" Hoch Geachter Her Verhörrichter …"

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Pensions- und Fondsfragen

Die Frage der Entschädigung von arbeitsunfähig gewordenen Landjägern, deren Invalidität erwiesenermassen mit dem Landjägerdienst in Zusammenhang stand, war ein entscheidender Faktor, als es um die Einrichtung von Fonds oder Pensionskassen ging. Der oben erwähnte Landjäger Niggli etwa hatte sich nach einem Zwischenfall im Engadin nie wieder richtig erholen können und starb ein Jahr nach dem Vorfall. Gemäss Dr. Paul Eblin habe der Landjäger seit mehreren Jahren «an Lungenschwindsucht gelitten», welche

«seinen ersten Ursprung und Wurzel […] in dem Umstand hatte, daß er bei Begleitung eines Delinquenten im Jahr 1828 bei sehr erhitztem Körper plötzlich in den Inn sprang um jenen, der ihm entkommen [war,] zu verfolgen. Plötzliche Erkältung, der längere Aufenthalt in naßen Kleidern, Schrecken und Aerger, wirkten damals zusammen um die Gesundheit dieses, so viel mit bekannt vorher gesunden Mannes für immer zu erschüttern und zu untergraben. [/] Auch ließen seine Dienstverhältniße, denen er bis in die letzten Zeiten oft über vermögen oblag, keine ordentliche und anhaltende Cur zu.»435

Der Zwischenfall habe Niggli, so der Verhörrichter an den Kleinen Rat, «ohne Zweifel» sehr zugesetzt, denn in der Folge habe sich sein Zustand fortlaufend verschlechtert, «so daß man ihn den ganzen lezten Winter durch höchstens zur Aufsicht im Arbeitszimmer des Zuchthauses verwenden konnte». Vom April bis zum 26. Juli 1832, dem Tag seines Hinschieds, habe Niggli «immer im Bett liegen» müssen.436 Der Verlust ihres Ehemannes schliesslich bewog die verzweifelte Witwe Elisabeth Niggli, die Regierung um einen Unterstützungsbeitrag anzufragen:

«Der Vollendete hinterließ nach seinem Tod, die Unterzeichnete seinen betrübte Wittwe – nebst zwei den Verlust ihres geliebten Vaters und Erziehers schmerzlich beweinende, unmündige Kinder, die bei der gegenwärtigen so verdienstlosen Zeit – ohne Unterstützung nur durch die Handarbeit ihrer Mutter ohnmöglich gehörig ernährt, gekleidet und beschulet werden mögen.»437

Der Verhörrichter schlug, dies alles berücksichtigend, dem Kleinen Rat das vor, was sich bis dahin als Richtschnur etabliert hatte:

«Man hält es daher für recht und billig wie selbe in andern Fällen auch statt hatte, der Hinterlaßenen Familie eine Unterstützung zukommen zu laßen. [/] Die Aussetzung einer Pension dürfte hier Lands nicht wohl angehen, auch ist dem Berichterstatter kein Beispiel davon bekannt.»438

Der Kleine Rat folgte auch diesmal der gängigen Praxis der Polizeileitung und liess der Witwe des Niggli einen einmaligen Unterstützungsbeitrag (zwei Monatssolde resp. 54 Gulden) zukommen.439 Ähnlich ging der Kleine Rat beim ebenfalls an Lungensucht erkrankten Korporal Joseph Casparin vor, welchem der Arzt Arbeitsunfähigkeit attestierte und nur noch einige Monate restliche Lebenszeit voraussagte:440 Ihm wurde für den Oktober 1839 ein ganzer Monatssold und für die restlichen zwei Monate des Jahres je ein halber Sold zugesichert.441

Trotz ähnlichem Vorgehen in den zwei erwähnten Fällen war in der Zwischenzeit mit der Einrichtung einer Pensionskasse ein neuer Lösungsansatz zustande gekommen. Mit einer entsprechenden Idee hatte sich der Standeskassier erstmals Ende 1834 an den Kleinen Rat gewandt: Auf die Praxis in «etwelchen Schweizerischen Mitständen» zielend, schlug er darin vor, einen Minimalanteil des täglichen Solds nicht auszuzahlen und stattdessen der Pensions- und Sparkasse für das Korps der Landjäger zufliessen zu lassen: «In jungen Jahren, wo manchmal keine oder doch meistens eine kleine Familie zu ernähren ist», so der Standeskassier, «fällt der Abbruch von nicht vollkommen 2 [Kreuzern] vom täglichen Sold wol nicht schwer.»442 Dadurch könnten gemäss seinen Berechnungen jährlich 420 Gulden und innerhalb von zehn Jahren über 4000 Gulden (den dazu gewonnenen Zins nicht miteingerechnet) in der Kassa angehäuft werden. Gemäss Punkt drei seines beigelegten Richtlinienplans sollte der Beitritt freiwillig sein. Dieser sei danach jedoch nicht widerrufbar. Für neu ins Korps eintretende Landjäger sollte der Beitritt zur Ersparniskasse hingegen obligatorisch sein. Gemäss Punkt fünf sollte jeder Landjäger beziehungsweise dessen Nachkommen bei Dienstaustritt oder im Todesfall die im Lauf der Jahre einbezahlte Summe samt dazugehörigem Zins ausbezahlt erhalten. Der vorgeschlagene Plan wurde ein Jahr später «nach reiflicher Prüfung» durch den Kleinen Rat gutgeheissen.443 In einem Zirkular an sämtliche Landjäger, mit dem diese ihre Teilnahme bestätigen konnten, hiess es dann:

«Durch dieser eingegebener Faßung von der Hohen Regierung genehmigten Plan ist jedem Beitretenden von Euch der Weg geöffnet, zur allmäligen und beinahe unmerklichen bildung eines Capitals, das Euch und den Eurigen in den jüngern Jahren Freude und Hoffnung, und bei herannahendem vielleicht hülflosen Alter, Trost und Unterstüzung gewähren kann. Auch werden Eure Obern nicht anders als mit wahrem Vergnügen den Entschluß derjenigen unter Euch vernehmen, welche durch ihren Beitritt das Streben nach Hebung des häuslichen Wohlstandes beurkunden.»444

In der dem Rundschreiben beigefügten Liste trugen sich sodann zahlreiche Landjäger ein, wobei darunter notiert wurde, dass der erste Abzug bei den beigetretenen Landjägern Ende Januar 1836 erfolgen würde. De facto indes war diese Ersparniskasse angesichts eines inexistenten Pensionsalters nichts anderes als eine gedachte Invaliden- oder Hinterbliebenenkasse, jedenfalls keine Pensionskasse für pensionierte Landjäger. Bezeichnenderweise hiess sie in anderen Kantonen denn auch ‹Invalidenkasse›, so beispielsweise in St. Gallen. Darin hielt der Artikel 2.b. fest, dass den Sankt Galler Landjägern hierfür monatlich 50 Rappen abgezogen würden.445 Diese Summe entsprach 1835 ungefähr 17½ Kreuzern, 446 also bedeutend weniger als die 60 Kreuzer der Bündner Landjäger.

In der Folge nun scheint die Einrichtung der Ersparniskasse den Erwartungen des Standeskassiers trotz allem nicht gerecht geworden zu sein. In seinem Amtsbericht für das Jahr 1843 berichtete der Verhörrichter von den altersschwachen Landjägern Hercules Derungs d.Ä. und Michael Mutzner:447

Ersterer sei «ganz gestabet, so daß er an einem Stecken gehen» müsse und auch wenig sehe und höre. Zweiterer sei «von jeher ein etwas verwirrtes, höchst eigensinniges Kapitel». Für den Dienst auf den Laufposten seien sie nicht mehr brauchbar, aber auch ihre gegenwärtige Verwendung zur Ueberwachung von «Züchtlingen» im Sennhof könne «seine bösen Seiten» haben, wobei auch ihnen selber damit wenig geholfen sei: «Es wäre wirklich unverantwortlich, jedenfalls sehr bedenklich (wegen zukünftigem Bekommen solider Leute für den Dienst) alte, treue Diener, wie sie altersschwach werden, ohne einige Entschädigung zu entlaßen, zumal wenn sie nicht vermöglich sind, welches bei beiden Genannten der Fall ist.» Die Frage gewinne an Bedeutung, da das Korps erst 1804 gegründet worden sei und die anfänglich aufgenommenen Landjäger «erst jezt nach und nach» ein höheres Alter erreicht hätten.448 Er schlage vor, die beiden Landjäger «ein für alle Mal mit einer aversal Summe [Abfindungs- bzw. Entschädigungssumme, M. C.] etwa ein Jahrgehalt» zu versehen, oder ihnen «bis zum Absterben eine kleine Pension, etwa ein Drittel der jährlichen Besoldung zukommen zu laßen». Um solche Missstände künftig zu vermeiden, habe man seit längerer Zeit an der «Errichtung eines Pensions-Fonds für unverschuldet Dienst untauglich gewordene arme Landjäger, wie auch für arme Wittwen und Waisen während dem Dienst mit Tod abgegangener» Polizeibeamten, zu errichten gedacht: «Da schon vor Errichtung der jetzt bestehenden Landjäger-Ersparnißkaße, der Wunsch und die eigentliche Absicht mehrerer Landjäger war, jährlich etwas Weniges zur Gründung eines solchen Fonds zurück zu laßen; andere mit der Art der dermaligen Ersparnißkaße nicht wohl einverstanden sind, sagend: daß es ihnen nicht conveniere [möglich sei, M. C.] Geld zu 4% anzulegen, zumal sie Schulden zu höheren Procenten hätten.» Deshalb sei die Sparkasse aufzulösen oder aber die Einzahlungsbestimmungen zu modifizieren. Anstatt die Landjäger an den Zollstationen sich immer mehr bereichern zu lassen (und die Schere innerhalb des Korps anwachsen zu lassen), könnten diese «alle Quartal [Gulden] ½ oder 1 [Gulden] zurück […] laßen», welche «dann bei einer Ersparnisskaße zinstragend anzulegen» seien. Ferner schlug er vor, «um zugleich die Aufmerksamkeit und Ordnung der Landjäger recht zu spannen, in Zukunft kleine Dienstvergehen mit Geldbußen von 3 bis 12 [Kreuzern] jedes Mal und bei Wiederholungen immer mit dem Doppelten zu belegen, (wie solche Bußen in Betrag von einer Krone hinsicht der Tourbücher bereits gesezlich angeordnet [seien])».

Wenn der Verhörrichter im Folgenden schrieb, dass «dann in gegebenen Fällen daraus Pensions-Beiträge für deren benöthigte Landjäger und deren Hinterlaßenen zu schöpfen» seien, so deutet dies auf die Devise hin, weniger im Sinn eines Gleichheits-, sondern eher eines Solidaritätsprinzips zu verfahren. Die Pensionskasse war nicht etwa ein Garant für eine objektiv kalkulierbare, feste Pensionsgeldsumme in ferner oder naher Zukunft, sondern ein Beitrag zum Wohl des Korps beziehungsweise der benachteiligten Landjäger. Der genuin sozialpolitisch geprägte Anstrich dieses Modells fand indes bei der Verhörrichteramtskommission vorderhand kein Gehör. Es wurde vorgeschlagen, die Landjäger Hercules Derungs d. Ä. und Michael Mutzner mit einer «Aversalsumme im Betrage einer halbjährlichen Besoldung [zu] entlaßen».449 Der Grund für die Aufschiebung der Frage dürfte darin gelegen haben, dass die Reorganisation des Polizeiwesens mit entsprechender Aufteilung des Verhörrichteramtes für die Kommission weit grössere Priorität hatte. So wurde die vorhandene Ersparniskasse beibehalten, ohne jedoch die bekannten Probleme zu beheben. Insofern hatte die Aneinanderreihung der mit der Frage des gesundheits- und altersbezogenen Dienstaustritts verbundenen Kommunikationen zwar eine Veränderung im formalen Polizeisystem bewirkt, nicht aber zur Einführung einer solidarischen Pensionskasse geführt. Das Verdikt wurde durch das Kantonskriminalgericht im ausserordentlichen Bericht zu Zuchthaus- und Landjägerkorpsfragen auch im Jahr 1846 nochmals unterstrichen, wobei insbesondere auf die schlechte Besoldung der Landjäger verwiesen wurde: «[Ein] bei unserm Landjägercorps sich kundgebender Uebelstand ist die kärgliche Bezahlung deßelben; diese ist so, daß der Mann, der einen großen Theil des Jahres auf touren sein muß, zwar wohl für seine Person nothdürftig auskommen, in keinem Fall aber für Weib und Kinder oder für das Alter und für kranke Tage etwas erübrigen und auf Seite thun kann. Hierin dürfte wohl der Hauptgrund der lausigen Erscheinung zu suchen sein, daß Landjäger neben ihrem Dienste noch andere zu demselben keineswegs paßende Arbeiten verrichten, wodurch ihrer Stellung, ihrem Ansehen und dem Dienste selbst nicht wenig Eintrag geschieht. Damit man ihnen nun dieses mit Billigkeit untersagen könne, wird einertheils eine kleine Solderhöhung, anderntheils die Einrichtung eines Unterstüzungsfonds für Dienstunfähige und im Dienst alt gewordene Land-jäger, deren Witwen und Weisen in Vorschlag gebracht.

 

Ein solcher Fond wäre wesentliches Bedürfniß und würde jedem in den Landjägerdienst Eintretenden eine höchst beruhigende Aussicht in die Zukunft gewähren.»450

Das Zitat exemplifiziert sehr anschaulich jenen Bereich, in dem Norm und Praxis frontal aufeinanderprallten. Es zeigt, wie die (wenn immer möglich) auf das formale System fixierte Polizeileitung für einmal eine Anpassung vornahm, nachdem sie sich sonst mit den Problemen des Landjägerberufs erst nach deren Eintreffen arrangierte. Die Polizeileitung setzte jedoch eher auf den Lernprozess der betroffenen Landjäger, als grundlegende Änderungen zu vollziehen. Retrospektiv scheint es klar, dass die Entscheidungsgremien die im Zitat beschriebenen Probleme ohne ein Hinterfragen der eigenen Position nicht zu lösen vermochten. Stolperstein in der ganzen Auseinandersetzung war eindeutig die Soldfrage, auch wenn dieses Problem in der Debatte rund um die Errichtung einer Pensionskasse mit Ausnahme des obigen Zitats ausgesprochen selten zur Sprache kam. Ohnehin war eine Lohnerhöhung ein äusserst seltenes Ereignis. So sind für die untersuchte Zeit (allerdings zu einem späteren Zeitpunkt als die angesprochene Debatte rund um die Ersparniskasse) lediglich zwei ausserordentliche Solderhöhungen nachweisbar. Dazu mag ein kleiner Exkurs für Klarheit sorgen: Wegen der anhaltenden Teuerung ersuchte der Polizeidirektor den Kleinen Rat Ende März 1847 um die Verlängerung dieser seit dem 1. Dezember 1846 laufenden und auf drei Monate festgelegten Solderhöhung451 um täglich vier Kreuzer, welche insbesondere wegen der gestiegenen Getreidepreise festgelegt worden war.452 Die Kleinratsprotokolle indes schweigen sich über diese Angelegenheit aus. Eine erste, gemeinsam verfasste und an den Grossen Rat gerichtete Petition für eine Solderhöhung erfolgte erst im Jahr 1852 – der Sold lag damals nach wie vor bei 54 Kreuzern für dienstniedrige Landjäger.453 Eine 1854 erfolgte, ähnliche Petition von Polizeidirektor Paul Janett an den Kleinen Rat um temporäre Solderhöhung wurde für die Dauer von drei Monaten gutgeheissen.454 Noch 1856, als das gesamte Korps an ebendiesen Polizeidirektor eine Petition um eine permanente Lohnanhebung richtete, lag der offizielle Sold bei 54 Kreuzern.455 Erst für das Jahr 1863 schliesslich ist ein Beschluss des Grossen Rates belegt, bei dem für den 1. Juli 1863 folgende tägliche Soldbeträge bestimmt wurden: Gemeiner Fr 1.90, Korporal Fr. 2.10., Wachtmeister Fr. 2.30.456 Man konnte also die Alltagspraktiken der Landjäger noch so stark zu beeinflussen versuchen, die Kreuzer und Gulden noch so oft wenden und drehen – angesichts des schwierigen Lebensstandes und der einschneidenden Ausgabekategorien war eine Pensionskasse bei gleichbleibender Haupteinnahmequelle nicht zu realisieren. Denn auch wenn diese Einrichtung für die Landjäger und ihre Familien längerfristig eine markante Erleichterung bedeutet hätte, tangierte der tägliche Abzug von zwei Kreuzern den gebeutelten Korpsanteil kurzfristig empfindlich. Die Führungsgremien dagegen hielten dessen ungeachtet an der Ersparniskasse fest. Es ist ein Paradox, dass deren Einrichtung gerade für diejenigen Landjäger, für welche sie gedacht war, eine Utopie blieb. Für andere war sie, wie das folgende Beispiel verdeutlicht, höchstens gut, um mit dem kumulierten Guthaben nach der Dienstentlassung einen Teil der Gläubigeransprüche zu befriedigen. Dem seit 1839 im Korps dienenden Landjäger Christian Juon aus Grüsch nämlich schlug der Verhörrichter Ende April 1846 vor:

«Nach Allem dürfte Juon wohl für unverbeßerlich zu halten und weil man sich in Nichts auf ihn verlaßen kann, am besten sein, ihn des Dienstes zu entlaßen, damit er jedoch allenfalls noch in Muhe einen anderen Erwerb suchen kann, sollte die Entlaßung auf den ersten Juni l[aufenden] J[ahres] festgesezt, auch, auf daß seine Gläubiger nicht zu sehr zu Schaden kommen, und sehen, wie das Möglichste für sie gemacht werde, seine Einlagen bei der Ersparnißkaße der Landjäger unter selbe pro Rata ihrer Forderungen vertheilt werden.»457

Selbstverständlich war die Schuldentilgung eine Form der nachdienstlichen Entlastung, womit der Solidaritätszweck in gewisser Weise auch erfüllt war. Dennoch muss die Frage gestellt werden, inwiefern ein solcher Fall nicht einen gewissen Widerspruch beinhaltete. Denn durch die regelmässigen Soldabzüge war das Problem der Verschuldung letztlich auch forciert worden. Seit seinem Eintritt ins Korps im Mai 1839458 hatte Juon ein Guthaben von 5154 Kreuzern beziehungsweise 85 Gulden 54 Kreuzern459 angesammelt. Mit anderen Worten hatte er ebendiese erarbeitete Summe während sieben Jahren nicht anderweitig verwenden können. Die Idee einer solidarischen Pensionskasse jedenfalls wurde auch nach der Jahrhundertmitte nicht realisiert. Die von solidarischen Prinzipien getragene Idee geriet mit wachsendem Abstand zur Einrichtung der Ersparniskasse und mit dem wachsenden Umfang des Eingesparten in Vergessenheit.460 Das Beispiel Juons zeigt noch eine weitere Facette: Es verdeutlicht, dass die Existenz einer Ersparniskasse aus Sicht der Polizeileitung sogar eine gewinnbringende Einrichtung sein konnte: Erstens wurden durch ihre Einrichtung die über lange Jahre hinweg ausgesprochenen punktuellen Unterstützungsbeiträge wie angedeutet je länger, desto hinfälliger. Die Einrichtung erleichterte zweitens – aus der Optik der Landjäger ebenfalls negativ zu bewerten – den Polizeigremien die Entscheidung, untaugliche Polizeibeamte aus dem Korps auszusortieren, erheblich. So war diese Einrichtung aus organisatorischer Sicht längerfristig betrachtet ein markanter Wendepunkt innerhalb des Polizeisystems. Denn wenn auch die kreierte Ersparniskasse vordergründig nur Geldfragen betraf, tangierte ihre Existenz in entscheidender Form die Frage nach dem erwünschten Landjägerprofil. Wo früher im Hinblick auf die perspektivlose Zukunft der Betroffenen und ihrer Angehörigen noch schlechtes Gewissen und Verantwortungsbewusstsein den Entscheid der leitenden Polizeigremien beeinflusst hatten, 461 konnte die Aussortierung untauglicher Korpsmitglieder mithilfe dieser Einrichtung einfacher begründet werden, sodass Landjäger, die eine normwidrige Entwicklung vollzogen hatten, nunmehr rigider und rascher entlassen werden konnten.

2.8 Kommunikation im Dienst des Monitorings

Der Informationsaustausch zwischen den Landjägern und dem Verhörrichter beziehungsweise Polizeidirektor erfolgte bekanntlich über weite Strecken mittels monatlicher Rapporte (Landjäger) und Weisungen (Verhörrichter bzw. Polizeidirektor). Die diesbezüglich überlieferten Quellen mit ihren darin enthaltenen Haupt- und Randinformationen bilden, wie in der Einleitung erwähnt, den zentralen Kern der vorliegenden Untersuchung. Ohne die tradierten Aussagen innerhalb dieses schriftlichen Kommunikationssystems, die glücklicherweise aufseiten beider Kommunikationspartner vorhanden sind, wären viele strukturgenetische und sozialgeschichtliche Aspekte des Polizeiwesens nicht mehr ergründbar.

Aus den Bestimmungen der ersten Instruktion wurde ersichtlich, dass in der Frühphase des Bündner Polizeiwesens, das heisst noch vor Einberufung des Verhörrichters als Leiter des Landjägerkorps, die lokalen Obrigkeitsmitglieder für die an den Kleinen Rat einzusendenden halbmonatlichen Rapporte zuständig waren.462 Es wurde bereits in verschiedenen Zusammenhängen erwähnt, dass die föderalistisch gesinnten Obrigkeiten insbesondere in der Frühphase des sich konstituierenden Kantons den ihnen auferlegten Zuständigkeiten nur sehr halbherzig oder überhaupt nicht nachkamen. Über den tatsächlichen schriftlichen Briefverkehr der institutionellen Entstehungsphase indes sind nur spärliche Informationen überliefert, was auch daran liegt, dass die an den Kleinen Rat eingesandten Rapporte früher oder später durch einen den damals gültigen Aufbewahrungs- und Aussortierungskriterien unterworfenen Prozess eliminiert wurden. Die Kontrolle und der Austausch von Informationen dürften angesichts der unkooperativen Haltung der Obrigkeiten entweder durch die eigenmächtige (und damit kostspieligere) Berichterstattung der Landjäger selbst, durch ihre Weitergabe von Informationen an den Korporal oder, im Fall der in Zentral- und Westbünden stationierten Landjäger, durch deren persönliches Erscheinen in Chur erfolgt sein. Obwohl sich das Korps zwischen dem Jahr 1804 und dem Antritt des Verhörrichters im Juli 1818 mehr als verdoppelt hatte, 463 waren die meisten Landjäger nach wie vor an den Zollstätten stationiert, weshalb sie sich kaum in Chur blicken lassen konnten. Die Bindung des Korporals an Chur – er war für die administrativen Verrichtungen und dann ab Errichtung des Sennhofs im Jahre 1817464 für den täglichen Betrieb des Zuchthauses zuständig – verunmöglichte diesen Übermittlungsweg, sodass die Landjäger über weite Strecken auf sich allein gestellt waren. Dieses Defizit war einer der Hauptgründe für die Einsetzung des Verhörrichters, eines eigens für das Korps verantwortlichen Leiters. Die Schaffung des Verhörrichteramtes war zugleich die Geburtsstunde einer neuen und flächendeckenderen Überwachungszentrale. Wenn schon der Kleine Rat kaum Zeit hatte, die Landjäger an ihre Pflichten zu erinnern, so wäre ein solches Monitoring vor 1818 eine regelrechte Utopie gewesen. Mit dem Ausbau des Polizeiwesens und der Einrichtung des Verhörrichteramtes jedoch entwickelte sich die systematische Erfassung jeglicher Art von Übersichtslisten und Zahlenkalkulationen zu einem wahren Kernthema modern-staatlicher Beamtendisziplinierung. Durch diese Instrumente erhielten die Landjägerrapporte eine ganz neue Bedeutungsdimension. Als Datenmaterial für den sich konstituierenden Überwachungsstaat waren sie samt den beigefügten Vagantentabellen und Signalementen465 sowie den daraus resultierenden Entscheidungen über weite Strecken überlebenswichtig. Ohne die regelmässigen Berichte über sich in den Provinzen abspielende Begebenheiten, Bevölkerungsströmungen und potenzielle Gefahrenzonen wäre die Überwachungs- und Entscheidungszentrale in Chur handlungsunfähig gewesen. Sie war auf eine möglichst konsequente und rasche Berichterstattung angewiesen. Kommunikation war insofern ein Zeichen und aus der Optik der Polizeileitung ein Beweis dafür, dass das System aufrechterhalten wurde. In der Regel wurden zu diesem Zweck monatlich, zwischenzeitlich aber auch halbmonatlich Rapporte per Postbote und ex officio nach Chur versandt.

Neben dieser schriftlichen Übermittlung konnten je nach Distanz auch mündliche Kommunikationswege zum Tragen kommen, welche entweder indirekt, das heisst mittels Nachrichtenübertragung eines ohnehin nach Chur patrouillierenden Landjägerkameraden, oder direkt durch den persönlichen Besuch beim Verhörrichter erfolgten. Letztere im Kapitel Mobilität eingehender behandelte Methode wurde von den Landjägern am Grenzzoll so gut wie nie praktiziert, sodass der Verhörrichter sie wegen seiner angeblichen Gebundenheit an Chur466 teilweise über Jahre hinweg nicht zu Gesicht bekam.467 Im Zuge des leitungsbezogenen Drangs nach systematischer Kontrolle spielte diese physische Begegnung gewissermassen eine duale Rolle – sie diente der Informationsbeschaffung ebenso wie der disziplinarischen Kontrolle. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das formal-normative Ziel des Polizeisystems im Endeffekt bei beiden Aspekten dasselbe war: Erst durch ein Maximum an disziplinierter Polizeipraxis konnte die modern-staatliche Datenerhebung entscheidend vorangetrieben und das Monitoring des Hauptauftrags realisiert werden. Nur sofern die Landjäger den Befehlen nachkamen, waren formal-normative Anpassungen überhaupt möglich. Die alljährlich weitergeleitete Berichterstattung der gesammelten Datenerhebungen an die obersten Polizeibehörden, den Grossen und Kleinen Rat, ist insofern ein Messinstrument für geleistete Polizeipraxis. Infolge der kontinuierlichen Zuständigkeitserweiterung gegenüber der einheimischen Bevölkerung geriet auch sie im Lauf der Jahre vermehrt ins Visier des Überwachungsapparats. Im Gegensatz zur Fremdenpolizei, die in erster Linie über geleistete Korrekturmassnahmen berichtete, durften Vergehen von Einheimischen in den meisten Fällen aber nur gemeldet werden. Eine Ausnahme bildeten diejenigen Fälle, in denen die Gerichte die Hilfe oder das Eingreifen der Landjäger explizit beansprucht hatten.

 

Der gesamte Datenerhebungsprozess eilte den politischen Entscheidungen betreffend hauptpolizeiliche Tätigkeitsfelder also gewissermassen voraus, wobei die kommunikativen Mittel zwischen Landjäger und Verhörrichteramt beziehungsweise Polizeidirektorium diesem Prozess entscheidenden Vorschub leisteten. Im seinem ersten Amtsbericht schrieb der neue Polizeidirektor Paul Janett:

«Ein Gesetz vom Jahr 1826[468] macht die löblichen Gerichts und Hochgerichtsobrigkeiten verbindlich, alle auf ihrem Gebiete vorgefallenen Verbrechen den Kantonspolizei- und Untersuchungsbehörden sogleich mitzutheilen, doch es wird leider dieser gesetzlichen Bestimmung äußerst selten entsprochen und wenn nicht die Landjäger dazu angehalten würden, alle zu ihrer Kenntniß gelangten Verbrechen und Vergehen einzuberichten, so würde deren bekannt gewordene Zahl wohl kaum den dritten Theil erreichen.»469

Der angesprochene Artikel von 1826 stützte sich auf eine Verordnung des Grossen Rates, ausgehoben aus der Proklamation des Kleinen Rates vom 27. Juni 1811, der Publikation vom 10. Oktober 1820 und dem Abschied vom 12. Juli 1824.470 In seinem Amtsbericht hatte der Verhörrichter zudem darauf verwiesen, dass die entsprechende Aufforderung Ende 1825 in der Churer Zeitung publiziert worden sei.471 Hierin zeigt sich auch der Ansatz der Kantonsbehörden, mittels des vergleichsweise neuen und wachsenden Mediums Zeitung ein grösseres Publikum und insbesondere auch nicht amtliche Kantonsbürger zu erreichen. Im Zeitungsinserat waren denn auch entsprechend «alle Löbl. Obrigkeiten und überhaupt […] Jedermann» eingeladen und aufgefordert,

«alle vorfallende Verbrechen und Vergehen [wie] Brandstiftungen, Einbrüch[e] und Beraubungen […sowie] alle vorfallende Verbrechen und Vergehen dieser Art sogleich und möglichst umständlich […] anzuzeigen, auf verdächtige, besonders etwa herumziehende Personen ein wachsames Auge zu haben, selbe im Betretungsfall zu ergreifen, und zur weitern geeigneten Verfügung wohlverwahrt anher [ans Verhörrichteramt, M. C.] zu liefern, auf der andern Seite aber auch boshaften Ausstreuern solcher Schreckensberichte sorgfältig nachzuspüren und dieselben zur Rechenschaft zu ziehen».472

Den einfachen Landjägern wurde bei dieser Aufrechterhaltung des Sozialdisziplinierungsapparats die zentrale Rolle zuteil. Sie waren, insbesondere im Hinblick auf die Fremdenpolizei, nicht nur deren Vollstrecker, sondern, und in diesem Fall immer stärker auch betreffend die einheimische Bevölkerung, ebenso sehr die Zulieferer für fichenähnliche Kontrollsysteme.

Ohne regelmässige Kommunikation wäre das Polizeisystem entweder ineffizient wie zu vorverhörrichterlichen Zeiten oder aber ganz zum Scheitern verurteilt gewesen. Dies mag das Beispiel verdeutlichen, in dem der Verhörrichter den in Poschiavo stationierten Mark Hartmann am 22. August 1826 um Erklärung betreffend ausgebliebene Rapporte für die vergangenen vier Monate ersuchte: Man wisse «gar nicht, ob er noch am leben seÿ, oder ob und wie er seine Pflichten erfülle». Er werde ermahnt, künftighin «vorschriftsmäßig am Ende jeden Monats seinen Bericht anher abzustatten».473 Wenn der Verhörrichter Landjäger Mark Hartmann wegen ausstehender Rapporte ermahnte, ging es nicht nur um den disziplinarischen Aspekt; in seiner Zentrale in Chur hatte er ohne die Rapporte der Landjäger keine Ahnung davon, was an den Aussenposten passierte, und ohne die Rapporte war auch die Abstimmung mit den anderen Landjägern betreffend regulative Weisungen unmöglich. Wollte der Verhörrichter dieses Überwachungssystem aufrechterhalten, so war er erstens daran interessiert, dass die Rapporte regelmässig eintrafen, und zweitens, dass die Landjäger ihm möglichst viele Informationen lieferten, die ihm die Übersicht sowohl über häufige Aufenthaltsorte, Gruppengrössen und die Wege, auf denen fremde Personen ins betreffende Gebiet eindrangen, als auch über verbrecherische Taten Einheimischer verschafften. Die Landjäger wurden nicht nur an der Erfüllung ihres Auftrags, dem regelmässigen Rapportieren, sondern auch an den konkreten Leistungen gemessen. Dass Verbrecherraten und Heimatlosen- sowie Vagantenintensitäten je nach Zeit und Ort sehr unterschiedlich ausfallen konnten, blieb unberücksichtigt. Den Landjäger Paul Haag, einen der Nachfolger Hartmanns in Poschiavo, ermahnte der Verhörrichter:

34 Tabellenvorlagen für aufgedeckte Verbrechen, erfasste Deserteure und Vaganten, Chur 24. 2. 1821.

«Uebrigens […] muß man leider ihm bedeüten daß man keine besondern Beweise von seiner Thätigkeit hat; denn über den Monat 7ber erstattete er keinen Rapport überhaupt fieng er im Ganzen sehr wenige und seit langer Zeit gar keine Vaganten […] auf und entfernte sie aus dem Kanton, welches in einem Gränzhochgericht wie Poschiavo [es] ist, gewiß bei einiger Thätigkeit öfters der Fall seÿn müßte, da schon hier mehrere Vaganten betretten wurden, die über Poschiavo herkammen.»474

Dieser Leistungsanspruch musste sich auf das Verhalten und die individuellen Praktiken der Polizisten auswirken. Es wird interessant sein, diesen partikulären Vorgehensweisen in den folgenden Kapiteln nachzugehen. Jedenfalls wurde, wiederum gemessen an den eigenen Ansprüchen, das polizeileitungsbezogene Monitoring im Lauf der Jahre immer effektiver.475 Betreffend Übersicht über vorgefallene Verbrechen auf Bündner Kantonsgebiet schrieb der Verhörrichter 1828:

«In Betreff der Mehrzahl der Unthaten darf man sich schmeichlen, daß selbe nicht von wirklicher Vermehrung der Verbrechen sondern von fleisigerer Anzeige derselben durch die Landjäger herrühre, und muß nur bedauren, daß dieses selbst beÿ wichtigen Unthaten noch immer selten von den Obrigkeiten geschieht.»476

Ein weiterer Teil der im Amtsbericht erwähnten Verbrecherzahlen stützte sich auf die am Kriminaltribunal behandelten Fälle. Innerhalb dieses kantonalen Gerichts, das 1808 errichtet worden war, bildete der Verhörrichter mit dem Gerichtspräsidenten und dem Schreiber die eigentliche Untersuchungsbehörde. Anfänglich zur Verurteilung fremder Verbrecher gedacht, wurde das Gericht zusehends auch von den Gerichtsgemeinden verwendet. Dies geschah insbesondere dann, wenn ein Einheimischer ausserhalb seines Gerichts delinquent geworden war und die für ihn zuständige eigene Gerichtsgemeinde sich durch die Übersendung nach Chur eigene Gerichtskosten und Organisationsumstände ersparen konnte. Mit der Revision des Kriminaltribunals im Jahr 1823 erhielt diese Praxis ihre gesetzliche Grundlage.477 Der Transport der einheimischen Verbrecher nach Chur erfolgte teilweise durch die dafür beauftragten Landjäger, teilweise aber auch durch die jeweiligen Gerichtsweibel. Eine extreme Variante dieses ganzen bürokratischen Datenerhebungsprozesses ist in einem der Amtsberichte des Verhörrichters in Form minuziös dargestellter Tabellen erhalten geblieben.478 Als Verbrechen wurden Fälle erfasst, welche zuweilen auch ganze Gruppen umfassen konnten. Dabei beinhaltete diese Kategorie sämtliche Arten von Delikten, beginnend beim kleinen Diebstahl und endend bei Mord und Totschlag.