommunikation. Umgekehrt ist von den Personen zu sprechen, wenn nach den Urhebern der Kommunikation, welche das System aufrechterhalten, gefragt wird. Das System jedenfalls entwickelt sich dem Luhmann’schen Theorieansatz folgend autopoietisch weiter und ist in seinem evolutiven Prozess durch verschiedene Arten sowie Aneinanderreihungen von Kommunikationen gekennzeichnet, welche die Personen zur Aufrechterhaltung oder Veränderung des Systems einbringen. Es erhält sich dementsprechend durch den «Sinn» der jeweiligen Kommunikationen (Sinn ist dabei nicht als in «sinnvoll» und «sinnlos» zu unterscheidender, das heisst als wertender Begriff zu verstehen39). Indem nun die Welt gemäss Luhmann ein «unermessliches Potential für Überraschungen» hat, 40 wird vergleichsweise schnell ersichtlich, weshalb die sogenannte Kontingenz in der Systemtheorie einen derart hohen Stellenwert erhält. Dieser Begriff nämlich deutet darauf hin, dass infolge Selektion (des Betrachters, des Rapportierenden, des Adressierten u. a.) alles so ist, wie es ist, aber «auch anders möglich» wäre. «Die Unwahrscheinlichkeit einer kommunikativen Operation» nämlich, so Luhmann ausführend, könne an den «Anforderungen» aufgezeigt werden, die «erfüllt» sein müssten, damit sie zustande kommt.41 Kommunikation sei eine «Synthese» aus den drei Selektionen «Information, Mitteilung und Verstehen». Dabei seien sämtliche drei «Komponenten […] in sich selbst ein kontingentes Vorkommnis». Umgemünzt auf den hier behandelten Untersuchungsgegenstand ist also beispielsweise danach zu fragen, was der damals rapportierende Polizeibeamte unterstrich (oder etwa verschwieg?), wie es der adressierte Verhörrichter verstand (oder allenfalls missverstand?), wie es der Historiker später verstehen kann (oder eher nicht sollte?) und so weiter. Die Kontingenz also entscheidet letztlich darüber, welche «ausgewählten Irritationen» welchen «Sinn von Information»42 erhalten. Hier nun wird die Brücke zum Luhmann’schen Evolutionsbegriff, welcher die Gesellschaft als «Resultat von Evolution» versteht, schnell erkennbar.43 Dieser Definition zufolge kann, wie Buskotte resumierend festhält, ein System «seine Umwelt nur in sehr begrenzter und reduzierter Weise erfassen».44 Mit anderen Worten können «Systeme nie auf ihre gesamte Umwelt ‹reagieren›», weil ihre «Autopoiesis immer nur auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Systemelemente ablaufen kann». Letztlich also entscheiden die jeweiligen «Systemstrukturen selbst», ob und welche «Störungen der Umwelt […] von einem System aufgenommen werden und zu einer Strukturänderung führen können», denn wie erwähnt kann ein System auch «indifferent oder empfindlich für Irritationen sein». Dadurch wird erkennbar, dass die Luhmann’sche Evolutionstheorie keineswegs in Verbindung zu bringen ist mit der «sozialdarwinistische[n] Interpretation im Sinn des survivals von Individuen»45. Vielmehr «folgt» die Evolution der Organisationssysteme «dem Entscheidungsbedarf und der Notwendigkeit, Entscheidungen zu kommunizieren, um die Ausgangspunkte für weitere Entscheidungen festzulegen».46 Mit anderen Worten entscheiden also die Systemstrukturen, ob und inwiefern eine (kommunizierte) Entscheidung zum System gehört und dieses fortentwickelt und verstärkt wird oder eben nicht. Mit fortschreitendem «Entwicklungsniveau» jedenfalls «produzieren» Organisationssysteme «Entscheidungen aus Entscheidungen», wobei der «jeweils verfügbare Bewegungsspielraum […] durch das Schema Problem/Problemlösung abgegrenzt» wird.47 Die für die Entstehung und Fortentwicklung eines Organisationssystems prägenden Entscheidungen sind letztlich an deren Normen (oder eben Erwartungen) gebunden, denn sie werden «durch eine Unterscheidung, nämlich durch Unterscheidung von Verhaltensmöglichkeiten im Enttäuschungsfall» bestimmt.48 Dieser Logik folgend spricht Luhmann unter dem Strich von einem organisierten System, in dem sich die involvierten Personen (Mitglieder) bei ihren Entscheidungen «nach den (innerhalb der Organisation änderbaren) Programmen des Systems, also nach den Rechtsnormen richten».49 Bezeichnenderweise nun kann es sich dabei innerhalb eines Polizeisystems sowohl um formelle als auch um informelle Normen handeln. Dies wird insbesondere unter Berücksichtigung der Alltagspraktiken erkennbar: Ökonomische Fragen, Gesundheits- oder auch Bildungsfragen spielten allesamt eine mehr oder weniger wichtige Rolle im Leben der Landjäger und determinierten unweigerlich ihr Handeln und ihre Kommunikationen. Diesbezügliche Entscheidungen hatten dementsprechend auch einen Einfluss auf die Fortentwicklung des Organisations- beziehungsweise Polizeisystems. Im Hinblick auf die Bedeutung der im Kapitel Kultur unterstrichenen, innerinstitutionellen Dichotomisierung (Leitungsinstanzen/Gesetzgeber und rangniedrige Polizeibeamten) spielt diese Komponente für die vorliegende Untersuchung eine erhebliche Rolle.

Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die umfassende Frage nach der Verdichtung und Wirkungsentfaltung von formellen und informellen Normen. Damit verbunden spielt die Frage nach der Systemstruktur eine überaus zentrale Rolle. Strukturen ergeben sich im Gegensatz zu den temporär-singulären Kommunikationen als Resultat längerfristiger (eingespielter) Operations- beziehungsweise Kommunikationsprozesse. Sie haben für Luhmann also nur insofern «Realitätswert», als sie «zur Verknüpfung kommunikativer Ereignisse verwendet» werden.50 Analog dazu verweist er auch bei den Normen darauf, dass diese «explizit oder implizit […] zitiert werden» müssen, um Gültigkeit zu haben. Auch der «Realitätswert» von «Erwartungen» schliesslich manifestiert sich für Luhmann nur insofern, als «sie in Kommunikationen zum Ausdruck kommen». Er spricht daraus folgend von einer «enorme[n] und primäre[n] Anpassungsfähigkeit des Systems im schlichten Vergessen, in der Nichtwiederverwendung von strukturgebenden Erwartungen». Wenn man also Strukturveränderungen «evolutionistisch» begreifen wolle, so Luhmann, müsse man sich davon abwenden, dass Strukturen etwas «Festes» seien:51 Strukturen würden «nicht abstrakt, nicht unabhängig von der Zeit» existieren, sondern sie würden «verwendet» oder «nicht verwendet». Entweder würden sie «durch Wiederholung in verschiedenen Situationen einen Sinnreichtum [konfirmieren]», oder aber sie würden «kondensieren» – wenn nicht gar vergessen werden. Übertragen auf das Polizeiwesen kann dies jegliche Art von formellen und informellen Normen betreffen. Bezeichnenderweise unterscheidet Luhmann gerade in der frühen Organisationstheorie explizit zwischen formaler und informaler Organisation. Diesen Sachverhalt aufgreifend fasst Drepper zusammen, dass die «Strukturqualität» sozialer Systeme «gradualisierbar» sei.52 Es gebe «schwach, mittel und stark formalisierte Sozialsysteme». Er unterstreicht, die «frühen Luhmannschen Überlegungen zu formaler Organisation» aufgreifend, im Weiteren die Tatsache, dass sich in einer Organisation insbesondere auch «das eher personen- und kleingruppenbezogene Agieren in informalen Ordnungen» strukturkonstitutiv und -erhaltend auswirke. Mitunter habe diese «informale oder auch spontane Kommunikation» für die Entstehung von Organisationsstrukturen einen normativ gesehen viel verdichtenderen und weitreichenderen Charakter «als die formale Ordnung». Für die Untersuchung der Kommunikationsflüsse innerhalb des Bündner Landjägerkorps und die damit verbundene Formation, Veränderung und Vergänglichkeit von Systemstrukturen jedenfalls scheinen gerade die letztgenannten Komponenten von besonderer Bedeutung zu sein. Eine wichtige Rolle spielt dabei die erwähnte Kontingenz und damit verbunden die Bedeutung der Beobachtung weiterer Ordnung. Entscheidend dabei ist nämlich, dass Kommunikationen (gerade wenn sie aufgrund von schriftlichen Rapporten und Weisungen rekonstruiert werden müssen) ständig von Färbungen, Weglassungen und Interpretationen beeinflusst werden beziehungsweise wurden.53

 

Macht

Angesichts des häufigen Vergleichs des Polizeikorps mit einem Apparat zur Durchsetzung der staatlichen Herrschaftsgewalt54 erweist es sich im Kontext der Bedeutung von Kommunikationen als fruchtbar, wenn ein gesonderter Blick auf den Aspekt der Macht geworfen wird. Gerade in der Diskurstheorie Foucaults tritt dieser Aspekt (im Sinne einer diskursiv entstandenen Struktur) an besonders prominenter Stelle auf. Der französische Philosoph spricht im Zusammenhang mit Diskursen «von einem diskontinuierlichen Auftauchen und Verschwinden kontingenter Formationen».55 Mit diesem Ansatz will er herausschälen, «welche Aussagen bzw. diskursiven Ereignisse sich jeweils zu einem Diskursfeld bündeln l[ie]ssen». Dabei bildet laut Kneer, der den Bezug zur Systemtheorie herstellt, das «diskursive Feld […] ein autonomes System, das auf bestimmte, strukturierte Weise Objekte konstituier[t], Äußerungstypen hervorbring[t], Begriffe situier[t] und Themen verwende[t]».56 Foucault unterscheidet zwischen «Äusserungen» und «Aussagen» und verweist auf die Tatsache, dass Letztgenannte im Gegensatz zu Erstgenannten wiederholbar seien.57 Indem nun Foucault, so Kneer, behaupte, «dass die Identität der Aussage durch strukturelle Zusammenhänge konstituiert» werde, 58 ergebe sich die «Konsequenz, dass Strukturen nicht als deskriptive Regelmäßigkeit, wie Foucault behaupt[e], sondern als beherrschende Wirkkräfte konzipiert w[ü]rden».59 Tatsächlich nimmt der Begriff der Macht in Foucaults Diskursanalyse eine zentrale Stellung ein. Greifbar wird er spätestens in seinem Werk «Wille zum Wissen»60. Im staatlichen Apparat samt den damit verbundenen Institutionen und Gesetzeswerken erkennt Foucault eine Kondensation von Machtverhältnissen, verweist jedoch auf die darin nicht enthaltenen sonstigen zahlreichen Orte der Machtausübung.61 Damit möchte er zwar nicht behaupten, «dass der Staat nicht wichtig sei», fügt jedoch umgehend hinzu, dass die Analyse der «Machtverhältnisse» sich nicht nur auf den Staat beschränken dürfe. Erstens nämlich sei der Staat «mit seiner Allgegenwart und mit seinen Apparaten […] recht weit davon entfernt […], das gesamte reale Feld der Machtverhältnisse abzudecken», und zweitens könne derselbe Staat «nur auf der Basis von schon zuvor existierenden Machtbeziehungen funktionieren». Ganz allgemein indes geht Foucault davon aus, «dass alle Handlungen innerhalb eines Machtnetzes» erfolgen würden und insofern «niemals in einem machtfreien Raum agiert» werde.62 Für dieses Verdikt der Omnipräsenz von Macht verweist Kabobel unter anderem auf Foucaults Feststellung, dass sich Macht «in jedem Augenblick und an jedem Punkt – oder vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt – erzeug[e]».63 Foucault interessiert sich daher nicht in erster Linie für diejenigen Bereiche, in denen Macht ganz offensichtlich eine zentrale Rolle spielt (dazu gehört auch das Polizeiwesen), sondern gerade umgekehrt für die Formation von Macht in den von der Forschung noch wenig fokussierten Handlungszusammenhängen. Obwohl diese radikale Sichtweise im Hinblick auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand durchaus problematische Aspekte beinhaltet, 64 muss auch auf die gewinnbringenden Eigenschaften der foucaultschen Diskurstheorie verwiesen werden. Dies etwa, wenn nach den diskursiven Praktiken der staatlichen Herrschaftsmächte – wenn von solchen Mächten, was noch zu klären sein wird, im jungen Kanton Graubünden überhaupt gesprochen werden kann – oder dem strukturbildenden Diskurs der Polizeibeamten hinsichtlich der staatlich verfolgten Randgruppierungen gefragt wird. Für innerorganisatorische Strukturelemente jedoch erscheint die Herausschälung von durch die Diskursanalyse gewonnenen Machtformationen nur in Teilen als angebracht, da das Polizeiwesen organisatorisch betrachtet auf Hierarchien und insofern auf nackten Machtgefällen basiert. Zu fragen wäre allenfalls, ob auch Machtformationen von unten aufgedeckt werden könnten – also, ob in der diskursiven Tätigkeit der rangniedrigen Polizeibeamten verdeckte Machtansprüche gegen oben herausgeschält werden könnten und ob diese sich dann auch als erfolgreich und strukturkonstituierend bezeichnen liessen. Es ist jedenfalls wenig ertragreich, die Diskurstheorie für die Herausschälung von Normen rein organisatorischer Art heranzuziehen – etwa zur Frage, welche Regeln des Umgangs mit Vaganten die Landjäger befolgen sollten –, denn entsprechende Normen waren kaum von verdeckten Machteinwirkungen beeinflusst.

Davon abgesehen bedarf der Begriff der Macht für die vorliegende Untersuchung ohnehin noch einer genaueren Erläuterung. Obwohl er bei Foucault zentral ist, hat der französische Diskursanalytiker keine eigentliche Machttheorie im Sinn einer kommunikativen Konstitution von Macht geliefert.65 Luhmanns Machttheorie ist diesbezüglich aussagekräftiger und insbesondere im Hinblick auf zu untersuchende Interaktionsformen der Polizeibeamten bedeutsam. Der deutsche Soziologe verweist auf die Bedeutung von «Unsicherheit» als «Machtquelle»: Macht könne als solche gespürt oder empfunden werden, wenn eine Person die Möglichkeit besitze, sie als «weitere Quelle von Unsicherheit» zu (miss-)brauchen.66 Mit diesem Ansatz möchte sich Luhmann, wie er gleich selbst festhält, von Machtbegriffen distanzieren, welche mit der «Referenz auf Kausalität oder auch Absichten (Willen etc.) des Machthabers arbeiten, so als ob auf diese Weise eine vorliegende Realität bezeichnet werden könnte».67 Zu einem «stärkeren» Machtbegriff gelange man, wenn das «Verhalten anderer» einbezogen würde. Dies könne «über Sanktionen geschehen», wobei die «Einschränkung auf Bewirkung des Verhaltens anderer […] einen Zugewinn an Macht» bedeutet.68 Bei dieser Machtform, die Luhmann als «Einfluss» bezeichnet und deren (Nicht-)Vorhandensein im kommunikativen Alltag der Polizeibeamten eine erhebliche Rolle spielte, unterscheidet er zwischen positiven und negativen Sanktionen. Während Erstgenannte ausgeführt werden müssten, sei dies bei Zweitgenannten nicht zwingend nötig. Insofern werde das «spezifisch politische[] Medium Macht» erst dann greifbar, wenn eine «Einflussform» zum Tragen komme, «die sich auf negative Sanktionen stütz[e]».69 Negative Sanktionen würden «über Drohung kommuniziert oder schlicht antizipiert». Damit sei eine «explizite[] Drohung» im Endeffekt gar nicht nötig. Negative Sanktionen seien also «negativ auch insofern, als das Medium, das auf ihnen aufbau[e], auf ihre Nichtbenutzung angewiesen» sei. An dieser Stelle wird der Vergleich mit einer Systemstruktur besonders gut erkennbar. Die Macht in der interaktiven Auseinandersetzung nämlich funktioniert gemäss Luhmann nur so lange, als es dem «Machthaber» unter den gegebenen Strukturen gelingt, «eine Alternative» zu konstruieren, die er selbst «nicht zu realisieren wünscht, die aber für ihn weniger unangenehm ist als für den Machtunterworfenen».70 Luhmann verweist hier beispielsweise auf die «Ausübung physischer Gewalt», auf die «Bekanntgabe einer unangenehmen Information» oder auf eine «Entlassung». Insofern funktioniert das «Medium Macht» nur, wenn «beide Seiten diese Vermeidungsalternative kennen und beide sie vermeiden wollen». Das Medium funktioniert «also nur auf Basis einer Fiktion, einer nicht realisierten zweiten Realität». Als Beispiel für eine solche Struktur verweist Luhmann bezeichnenderweise auf das Polizeiwesen: «Die Polizei darf erscheinen, aber sie sollte nicht genötigt sein zuzupacken.»71 In Anlehnung an Luhmanns Machttheorie interessiert im vorliegenden Zusammenhang also die Frage, inwiefern sich solche Strukturen aus dem Quellenmaterial rekonstruieren lassen. Im Fall nicht erkennbarer Machtpositionen der Polizeibeamten ist demgegenüber danach zu fragen, wie die gegebenen Strukturen vom oben genannten Zustand abweichen.

Zwischenfazit

Abschliessend kann zum theoretischen Teil festgestellt werden, dass die Systemtheorie mit ihrem Systembegriff im Vergleich zum Kulturbegriff erwähnter Kulturtheorien einen besseren Zugang zum Untersuchungsobjekt liefert. Hinter den Nutzen für die konkrete Quellenarbeit sind jedoch einige Fragezeichen zu setzen. So muss sich noch erweisen, ob die systemtheoretische Annäherung tatsächlich das theoretische Instrument liefern kann, um die Strukturen hinter den erhaltenen Kommunikationsprozessen herauszuschälen. Luhmanns Verweis auf die Beobachtung, die über die erste Ordnung hinausgeht, 72 ist dabei ein wichtiger Beitrag zu einer kritischen Beurteilung des Quellenmaterials, denn letzten Endes setzt ein polizeilicher Rapport frühestens bei einer Beobachtung zweiter Ordnung an, wodurch die Auseinandersetzung mit den Quellen bereits einer Beobachtung noch späterer Ordnung entspricht. Hier sind stets blinde Flecken im Spiel, und es müsste Luhmann, wenn seiner Theorie gefolgt würde, wohl Recht gegeben werden: Der Historiker und das Auswertungsmaterial kommunizieren auf einer neuen Ebene und bilden zusammen insofern ein eigenes System. Die Nützlichkeit dieser Perspektive kann tatsächlich hinterfragt werden, jedoch ist der davon abzuleitende Gedanke hilfreich: Demnach ist das Bild, welches in dieser Untersuchung vom Alltag der Bündner Polizeibeamten zwischen 1818 und 1848 konstruiert wird, erstens eine Folge der Kommunikation mit dem Quellenmaterial. Zweitens sind beziehungsweise waren in der Beobachtung immer nicht erkennbare oder unerkannte Aspekte im Spiel – sei dies eine tatsächliche Nichtbeachtung während der Beobachtung erster Ordnung, ein intendiertes Verschweigen nach der Beobachtung zweiter Ordnung oder etwa persönliche Interpretationen des Sachverhalts durch den jeweiligen Forscher bei der Beobachtung späterer Ordnung.

Für die vorliegende Untersuchung ist die Systemtheorie (gerade in Bezug auf die Erforschung eines Organisationssystems wie dem Polizeiwesen) insofern interessant, als sie die Perspektive nicht unilateral auf die Organisation im Sinne des Organisierens richtet, sondern die Organisation als System versteht, bei welchem sowohl normbedingte Entscheidungen (die Soll-Dimension) als auch die Entscheidungen der tatsächlichen Alltagspraktiken (die Ist-Dimension) konstitutiv wirken. Aus dieser Betrachtungsweise wird auch die Differenzierung, die Luhmann anspricht, erkennbar: Wenn sich die Grenzen des Systems durch die Differenz zwischen dem System und seiner Umwelt herausbilden, sind die Normen letzten Endes nichts anderes als die von den Leitungsinstanzen intendierten und somit kommunizierten Grenzen des Systems. Sofern sie strikt befolgt werden, bilden sie auch die reellen Grenzen desselben, andernfalls werden sie im Kontext der Alltagspraktiken gebildet, wobei die Palette möglicher Szenarien von der Duldung durch die Polizeileitung bis hin zu vollkommener Unkenntnis reichen kann. Infolge partieller Unterschiedlichkeit der Beobachtungen zwischen den Polizeibeamten muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass nicht von dem einen Polizeisystem gesprochen werden kann. Vielmehr bedarf es einer Auseinandersetzung mit der These, dass die Vielfalt an Beobachtungen je nach Beurteilung des jeweiligen Polizeibeamten auch unterschiedliche Definitionen der Systemgrenzen hervorruft. Ein besonderes Augenmerk muss deshalb den Definitionsräumen ausserhalb der von der Polizeileitung und den politischen Behörden bestimmten Grenzen eines sogenannten formalen Polizeisystems gewidmet werden. Hier nun könnte kritisiert werden, dass diese Betrachtungsweise wieder auf das alte Problem dessen zurückführt, was in Zusammenhang mit dem verallgemeinernden Begriff der Polizistenkultur ins Feld geführt wurde. Bezeichnenderweise aber akzentuiert die Systemtheorie mit ihrer Fokussierung auf die Unterschiedlichkeit der Beobachtungen und Kommunikationen gerade das, was dem Begriff der Polizistenkultur als immanente Allgemeingültigkeit und Starrheit anhaftet: So ist die Pluralität von Beobachtungen, Bewertungen und Kommunikationen schliesslich das, worauf sich die Systemtheorie konzentriert und der Grund, weshalb der Begriff der Evolution (als Gegensatz zu dem, was das Bild eines starren Konstrukts hervorruft) einleuchtet.

 

3 Polizei als System.

Vorgreifend kann die hier dargelegte Betrachtungsweise an einem konkreten Fall exemplifiziert werden. Dabei handelt es sich um den Umgang des Landjägers Michael Mutzner mit einem im Frühjahr 1830 von Samedan nach Savognin transportierten einheimischen Delinquenten namens Jakob Anton Peterelli.73 Auf die Frage des Verhörrichters, was der Landjäger in seinem Rapport unter dem Begriff des «gescheid [machens]» verstehe, 74 antwortete dieser:

«Betreff der Gescheidmachung des mich gefragt[en:] dieser [den Delinquenten, M. C.] hab ich zu Boden geschlagen und mit dem Stock gebrügelt biß er gesagt er wolle mir nichts wideriges mehr Machen; das heist gescheid gemacht und diß hat im gevelt.»75

Landjäger Mutzner sollte sich in der Auslegung seiner Definitionsmacht irren, denn der Verhörrichter liess ihn in seinem Antwortschreiben wissen, dass «er sich nie ohne höchste Noth an Leuten vergreifen sonst es gleich anzeigen soll[e]».76 Damit hatte Landjäger Mutzner die Grenzen des formal-normativen Polizeisystems klar überschritten. Systemtheoretisch betrachtet hatte Landjäger Mutzner sein Vorgehen als systemkonform betrachtet und sich offenbar innerhalb des formalen Polizeisystems gewähnt, sodass die Systemgrenze infolge Bestätigung der Auffassung vorerst wiederum ins System hineinkopiert wurde (und als Basis für weitere Beobachtungen/Unterscheidungen verwendet wurde). Die korrigierende Antwort des Verhörrichters jedoch sollte dafür sorgen, dass dem Landjäger Mutzner nochmals die richtigen, das heisst die geltenden formalen Systemgrenzen kommuniziert würden und sich der Fall aus der Sicht des Verhörrichters als Bestätigung ebendieser Grenzen erweisen sollte – diese Grenze also hineinkopiert wurde. In diesem Prozess sollte Sinn (hier die formale Norm, nur in höchster Not Gewalt anzuwenden) resultieren beziehungsweise unterstrichen und verdichtet werden.

Wenngleich sich die vorliegende Untersuchung nicht zum Ziel setzt, vorfindbare Kommunikationsprozesse derart technisch zu untersuchen, ist das Beispiel Mutzners gewinnbringend. Es legt dar, aus welcher Perspektive der Untersuchungsgegenstand betrachtet wird, und es steht insofern stellvertretend für zahlreiche Beispiele aus dem praktischen Polizeialltag. Der Fall verdeutlicht den ständigen Prozess (Evolution), in dem die Grenzen des Systems ausgelotet werden mussten und als dessen Folge sich auch Handlungsfelder sichtbar machen liessen, in denen von den Entscheidungsgremien nicht wirklich konkret-greifbare Grenzen vorgegeben werden konnten. Gerade der Blick auf letztgenannte Definitionsräume deutet darauf hin, dass Felder, bei denen auf den ersten Blick keine genuin polizeilichen Handlungen und Entscheidungen im Zentrum des Interesses standen (zu denken ist beispielsweise an Entscheidungen, bei denen landjägerbezogene Gesundheitsfragen zum Tragen kamen), tatsächlich zum sogenannten Polizeisystem gehörten. Denn letztlich handelte es sich hier um individuelle, das heisst aus der Alltagserfahrung für sich selbst definierte Normen, welche im Fall verbreiteter Aneignung innerhalb des Polizeikorps auch als informelle Normen bezeichnet werden können und die für die Bewältigung des Polizistenalltags in irgendeiner Form eine Rolle spielten. Normen folglich, ohne welche die Polizeibeamten sich das Überleben in der Polizistenfunktion im Hinblick auf die formal-normativen Richtlinien nicht vorstellen konnten. Im Zentrum der Frage nach den alltagsbezogenen Praktiken muss insofern immer die individuelle Auslegung der Definitionsmacht77 der einzelnen Polizeibeamten stehen, wobei diese keineswegs nur im Interaktionskontext zum Tragen kam.