Politische Ideengeschichte

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Republiken sind Reinen Demokratien im Hinblick auf die Kontrolle der Auswirkungen von Mehrheitsfaktionen weniger aufgrund der Institution der Repräsentation überlegen, sondern aufgrund der Größe des Territoriums und der Anzahl der Bürger, die jeweilige Staaten umfassen kann. Der letzte Argumentationsschritt des Federalist Paper Nr. 10 wendet diese Einsicht analog auf Republiken selbst an: Große Republiken können die Bildung von Mehrheitsfaktionen und deren partikularistische Machenschaften besser als kleine Republiken hemmen (P26).

4. Möglichkeiten und Grenzen des analytischen Ansatzes

Der analytische Interpretationsansatz erlaubt es, die Argumentation des Federalist Paper Nr. 10 durch die Analyse dessen, was wörtlich im Text ausgesagt ist, zu rekonstruieren. Die Interpretation geht über eine textimmanente Klärung der Aussagen und deren argumentative Anordnung nicht hinaus. Während hier einige Stellen übersprungen und Begriffsklärungen weggelassen werden mussten, kann man sich das Ergebnis einer vollständigen analytischen Interpretation des Federalist Paper Nr. 10 ohne allzu große Vereinfachung als eine prägnantere, genauer formulierte, klarer strukturierte – und damit aus analytischer Sicht: bessere – Version des Texts vorstellen. Wenn die textimmanente Klärung der Aussagen des Federalist Paper Nr. 10 und deren argumentativer Anordnung richtig und vollständig durchgeführt wurde, gäbe es aus analytischer Sicht keinen Grund, weshalb Studierende sich überhaupt noch den Originaltext vornehmen sollten – es sei denn zum Zweck der Einübung des analytischen Ansatzes.

Durch den Fokus auf die Argumente eines Texts bereitet der analytische Ansatz die weiterführende theoretische Reflexion über Politik sehr gut vor. Er hilft uns Argumente zu identifizieren, die wir in heutige Diskussionen z. B. über die Vor- und Nachteile von direktdemokratischen und repräsentativen Mechanismen einbringen können. Auch lädt er dazu ein, im Rahmen einer systematischen Diskussion die im Text vorgebrachten Argumente auf Plausibilität zu prüfen, weiter zu entwickeln oder zu modifizieren. Um den in Argument 2 vorgebrachten starken Zusammenhang zwischen unreguliertem Eigentumserwerb und Demokratie (bzw. freiheitlicher Ordnung) zu untermauern, könnte beispielsweise auf Robert Nozicks Anarchie, Staat, Utopia zurückgegriffen werden. John Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit böte sich dahingegen für eine Entgegnung an.

Bei der Analyse eines Texts kommt man kaum um den analytischen Interpretationsansatz umhin. Die meisten anderen ideengeschichtlichen Interpretationsansätze zielen dementsprechend auch auf die Aneignung des argumentativen Inhalts eines Texts ab. Allerdings wird sich in den folgenden Kapiteln zweierlei zeigen: Erstens wird weniger Wert auf eine akribische textimmanente Analyse des Aussagegehalts, der Begriffe und Argumente gelegt. Zweitens wird in der textimmanenten Analyse nur ein erster Analyseschritt gesehen, dem andere, nicht textimmanente Analyseschritte folgen müssen, um die Bedeutung des Texts wirklich zu verstehen. Es wird also davon ausgegangen, dass der analytische Ansatz allein unzureichend für eine adäquate Interpretation ist.

Eine Grenze des analytischen Ansatzes, die hinsichtlich des Federalist Paper Nr. 10 ins Auge springt, ist die (willentliche) Ignorierung von Rhetorik. Von den stilistischen Mitteln, mit denen ein Autor seine Leser für seine Ansichten zu gewinnen versucht, wird bei der analytischen Rekonstruktion der Argumente ja abstrahiert, aber die Argumentation des Federalist Paper Nr. 10 lebt nicht zu geringem Anteil gerade davon, dass der Text ein rhetorisches Meisterwerk ist. Am Deutlichsten zeigt sich dies vielleicht durch den rhetorischen Ausschluss von alternativen Lösungsmöglichkeiten: Das Problem der Faktionen könne nur über die Ursachen oder Wirkungen gelöst werden – wieso aber sollte es unmöglich sein, an den Faktionen selbst anzusetzen und beispielsweise bestimmte Arten von Faktionen (die z. B. verfassungsfeindliche Positionen vertreten) zu verbieten?9

Damit verbunden ist eine zweite Grenze, nämlich die Nichtberücksichtigung des historischen Kontexts. Warum machte sich Madison die Künste der Rhetorik zunutze und bemühte sich nicht, seine Argumente maximal klar und transparent zu präsentieren? Nun, wahrscheinlich weil er überzeugen wollte, und zwar weniger das Tribunal der universellen Vernunft, als vielmehr konkrete Zeitgenossen – eben jene, die im Staat New York über die Annahme oder Ablehnung des Amerikanischen Verfassungsentwurfs zu entscheiden hatten. Die Betrachtung dieser Motivation zur Abfassung des Texts beeinflusst die Interpretation maßgeblich. Es wird ersichtlich werden, dass der letzte, marginal wirkende Argumentationsschritt, in dem analog große Republiken gegenüber kleinen bevorzugt werden, der entscheidende ist. Gegner der Amerikanischen Verfassung (die Anti-Föderalisten) hatten nämlich argumentiert, dass die Schaffung einer föderalen Republik der Vereinigten Staaten von Amerika aufgrund ihrer Größe zum Scheitern verurteilt sei. Madison widmet sich dem Problem der Faktionen deshalb wohl weniger, weil er sich für das „überzeitliche“ politiktheoretische Problem der Faktionen interessierte, als mehr deshalb, weil er so ein Argument für eine möglichst große Republik auf dem Amerikanischen Kontintent konstruieren konnte. Entscheidend ist, dass sich durch die Miteinbeziehung des historischen Kontexts das Verständnis der Leitfrage des Texts verändert. Anstatt der Frage, wie das Problem der Faktionen gelöst werden kann, wird untersucht, was für die Ratifizierung des Verfassungsentwurfs spricht. Im Federalist Paper Nr. 2 – das ebenfalls unter dem Pseudonym Publius veröffentlicht, wenngleich von John Jay geschrieben, wurde – gibt es bezeichnenderweise gar kein Problem der Faktionen. Amerika, heißt es dort, bietet optimale Voraussetzung für eine vereinte Union, weil es „ein vereintes Volk [hat] – ein Volk, das von denselben Ahnen abstammt, dieselbe Sprache spricht, sich zu demselben Glauben bekennt“, etc.10

Die Konzentration auf den isolierten Text in seinem Wortlaut kann also dazu führen, dass wir zwar verstehen, was im Text geschrieben steht, aber nicht, welche Sicht der Text im historischen Kontext legitimiert hat und worum es dem Autor eigentlich ging. Wenn das Plädoyer für eine große Republik, wie gesagt, gar nicht die Schlussfolgerung einer zunächst ergebnisoffenen Untersuchung über das Problem der Faktionen, sondern von vorneherein der Zweck des Federalist Paper Nr. 10 war, fragt sich, was das Plädoyer für eine große Republik letztlich motivierte. Charles Beard, der das Federalist Paper Nr. 10 als einer der ersten aus ideengeschichtlicher Warte interpretierte, argumentiert z. B., dass sich Madison von der Ratifizierung der Amerikanischen Verfassung vor allem die Festigung der ökonomischen Oberklasse erhoffte.11

Ein anderes Beispiel als das Federalist Paper Nr. 10 macht die Gefahr des Missverständnisses der Bedeutung eines historischen Texts, die dem analytischen Ansatz immanent ist, noch deutlicher. Wie allgemein bekannt ist, wurde Galilei von der Römischen Inquisition zum Widerruf seines Dialogo über das ptolemäische und das kopernikanische Weltbild aufgefordert, der einen Beweis dafür zu liefern beansprucht, dass sich die Erde um die Sonne bewegt. Galilei widerrief vor Gericht, doch glaubten schon damals nur die Wenigsten, dass er dies aus eigener Überzeugung tat. Gemäß einer Legende soll Galilei deshalb beim Verlassen des Gerichtsgebäudes gemurmelt haben „… und sie bewegt sich doch“. Dem analytischen Ansatz folgend dürfte man aber streng genommen weder die historischen Umstände (Gerichtsprozess) noch die Rezeption (Legende) mit einbeziehen, und müsste die Interpretation auf das beschränken, was tatsächlich im Text, bzw. den Texten (dem Dialogo und der Widerrufserklärung) steht. Als das „letzte Wort“ Galileis zum kopernikanischen Weltbild müsste dementsprechend die Aussage der Widerrufserklärung gewertet werden: „Die Erde bewegt sich nicht“.

Die willentliche Außerachtlassung des historischen Kontexts und das Desinteresse an den eigentlichen Intentionen des Autors kann selbst für die richtige Erfassung der Argumente eines Texts ein Hindernis darstellen.12 Dies zeigt sich besonders deutlich im Hinblick auf den Schritt der Klärung von Begriffen, die im Text selbst nicht eindeutig definiert werden. Wenn Begriffe textimmanent unterbestimmt sind, dann verleitet der analytische Ansatz aufgrund des Verzichts auf kontextualistische Analysestrategien dazu, sich bei deren Verständnis an heutigen Wortverwendungen zu orientieren. Da der Begriff „Parteien“ im Federalist Paper Nr. 10 nicht näher bestimmt ist, wird man dem analytischen Ansatz folgend nicht davor geschützt, sie im heute dominanten Sinn als verfassungskonforme Instrumente des demokratischen Systems zu verstehen, die von partikulären Interessensverbänden unterschieden sind (die deutsche Parteienrechtskommission hielt so z. B. 1957 fest, dass die „Tätigkeit der Parteien … dem Wohle des ganzen Volkes [dient]“13). Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Begriff der Partei hingegen beinahe entgegengesetzt als Verschwörung gegen das öffentliche Wohl verwendet. Es darf als wahrscheinlich gelten, dass Madison eher von diesem als dem heutigen Verständnis von Parteien ausging.

Der Verzicht auf methodische Mittel, die historische Bedeutung eines Texts zu verstehen, spricht noch nicht gegen den analytischen Interpretationsansatz, da es seinen Anwendern ja um eher philosophische als historische Einsichten beschaffen sein kann. Insofern es um die Bergung von theoretischen Werkzeugen geht, spielt es eigentlich keine Rolle, ob der Autor eines Texts wirklich dieses und nicht eigentlich ein ganz anderes Werkzeug entwickeln wollte. Unerfreulich ist eher, dass die theoretischen Werkzeuge, die die Autoren in ihrem historischen Kontext eigentlich entwickelten, für uns heute spannender sein könnten. Auch mag die Gefahr der fälschlichen Zuschreibung von Aussagen und Argumenten gegen analytische Ansätze vorgebracht werden. (Eine kontextuelle Interpretation könnte unter Umständen zeigen, dass das Argument X gar nicht aus dem Text des Autors Y stammt, sondern erstmals im Kommentar des Interpreten Z vorgebracht wurde.) Schließlich muss eingeräumt werden, dass eine Untersuchung mit dem analytischen Ansatz ihrem Anspruch nicht völlig gerecht werden kann, da eine vollkommen textimmanente Interpretation stets unmöglich bleiben muss. Abgesehen davon, dass für eine textimmanente Interpretation die Kenntnis der Sprache, in der der Text vorliegt, nötig ist, werden Interpreten immer eine Reihe von weiteren Vorkenntnissen über den historischen Kontext mitbringen, die bewusst oder unbewusst die Interpretation des Texts beeinflussen werden.

 

1 Das philosophische Methodenbuch von Damschen und Schönecker stellt eine der wenigen Einführungen dar, die den analytischen Interpretationsansatz immerhin zu rekonstruieren ermöglichen. Sie selbst erachten den analytischen Interpretationsansatz allerdings nicht als tragfähig und empfehlen bei der Interpretation von Texten in synkretistischer Manier auf text-, autor-, adressaten- und selbst leserzentrierte Interpretationsstrategien zurückzugreifen. Siehe: Damschen, Gregor und Schönecker, Dieter. 2012. Selbst Philosophieren. Ein Methodenbuch. Berlin: De Gruyter.

2 Zentrale Figuren waren dabei unter anderem Thomas D. Weldon, Margaret Macdonald, John Plamenatz und Anthony Quinton. Für einen Einblick in die anfänglichen Debatten, die zur Ausprägung des analytischen Ansatzes führten, siehe: Miller, David. 1983. „Linguistic Philosophy and Political Theory“. In: derselbe und Larry Siedentop (Hg.). The Nature of Political Theory. Oxford: Clarendon Press, S. 35–52.

3 Quinton, Anthony. 1982. Thoughts and Thinkers. London: Duckworth, S. ix. Vgl. Plamenatz, John. 1938. Consent, Freedom and Political Obligation. London: Oxford University Press, S. x; Plamenatz, John 1963. Man and Society. A Critical Examination of Some Important Social and Political Theories from Machiavelli to Marx. Bd. 1. London: Longmans, S. xvii.

4 Lovejoy, Arthur O. 1993. Die große Kette der Wesen: Geschichte eines Gedankens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

5 Plamenatz, 1963. Man and Society, S. ix, xvi. Vgl. auch Russell, Bertrand. 1900. Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz. Cambridge: Cambridge University Press, S. vi: „Ohne auf Daten oder Einflüsse zu achten, streben wir einfach danach, die großen Arten von möglichen Philosophien zu entdecken. Orientierung finden wir bei unserer Suche, indem wir die Systeme der großen Philosophen der Vergangenheit studieren.“

6 Eine von vielen brauchbaren Einführungen in die Argumentationstheorie und unterschiedliche Typen von Argumenten ist: Weimar, Wolfgang. 2005. Logisches Argumentieren. Stuttgart: Reclam.

7 Die zitierten Textausschnitte orientieren sich an der deutschen Übersetzung von Barbara Zehnpfennig: Hamilton, Alexander, Madison, James und John Jay. 1993. Die Federalist Papers. Übersetzt und eingeleitet von Barbara Zehnpfennig. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, S. 93–100, „Federalist Paper Nr. 10“. Die Verweise beziehen sich auf die sich durchnummeriert vorzustellenden Paragrafen (P) des Texts.

8 Die Bezeichnung „Gleichschaltung“ ist wesentlich mit der Erfahrung des Totalitarismus im 20. Jahrhundert verbunden. Aus historisch kontextualistischer Sicht stellt diese Umschreibung für einen Gedanken eines im 18. Jahrhundert geschriebenen Text somit einen Anachronismus dar. Insofern mit dem analytischen Ansatz aber das Federalist Paper Nr. 10 als Beitrag zum überzeitlichen Gespräch über Politik gewertet wird, ist „Gleichschaltung“ eine legitime Zusammenfassung des Gedankens von Madison, dass man Faktionen durch die Angleichung der Meinungen, Leidenschaften und Interessen der Bürger unterbindet.

9 Für eine Analyse der Rhetorik des Federalist Paper Nr. 10, siehe: Ashin, Mark. 1953. „The Argument of Madison’s Federalist No. 10“, College English 15/1, S. 37–45.

10 Hamilton, Madison und Jay, 1993, S. 58.

11 Beard, Charles. 1913. An Economic Interpretation of the Constitution of the United States. New York: Macmillan.

12 Vgl. Skinner, Quentin, Dasgupta, Partha, Geuss, Raymond, Lane, Melissa, Laslett, Peter, O’Neill, Onara, Runciman, W.G., und Andrew Kuper. 2002. „Political Philosophy. The View from Cambridge“, The Journal of Political Philosophy 10/1, S. 1–19, hier S. 2 f.

13 Parteienrechtskommission. 1957. Rechtliche Ordnung des Parteiwesens. Probleme eines Parteiengesetzes. Bericht der vom Bundesminister des Innern eingesetzten Parteienrechtskommission. Frankfurt a.M.: Metzner Verlag, S. 73.

Kapitel 2 Der biografische Ansatz: Am Beispiel von Platons Der Staatsmann

In Forschungsbeiträgen zur politischen Ideengeschichte sind biografische Ansätze grob in zwei Formen zu finden. Zum einen gibt es Interpretationen, die bewusst und explizit mittels der Biografie eines Autors das gesamte Werk oder einzelne Texte zu erklären versuchen. Als Beispiele für den biografischen Ansatz mit Blick auf das gesamte Werk eines Autors dürfen etwa die große Max Weber Biografie von Joachim Radkau oder das im Kontext dieses Kapitels besonders bedeutsame Buch von Ulrich von Willamowitz-Moellendorf zu Platon gelten.1 Solche groß angelegten Versuche sind in der derzeitigen Forschung eher unpopulär. Henning Ottmanns Einschätzung in Bezug auf Marx verdeutlicht den Zeitgeist: „Die Person ist das eine, die Lehre das andere. Ein Blick auf die Person kann die Marxsche Theorie weder bestätigen noch widerlegen.“2 Ottmann denkt dabei insbesondere an die Versuche seitens Karl Löwith und Arnold Künzli, die beide Marx’ jüdische Herkunft als für die Interpretation seines Werks relevante biografische Information hervorheben.3

Zum andern ist der biografische Ansatz in der Forschungspraxis implizit präsent, um nicht zu sagen: omnipräsent. Dass der Biografie eines Autors in Fachkreisen häufig eine erklärende Kraft für das Verständnis eines Texts zugeschrieben wird, lässt sich schon an der Tatsache ablesen, dass der Interpretation von Texten in Lehrbüchern und Forschungsbeiträgen regelmäßig wie selbstverständlich eine Tafel mit den Lebensdaten des Autors oder eine kurze Vita vorangestellt wird. Es resultiert ein weitgehend unkommentiertes Nebeneinander von Biografie und Interpretation. Auch Henning Ottmann lässt das Kapitel zu Platon (wie die meisten Kapitel) in seiner Geschichte des politischen Denkens mit dem „Leben und Werk“ beginnen, und schon gleich zu Beginn liest man dort, dass Platon aus dem Schicksal des Sokrates eine Lehre gezogen habe, die seine Philosophie beeinflusst hat.4 Die Person und die Lehre erscheinen hier also keineswegs als etwas Trennbares. Dass ein Blick auf die Person eine Theorie weder bestätigen noch widerlegen kann, ist plausibel, und Ottmann bestreitet auch nur, dass es „einen direkten Weg“ gebe, da die Sache „komplizierter“ sei.5 Dennoch ist das Kapitel zu Marx in den „jungen“ und „älteren“ Marx unterteilt und beginnt mit einem Abschnitt „Persönliches“. Darüber hinaus endet das Kapitel mit einer Übersicht, die nochmals eine Kurzbiografie von Marx auf vierzehn Zeilen präsentiert.6 Auch wenn sich Ottmann von der Biografie keine Bestätigung oder Widerlegung der Marxschen Lehre erhofft, so wird hier doch immerhin das Leben der Person für die Strukturierung und Erklärung der Lehre herangezogen.

Noch eindringlicher zeigt sich die Omnipräsenz des biografischen Ansatzes in der Forschungspraxis der politischen Ideengeschichte an Bezügen in Textinterpretationen, wenn etwa in einem Nebensatz eine Tatsache aus der Biografie angeführt oder gar explizit interpretativ Verwendung findet. Dass man dadurch den biografischen Ansatz zur Anwendung bringt, wird selten erwähnt. Warum sonst sollte man aber einen Bezug zwischen dem Leben des Autors und dem Text herstellen, wenn man der biografischen Information nicht auf irgendeine Art und Weise eine erklärende Wirkung zuschreiben wollte?

1. Zur Theorie des biografischen Ansatzes

Entscheidend für den biografischen Ansatz ist die Interpretationsrichtung. Die Biografie soll das Werk oder einzelne Aspekte daraus erklären helfen. Dies ist zu unterscheiden von dem gegenläufigen Erkenntnisinteresse, bei dem man die Person des Autors besser zu verstehen trachtet und dafür dessen Werk beleuchtet. Im Vordergrund des biografischen Ansatzes steht die Interpretation eines Texts. Der Text drückt die Ansichten und Absichten eines Autors zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben aus, weshalb ein adäquates Textverständnis – so die methodische Grundannahme des Ansatzes – sich eben nur vor dem Hintergrund der Biografie des Autors erarbeiten lässt. Kurzum: Wer den Text oder auch nur eine bestimmte Stelle im Text eines Autors verstehen möchte, der muss die spezifische biografische Situation des Autors (potentiell in allen Facetten, bis hin zur psychischen Innenwelt) zum Zeitpunkt der Abfassung des Texts so gut wie möglich kennen. Der Ansatz ist folglich autorzentriert, da der Text vor allem anderen als etwas verstanden wird, das von jemandem geschrieben ist.

Aber welche Aspekte eines menschlichen Lebens sollen beim biografischen Ansatz beachtet werden? Etwa nur autobiografische Zeugnisse? Oder die Handlungen des betreffenden Autors, wie sie in Zeugnissen Dritter erscheinen? Was ist mit der weiteren Struktur und Beschaffenheit des Umfelds, in dem sich ein Autor bewegt, also das Leben verbringt? Soll man etwa auch den intellektuellen Kontext berücksichtigen? Oder alle historischen Ereignisse, die einen Eindruck auf den Autor und vielleicht eine Reaktion gezeitigt haben (könnten)? Es ist offensichtlich: Welche dieser Aspekte für den biografischen Ansatz relevant ist, lässt sich in dieser Allgemeinheit nicht bestimmen.

Der biografische Ansatz kann indes gleichermaßen von zwei historischen Interessen abgegrenzt werden: dem realhistorischen einerseits und dem philosophiegeschichtlichen andererseits. Obwohl Realgeschichte wie auch Philosophiegeschichte in der Biografie eines ideengeschichtlichen Autors eine große Rolle spielen, interessiert sich der biografische Ansatz für mehr als realgeschichtliche Fakten oder philosophiegeschichtliche Daten. Ein biografischer Ansatz bemüht sich nämlich immer zu zeigen, dass eine Begebenheit im Leben des Autors einen entscheidenden Einfluss auf dessen Werk hatte, ihn also dazu brachte, einen Text so und nicht anders zu schreiben, eine Meinung so und nicht anders zu vertreten, oder das Argument vorzubringen, das er vorgebracht hat, anstatt einem anderen. Der biografische Ansatz sucht einen Text (oder eine Textstelle), die einen Interpretationsbedarf aufweist, mittels Rückgriff auf eine Begebenheit im Leben des Autors zu erklären. Eine Relevanz für den biografischen Ansatz haben demnach diejenigen historischen Ereignisse, für die ein Einfluss auf das Werk argumentativ geltend gemacht werden kann. Der Einfluss muss dabei dergestalt sein, dass er für die Interpretation des Texts oder der Textstelle erklärende Kraft entfaltet.

Die Tatsache, dass jeder Autor Eltern hat, hilft dieses Relevanzkriterium zu illustrieren: Während die Identität der Eltern immer eine relevante Information für einen Biografieschreiber darstellt, ist sie es für den Interpreten, der einen Text mittels des biografischen Ansatzes erklären will, nicht zwingend. Die Identität der Eltern eines Autors ist für eine Interpretation mit dem biografischen Ansatz nur dann eine relevante Information, wenn dadurch ein Text des Autors besser verstanden werden kann. Dass John Stuart Mill der Sohn von James Mill war, findet in Interpretationen des politischen Denkens des John Stuart Mill häufig Erwähnung, weil die väterliche Erziehung wohl letztlich zu seinem geistigen und körperlichen Zusammenbruch führte.7 Dass der Vater von Thomas Hobbes ein einfacher Landpfarrer war, wird in Interpretationen Hobbes’ politischen Denkens zwar selten erwähnt, mag allerdings nicht unerheblich sein, wenn man an die schwierig zu erklärenden, sich an der Bibel orientierenden dritten und vierten Teile des Leviathan denkt. Dass der Vater Landpfarrer nicht irgendwo, sondern nahe Malmesbury in der Graftschaft Wiltshire war, scheint hingegen für einen biografischen Ansatz tatsächlich irrelevant zu sein. Wie dem auch sei, ob einer Begebenheit oder einem Ereignis für einen biografischen Ansatz Relevanz zugeschrieben wird, ist letztlich eine Entscheidung, die der Interpret vornimmt und mit der er sich der Fachwelt gegenüber zu rechtfertigen hat.

 

Ein eindrückliches Beispiel für die Vielfalt von als relevant erachteten Begebenheiten im Leben eines Autors ist Nicolaus Sombarts sexualpathologische Erklärung des so zentralen Begriffs der Entscheidung (Dezision) im Werk von Carl Schmitt:

Die Entscheidung ist dann eben die so entschlossene wie verzweifelte Option für den alles dominierenden Signifikanten (der Männergesellschaft), den Phallus, den ‚nom du père‘ oder einfach die Ent-Scheidung – wortwörtlich – die Abwehr und Abkehr von der ‚Scheide‘, der Vulva. Entscheidung ist die Fixierung auf den Phallus, um der schrecklichen Gefahr zu entrinnen, von der klaffenden Öffnung, der ‚béance‘, dem Abgrund verschlungen zu werden, in den man nur zu gerne hinein möchte.8

Der berühmte Satz zu Beginn der Politischen Theologie, „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, wird von Sombart konsequent im Sinn der männlichen Erektion interpretiert, die – selbst ein Ausnahmezustand – gerade nicht zur Etablierung dauerhafter männlicher Herrschaft genüge. Sombart weiter:

Alles deutet daraufhin, dass seine politische Theorie mit ihren berühmt-berüchtigten Formeln der ‚Unterscheidung von Freund und Feind‘, von ‚Ausnahmezustand‘ und ‚Entscheidung‘, ‚Chaos‘ und ‚Anarchie‘ die typische Neurose der wilhelminischen Männergesellschaft auf den Begriff gebracht hat.9

Die unterschiedlichsten Aspekte eines Lebens können für einen biografischen Ansatz relevant sein. Im eben angeführten Beispiel wird Schmitts psychisches Innenleben als biografische Tatsache angeführt; aber wie das letzte Zitat zeigt, spiegelt sich darin eine Sozialpathologie, die eine gesamte Gesellschaft gekennzeichnet haben soll, die also die Umstände betrifft, in denen Schmitt gelebt hat und die über ihn als individuellen Autor hinausgehen. Von Bedeutung sind diese Umstände, weil sie – wie sich Sombart zu zeigen bemüht – sowohl für das Schmitt’sche Gesamtwerk wie auch für eine schwierig zu interpretierende Stelle erklärende Kraft entfalten.

Vor diesem Hintergrund lassen sich wohl auch einige feministische und marxistische Interpretationsansätze (die in diesem Lehrbuch nicht behandelt werden) als Sonderfälle eines biografischen Ansatzes fassen, insoweit auch sie (wie Sombarts Sozialpathologie der wilhelminischen Männergesellschaft) gesellschaftliche Umstände als vorrangige erklärende Faktoren in Anschlag bringen. Das Schreiben eines Autors wird so immer von den Produktionsverhältnissen seiner Gesellschaft oder von vorherrschenden Genderkonzeptionen geprägt wenn nicht gar determiniert gelten. Die gesellschaftlichen Strukturen wirken sozusagen durch den Autor hindurch; sie, die Strukturen, sind der eigentliche Autor. In einer radikalen Deutung spielt es dann weitgehend keine Rolle mehr, welcher Autor den Text geschrieben hat; jeder, der unter bestimmten Produktionsverhältnissen (z. B. im Kapitalismus) lebt und gleichermaßen unter einem ‚falschem Bewusstsein’ leidet, oder an bestimmte Geschlechterrollen gewöhnt ist, hätte nur so schreiben können. Freilich läuft eine solch radikale Analysestrategie Gefahr, einen Text schon vor der Lektüre abschließend interpretiert zu haben. Viele marxistische und feministische Ansätze sind deshalb auch weniger radikal, entsprechend komplexer und damit aussagekräftiger. Trotzdem deutet sich über diese strukturelle Ähnlichkeit ein spannendes Spektrum biografischer Ansätze an: An einem Pol interessiert die Biografie hinsichtlich der Merkmale eines Autors, die er mit anderen teilt (mit allen anderen Zeitgenossen, mit anderen Philosophen über alle Zeiten hinweg, mit anderen Großgrundbesitzern, mit anderen Männern, etc.). Am anderen Pol interessiert die Biografie hinsichtlich der Merkmale eines Autors, die ihn und nur ihn auszeichnen (sein Genie, seine Außergewöhnlichkeit, seine Einzigartigkeit). Die nachfolgende Anwendung des biografischen Ansatzes auf Platon und seinen Der Staatsmann verfolgt keine radikale Variante, wird aber eher die Individualität Platons denn strukturelle Merkmale der athenischen Gesellschaft in den Vordergrund stellen.

Infografik 2: Der biografische Ansatz

Der biografische Ansatz sucht einen Text oder eine Textstelle mittels Rückgriff auf eine Begebenheit oder ein Ereignis im Leben des Autors zu erklären.


2. Das Anwendungsbeispiel: Platons Leben und Werk

Ein biografischer Ansatz ist zunächst darum bemüht, möglichst alles über das Leben des Autors und dessen Umstände in Erfahrung zu bringen, auch wenn sich davon bei weitem nicht alles als relevant erweisen wird. Allerdings ist mit dem Zeitpunkt der Abfassung des zu interpretierenden Texts eine Grenze gesetzt. Was im Leben des Autors nach diesem Zeitpunkt geschehen ist, kann für eine Interpretation mit dem biografischen Ansatz nicht relevant sein. Selbst wenn das Gesamtwerk eines Autors mittels der Biografie interpretiert werden soll, so ist mit dem Ableben des Autors und einem allenfalls unbeendeten Werk (wie es in Platons Fall die Gesetze sind), eine Grenze gegeben. Das bedeutet aber auch, dass eine möglichst exakte Datierung des zu interpretierenden Texts für den biografischen Ansatz äußerst bedeutsam ist, da mit dem Zeitpunkt der Niederschrift ein terminus ad quem gegeben ist, bis zu dem hin es die Biografie zu berücksichtigen gilt.

Aber was wissen wir heute denn eigentlich noch über Platons Leben? Von Willamowitz-Moellendorf hat es auf den Punkt gebracht: „Was wir außer den Werken Verlässliches über Platons Leben erfahren, lässt sich auf ein Quartblatt schreiben.“10 Wer sich darauf einlässt, Platons Biografie zu erkunden, ist bald vor die Aufgabe gestellt, dieses wenige Verlässliche im Haufen der Anekdoten und Fiktionen nicht aus dem Auge zu verlieren. Stets stellt sich die Frage nach der Authentizität des Berichteten. Natürlich unterscheiden sich die Menge und Art der Informationen, welche als verlässlich eingestuft werden. In ihren Anmerkungen zum Staatsmann (Politikos) führt Julia Annas eine Tafel zum Leben von Platon an, welche sehr strenge Kriterien der Verlässlichkeit anwendet. Die Tafel enthält nur sieben Einträge:


Platons Leben
469Sokrates wird geboren.
429Platon wird geboren.
399Sokrates wird hingerichtet.
384Aristoteles wird geboren.
380–370sZu einem Zeitpunkt beginnt Platon formale Ausbildung im Gymnasium der Akademie anzubieten; daraus entwickelt sich die Akademie als philosophische Schule, über deren institutionelle Struktur wir fast nichts wissen.
367Aristoteles tritt der Akademie bei.
347Platon stirbt.

Annas fügt der Tafel einen erklärenden Satz hinzu: „Andere Ereignisse in Platons Leben, die antike Biografien erwähnen, sind von zweifelhafter Chronologie und oft von zweifelhafter Historizität.“11 Ganz anders handhabt beispielsweise Michael Erler dies, der ebenfalls große Vorsicht walten lässt, aber eine viel umfassendere Zeittafel zusammenstellt.12

Dazu kommt, dass manches, was eine umfassende Variante (vielleicht zu Recht) für glaubwürdig hält, aus einer Quelle stammt, die im zeitlichen Abstand von mehreren hundert Jahren berichtet (wie z. B. durch Diogenes Laertios). Diese Quellen stützen sich wiederum auf überlieferte Texte, die nicht erhalten geblieben sind (so sind etwa frühe Biografien aus dem Umfeld von Platons Schülern bezeugt). Platons Dialoge sind bekannt dafür, dass sie allerlei historische Charaktere enthalten, über Platon selbst aber kaum Auskunft geben.13 Für den biografischen Ansatz kommen nur wenige, aus viel späterer Zeit stammende Quellen in Frage, die aber von legendenhaften Zügen durchsetzt sind und teils Widersprüchliches berichten – mit der gewichtigen Ausnahme des Siebten Briefs, der vielleicht von Platon selbst und vielleicht in autobiografischer Absicht geschrieben wurde.