" Hoch Geachter Her Verhörrichter …"

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Unter dieser zunehmenden Kontrolle wurden Aussagen, gemäss denen viele Landjäger Vaganten ohne Eintrag durch den Kanton und über die Grenze zurückgewiesen hätten,479 immer seltener. Mit dem einsetzenden Erfolg zwangsstaatlicher Säuberung rückten auch einheimische Bettler ins Blickfeld. Sie tauchen in den Amtsberichten im Lauf der Jahre unter der spezifisch-bürgerstaatlichen Kategorie der Bündner Bettler auf. Diese sollten je länger je mehr in die für sie zuständige Heimatgemeinde zurücktransportiert werden. Trotz allen überwachungsstaatlichen Erfolgen und Bemühungen aber konnten die Polizeigremien die angestrebte Komplettübersicht bis zur Jahrhundertmitte nicht erreichen. Daran gehindert wurde das staatliche System durch die autonomen Gerichte sowie durch die beschränkten finanziellen Mittel.


35 Übersicht über die beim Verhörrichteramt des Cantons Graubünden zur Kenntniß gekommenen Verbrechen und Vergehen, deren Thäter und endlicher Ausgang im Lauf des Jahres 1835, Chur 24. 6. 1836. Erste Seite.


36 Personalstatistik im Bündner Polizeisystem 1818–1848. Entwicklung des Landjägerkorpsbestands (rechte Achsenwerte) und der Anzahl durch die Landjäger transportierter Personen (linke Achsenwerte) seit Antritt des Verhörrichters (1818) sowie der Anzahl bekannt gewordener Verbrechen (linke Achsenwerte), die unter anderem durch die Landjäger gemeldet wurden.

Bis zu einem bestimmten Grad kann bei den Leistungsquoten ein gewisser Rückkoppelungseffekt festgestellt werden: Je mehr Fälle rapportiert wurden, desto einfacher konnte von den obersten Polizeibehörden der höhere Bedarf an Landjägern begründet und durchgesetzt werden. Ein vergrössertes Korps konnte dann wiederum mehr Personen festsetzen und erfassen. Besonders deutlich wird dieser Effekt bei der im Hinblick auf das neue Armengesetz erfolgten Anstellung der sechs provisorischen Landjäger.480 Dieses liess, wie dem Diagramm zu entnehmen ist, die Zahl der gemeldeten Bettlertransporte markant in die Höhe schnellen. Ob nun die von verschiedenen Landjägern berichtete ungenügende Befolgung des Armengesetzes für mehr Transporte gesorgt haben könnte, ist anzunehmen, jedoch kaum abschliessend nachzuweisen. Der in Scuol stationierte Landjäger Christian Grass d.Ä. jedenfalls schrieb 1841:

«[A]ls daß muß ich ihnen Mälden daß Arme Leüt zu mir gekomen sind, welche klagbar gegen ihrer Gemeinde sind, daß man ihnen keine unter Stüzung wolle zu komen laßen, sonderen Sie heiße Bätlen gehen. [/] ich hab es denen H. Comissärs angezeigt aber es wird wenig frucht bringen.»481

Dem sich mit ähnlichen Worten äussernden Landjäger Balthasar Kocher antwortete der Verhörrichter:

«[W]er sich zum 3ten Mal betretten läßt, kommt nach dem Gesez auf Kosten seiner Gemeinde ins Kantonal Arbeitshaus nach Furstenau. Dieses wird auf die Gemeinden und auf die Bettler selbst am besten wirken, daß sie das Gesez gehörig befolgen.»482

Obwohl die Anzahl einfliessender Informationen betreffend Wegschaffung fremder Bettler gegen die Jahrhundertmitte stark abgenommen hatte, blieb die Zahl der transportierten einheimischen Bettler auf konstant hohem Niveau oder stieg sogar nochmals an. Im Gegensatz zur gegenüber fremden Bettlern praktizierten Abschiebungspolitik liess sich die Lösung der einheimischen Vagantenfrage mit dieser simplen Taktik nicht bewerkstelligen. So schrieb der neue Polizeidirektor Janett im Juni 1849:

«Die Zahl der Bezirkslandjäger müsste auf das Dreifache erhöht werden, wollte man das Bettelwesen ganz unterdrücken und dann noch wäre es kaum möglich so lange das Hausiren mit Kleinigkeiten […] nicht ganz verboten ist. […] Das einzig wirksamste Mittel gegen diesen Krebsschaden ist, denselben in seinem Ursprung, in der Wurzel zu heilen. Die löblichen Gemeinden sollen für jeden hülflosen Armen soweit sorgen, dass ihm die Nothwendigkeit zum Bettel benommen ist […,] wodurch man überdies den unerlässlichen Vortheil wieder erlangen würde, dass die Landjäger ihrer eigentlichen Bestimmung für die Fremdenpolizei nicht mehr so sehr entzogen würden, als jetzt durch das beständige Betteljagen der Fall ist.»483

Die Bettlerfrage sollte mit der Entstehung des Bundesstaats und dem darauf folgenden Heimatlosengesetz von 1850 eine neue Ebene erreichen. In der Folge wurden alle als angehörig geduldeten Bündner, welche bis anhin an ihrem Ort nicht die vollumfänglichen Bürgerrechte besessen hatten, formalrechtlich eingebürgert.484

Das formal-normative Landjägerprofil

Im Zentrum des folgenden Kapitels steht die Frage, welchen sozialen Status die von den Leitungsgremien ins Landjägerkorps aufgenommenen Personen besitzen sollten. Insofern geht es darum, nach welchen Auswahl- und Aussortierungskriterien im Polizeisystem entschieden wurde. Wenn unter dem sozialen Status «die Position in der Sozialstruktur einer Gruppe, Organisation oder Gesellschaft» zu verstehen ist, 485 so entsprechen die erwähnten Auswahlkriterien sogenannten Indikatoren. Bildung beispielsweise kann als ein wesentlicher Indikator betrachtet werden, der in diesem Auswahlprozess zum Tragen kam.

Beim sozialen Status wird in der Regel zwischen erworbenem und zugeschriebenem Status unterschieden. In der Soziologie ist mit Letzterem derjenige Statustyp gemeint, um dessen Zuschreibung man sich nicht bemüht hat und den man in der Regel auch nicht von sich weisen kann. Zugeschnitten auf das formale Bündner Polizeisystem bedeutete dies: gross- oder kleinwüchsig, katholisch oder reformiert getauft, deutscher oder romanischer Muttersprache, Churer oder Engadiner und so weiter. Im Gegensatz zum zugeschriebenen Status verweist der erworbene Status auf diejenige Position, die man sich im Lauf des Lebens angeeignet hat: sprachversiert oder nicht, trainiert oder untrainiert, schulisch ausgebildet oder Analphabet und dergleichen. Wenn es in der Soziologie heisst, dass sich die beiden Statusarten zwar analytisch «vollständig» unterscheiden liessen, sie empirisch betrachtet jedoch «oft miteinander verwoben» seien, so lässt sich dies in Zusammenhang mit dem formal-normativ definierten Landjägerprofil relativ gut exemplifizieren.

Nun könnte aus einer kritischen Perspektive behauptet werden, dass ein von oben erwünschtes und vermitteltes Sollprofil wie das formal-normative Landjägerprofil nicht nach dem dualen Modell des erworbenen und zugeschriebenen Status betrachtet werden könne, da sich die Erforschung des sozialen Status in erster Linie mit dem Istzustand auseinandersetzt. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass das vermittelte Sollprofil in gewisser Weise Resultat beziehungsweise Auswahlprodukt aus den vorhandenen Istprofilen einer Gesellschaft ist.486 Anders gesagt orientiert sich das Sollprofil am Istzustand einer Gesellschaft. Dies wird im vorliegenden Zusammenhang nirgends besser ersichtlich als im ersten Satz des Regierungsprotokolls, welches am 30. Mai 1804 über die Aufstellung des ersten Landjägerpiketts berichtete:

«Beÿ Anlas der Rückkunft der Contingents-Compagnie glaubte man am Besten die tauglichen Subjecte zu finden, welche als Landjäger zu Reinhaltung des Kantons von Landstreichern aufgestellt werden könten.»487

Hieraus werden zwei zentrale Selektionsschritte ablesbar: erstens der Entscheid, die allerersten Landjäger aus dem Bündner Milizwesen zu rekrutieren, und zweitens die Auswahl der «tauglichsten Subjekte» aus dieser vorselektionierten Gruppe. Zudem wird noch eine Reihe weiterer impliziter Selektionskriterien ablesbar: Die Mitglieder der aus dem Bockenkrieg zurückkehrenden «Contingents-Compagnie» waren beispielsweise allesamt Bündner und konnten militärische Erfahrungen vorweisen. Entscheidend jedenfalls war, dass diejenigen Personen und Erfahrungswerte, die in einer Gesellschaft vorhanden waren, eine tragende Rolle spielten. Dem konnte sich die Auswahl bei einem noch so utopischen Sollzustand nicht entziehen. Es waren insofern mindestens ebenso sehr die ausgewählten Personen selber, die durch das Einbringen ihrer Fähigkeiten und Eigenschaften in einem langwierigen Prozess zur Konstitution eines Sollprofils führten. In dieser Entwicklung, die ihren Anfang mit der Aufstellung der Institution nahm, setzten sich die Promotoren des Sollzustands fortlaufend mit dem Istzustand auseinander und versuchten, sich mit ihm zu arrangieren. Dies ist die Überschneidungszone zwischen der formal-normativen und der alltagspraktischen Organisationsdimension. Der Kontakt war durch Annäherungs- und Entfernungsprozesse gekennzeichnet, denen auf beiden Seiten Widerstands- und Adaptionsphasen vorausgingen und folgten. Das anfänglich dünn geschichtete Landjägerprofil erhielt aus diesem systemimmanenten Evolutionsprozess immer klarere Konturen oder eben Grenzen. Dies wiederum führte zu einer kontinuierlich selbstsicherer auftretenden Polizeiinstitution mit einer immer dezidierteren Vermittlung des Sollprofils. Aus der Retrospektive problematisch ist, dass dieses zu eruierende formal-normative Landjägerprofil im Quellenmaterial nicht explizit in allen Facetten formuliert ist und gewisse Komponenten nur aus dem Istzustand beziehungsweise aus den Pluralitätsfaktoren der ausgewählten Korpsmitglieder abgelesen werden können. Dadurch sei wiederum die Dichotomie des zugeschriebenen und erarbeiteten Sozialstatus angesprochen, denn für die Beantwortung der vorliegenden Fragestellung sind beide Typen von entscheidender Tragweite. Bevor auf die konkreten Profilfaktoren eingegangen wird, soll anhand eines typischen Auswahlverfahrens, so wie es sich im Bündner Polizeisystem im Lauf der Jahre konstituiert hatte, der konkrete Handlungsrahmen aufgezeigt werden.

 

1 Auswahlverfahren

«Der Unterzeichnete, Vater von sieben kleinen Kindern, ohne Vermögen, ohne andere Aussicht auf Verdienst, um seiner zahlreichen Familie die fernere Erhaltung zu sichern, hat mehrere Jahre in Königl. Niederländischem Dienste gestanden.»488

Mit diesem Schreiben an den Kleinen Rat bat Christian Grass d.Ä. von Serneus im Prättigau um Aufnahme ins Landjägerkorps. Grass wusste von einer baldigen Vakanz, nachdem er in Erfahrung gebracht hatte, dass seinem Dorfgenossen, dem in der Einleitung dieser Untersuchung zitierten Landjäger Jakob Guler, die Entlassung aus dem Korps bevorstand.489 Dabei verwies er auf das Versprechen um Berücksichtigung im Fall einer neuerlichen Vakanz, welches ihm mehrere Jahre zuvor vom Kleinen Rat gegeben worden sei. Anlässlich der Ersatzwahl für die beiden Landjäger Jakob Guler und Joseph Bergamin (Letztgenannter war freiwillig aus dem Korps ausgetreten) schickte der Verhörrichter dem Kleinen Rat einen entsprechenden Vorschlag mit zwölf ausgewählten Kandidaten. Obwohl nun aber der Verhörrichter den Aspiranten Grass als potenziellen Landjäger taxiert und dessen Bewerbungsbrief mit der Notiz «vorgemerkt» versehen hatte, entschied sich die Regierung für zwei andere Bewerber: Gewählt wurden Hercules (Franz) Derungs d. J. von Camuns, gewesener «Korporal in Frankreich», welcher ordentlich schreibe und «Sohn eines der ältesten Landjäger» sei, nämlich Hercules Derungs d.Ä. Der zweite Günstling der Regierung war Johann Bärtsch von Seewis im Prättigau, welcher gemäss Verhörrichter rund 29-jährig und ehemaliger Wachtmeister in Frankreich war. Er solle «ein besonders verläßiger und verständiger Mann seÿn» und wurde vom Verhörrichter als oberster Kandidat aufgeführt und zusammen mit den drei folgenden Kandidaten dahingehend beschrieben, dass sie «alle vier schöne große Leute» seien.490

Etwas mehr als ein Jahr später, am 27. Mai 1832, wandte sich Grass wiederum an den Verhörrichter. Die dienstlose Zeit sei, so schrieb er, sehr hart und alles sehr teuer gewesen. Seitdem er entlassen worden sei, sei ihm alles sehr lang vorgekommen.491 Ob er damit den Söldnerdienst oder den Dienst bei Major Redolfi meinte, für den er vom Verhörrichter mit dem «Guthaben für 7. Wachten» entschädigt wurde, 492 ist nicht mehr rekonstruierbar. Weil er keine Antwort erhielt, wiederholte Christian Grass seine Bitte an den Verhörrichter.493 Tatsächlich hatte dieser seinen Namen doch noch nicht gestrichen: Einige Tage vor Eintreffen der letzten Bittschrift hatte er Christian Grass oder Christian Alig von Obersaxen als provisorischen Landjäger vorgeschlagen, falls der Kleine Rat die Stelle des freiwillig aus dem Korps tretenden Johann Baptista Bergamin von Obervaz durch einen der zwei provisorischen Landjäger (Johann Weber von Jenaz oder Johann Bäder von Mastrilserberg) besetze und damit die frei werdende provisorische Stelle zu beerben sei.494 Infolge Abgangs von Bergamin standen die Zeichen für den verzweifelten Christian Grass diesmal besser, denn er wurde zusammen mit Alig, dem vom Verhörrichter vorgeschlagenen Anwärter aus Obersaxen, provisorisch ins Korps gewählt.495 Als im darauf folgenden Dezember die Stelle des verstorbenen Landjägers Ulrich Maculin zu besetzen war, schlug der Verhörrichter für eine definitive Anstellung die provisorischen Landjäger Christian Alig und Jakob Clavadetscher vor. Grass figurierte zusammen mit seinem Namensvetter Christian Grass aus Klosters, der ebenfalls bereits provisorischer Landjäger gewesen sei, in der weiteren Auswahl.496 Der Kleine Rat nun aber entschied sich nicht für ihn, sondern für den Anfang des Jahres gemeinsam mit ihm zum provisorischen Landjäger bestimmten Christian Alig von Obersaxen, welcher zum Zeitpunkt der Wahl in Mesocco stationiert war.497 Dementsprechend stand Grass auch diesmal nicht in der Gunst der Regierung. Dies zeigt mitunter, dass die Stelle eines provisorischen Landjägers, welche Grass innehatte, keineswegs Kontinuität und Absicherung bedeutete. So scheint auch Grass nach seiner zeitlich befristeten Anstellung im Verlauf des Jahres 1832 wieder entlassen worden zu sein. Offenbar hat sich der Verhörrichter jedoch nach Eingang dieser kleinrätlichen Nachricht mit dem Entscheid zuungunsten von Christian Grass schwergetan, womöglich sogar nochmals ein später verschwundenes oder eliminiertes Bittschreiben oder einen Besuch des Bittstellers entgegengenommen. Jedenfalls beantragte er kurze Zeit später beim Kleinen Rat dessen neuerliche Aufnahme als provisorischer Landjäger. Tatsächlich teilte die Regierung später in einem Schreiben an den Verhörrichter mit, dass man auf seinen Antrag hin «den Eurerseits vorgeschlagenen Individuen Christian Grass älter von Serneus» wiederum provisorisch gewählt habe.498 Aus den diesem Schreiben beigefügten Notizen des Verhörrichters wird ersichtlich, dass Grass über seine Wahl am 17. Mai mündlich benachrichtigt wurde und am 20. Mai 1833 abends in Chur einrückte.499 Dieser Entscheid nun bewog den ebenfalls provisorischen, in Scuol stationierten Landjäger Jakob Clavadetscher, seinen Unmut zu äussern. Er habe «durch den Landjäger Deruns500 vernomen, dass der Grass von Kloster neüerdings» als provisorischer Landjäger aufgenommen worden sei, was ihn «verdrüsig machte».501 Clavadetschers Aussage indes ist insofern irritierend, als der gewählte Christian Grass bekanntlich von Serneus und nicht «von Klosters» stammte. Allerdings dürfte es sich bei der Reklamation um ein Missverständnis gehandelt haben, denn Clavadetscher war wohl davon ausgegangen, dass Christian Grass’ Namensvetter aus Klosters, welcher ebenfalls bereits provisorisch gedient hatte, gewählt worden war.502 Nach seiner Wahl jedenfalls dürfte Christian Grass d.Ä. von Serneus analog zu den meisten neuen Landjägern in oder von Chur aus verwendet worden sein. Zu dieser anfänglichen Lehrzeit in der Kantonshauptstadt gehörte insbesondere die Gefangenenüberwachung oder etwa die Erledigung kleiner Aufträge.503 Anlässlich der Anfang März 1834 erfolgten Ersatzwahl für die gesundheitsbedingt aus dem Korps ausgetretenen Christian Bantli und Stephan Clavadetscher schliesslich wurde Grass gemeinsam mit dem provisorischen Landjäger Jakob Clavadetscher definitiv ins Korps aufgenommen.504 Kurze Zeit später, im April 1834, trat er seinen ersten Laufposten auf dem Land an: Er löste Johann Weber auf dessen Posten im Oberengadin ab, wobei er Ponte als Mittelpunkt seines Bezirks wählte.505 Der abgelöste Landjäger Johann Weber wiederum sollte gemäss Antrag des Standeskassiers und angesichts der Wichtigkeit des Postens wegen stattfindender «Salzeinschwärzungen» den am Grenzzoll auf der St. Luzisteig stationierten Landjäger Joseph Maculin ersetzen.506 Grass verblieb nach seiner Wahl zum definitiven Landjäger mindestens bis im Frühjahr 1841 im Oberengadin, wobei der genaue Zeitpunkt eines Postenwechsels im Quellenmaterial nicht nachweisbar ist.507

Der langwierige Eingliederungsprozess bis zur definitiven Aufnahme von Christian Grass d.Ä. ins Landjägerkorps offenbart eine Reihe von Informationen, die sich zur Beantwortung der Frage nach dem formal-normativen Landjägerprofil als dienlich erweisen. In erster Linie wird ersichtlich, wie begehrt die kantonale Beamtenstelle für gediente Söldner war.508 Dabei spielte weniger die Identifikation mit diesem Beruf eine entscheidende Rolle als vielmehr ökonomische Gründe. Die kantonale Beamtenstelle mit sicherem Einkommen wurde von den Bewerbern als Ausweg aus einer misslichen Armutslage betrachtet. Die mehrfachen Bewerbungsschreiben des Christian Grass d.Ä. können hierfür als typisches Beispiel betrachtet werden, auch wenn er mit seinen sieben Kindern eine verhältnismässig grosse Familie zu ernähren hatte. Indes wurden diese Bewerbungen in der Regel nicht vom Aspiranten selbst verfasst, sondern von einer obrigkeitlichen oder sonstigen Referenzperson geschrieben, die mit dem Verhörrichter oftmals eine persönliche beziehungsweise informelle Beziehung pflegte. Die Bewerber erhofften sich, daraus Kapital schlagen zu können. So scheint auch die Anfang des Kapitels aus dem Brief Christian Grass’ zitierte Stelle indirekt auf einen solchen von einer dritten Person verfassten Brief hinzudeuten, da Grass darin unüblicherweise in der dritten Person und als «der Unterzeichnete» aufgeführt wird.509 Zuweilen begleiteten die Referenten ihre Schützlinge sogar zum Vorstellungsgespräch nach Chur. Dies wird beispielsweise aus einem neuerlichen Bewerbungsschreiben des oben zitierten Jakob Clavadetscher an den Verhörrichter ersichtlich:

«Ich neme mir die Freÿheit Hochzuverehrender Hr Baron, Sie zu erinnern das ich den 19ten März 1827 bei Ihnen, mit dem Hrn Général Graf von Salis, gewesen bin, um mich bei Ihnen um eine Landjägerstelle anzumelden.»510

Beim Referenten Clavadetschers handelte es sich bezeichnenderweise um Graf Franz Simon von Salis-Zizers (1777–1845), bis 1830 Generalmajor in französischen Diensten und gleichzeitig Schwiegervater des Verhörrichters, welcher mit seiner (von Salis’) Tochter Maria Josepha (1801–1845) verheiratet war.511 Analog zu Clavadetscher kann auch das Beispiel des Landjägers Johann Bärtsch herangezogen werden: Der im März 1831 als Ersatzmann für den entlassenen Jakob Guler gewählte Bärtsch wurde bei seinem Dienstantritt vom Verhörrichter aufgefordert, «im Herauskommen ein Zettelchen vom H. Grafen v. Salis Zizers beizubringen, daß er der Bärtsch seÿ, der sich durch H. besagter H. Grafen als Landjäger meldete».512


37 Graf Franz Simon von Salis-Zizers (1777–1845), undatiert. [Öl?] auf Karton von unbekanntem Künstler.

Aus den Vorgaben wird ersichtlich, dass sich die Anforderungen, gewissermassen analog zu den organisatorischen Richtlinien, innerhalb der harten Faktoren in drei wesentliche Gruppen unterteilen lassen: Erstens können die explizit gegen aussen vertretenen Anforderungen erwähnt werden, welche sich aus den entsprechenden Stellen in den Instruktionen ergeben. Zu einer zweiten Gruppe gehören die explizit gegen innen formulierten Anforderungen, welche innerhalb des Polizeisystems galten. Drittens müssen die implizit formulierten Anforderungen in die Untersuchung miteinbezogen werden. Hierbei handelt es sich um indirekte, das heisst nur aus dem Kontext herauszulesende Anforderungen, welche auf das Bild des formal-normativen Landjägers – gewissermassen als sich im Lauf der Jahre manifestierender common sense – konstituierend wirkten. An dieser Stelle kann festgehalten werden, dass die explizit gegen innen als auch die implizit formulierten Ansprüche ans Landjägerprofil mindestens genauso wichtig für dessen Zustandekommen waren wie die explizit gegen aussen formulierten, das heisst die in Instruktionen niedergeschriebenen Anforderungen. Nur mit den Kriterien aller drei Gruppen nämlich kann ein umfassendes formal-normatives Landjägerprofil als Teilbestand des von oben vermittelten normativen Polizeisystems skizziert werden.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?