Politische Ideengeschichte

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Textzentrierte Ansätze: „ein Text ist der Gehalt seiner Aussagen“



Ein Text kann einfach als Text verstanden werden, als ein Argument, das jenseits der Prosa des Texts im Gehalt seiner Aussagen besteht. Der analytische Ansatz abstrahiert dementsprechend von der sprachlichen Präsentation, um den Gedanken selbst zu erfassen. Für den analytischen Interpreten macht es keinen Unterschied, ob ein Satz auf Englisch, Deutsch oder Sanskrit geschrieben ist, wie auch grammatikalische Konstruktionsarten, Akzentuierungen oder schlicht Rhetorik nicht ins Gewicht fallen. Ein einziger Aussagegehalt kann daher auf vielfache Weise ausgedrückt werden. Erasmus von Rotterdam zählte beispielsweise 195 lateinische Varianten des Satzes „Ihr Brief hat mir sehr gefallen“ auf; die Aussage des Satzes war ihrem Gehalt nach stets dieselbe.

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 Bei einer analytischen Textinterpretation steht also der Aussagegehalt im Vordergrund. Im Idealfall lässt sich dieser in Form von Prämissen und Schlussfolgerungen darstellen, so dass im Anschluss an die Interpretation, der argumentative Inhalt des Texts auf Validität und Konsistenz geprüft werden kann.



Interessante Ansätze, die ebenfalls als textzentriert gelten können, sich bisher jedoch noch nicht innerhalb des Mainstreams etablieren konnten, sind in der Semiotik (Umberto Eco) und im (Post)-Strukturalismus zu verorten. Im Gefolge von Roland Barthes’ und Michel Foucaults Erklärungen zum Tod des Autors und Jacques Derridas Dekonstruktivismus haben sich neue Möglichkeiten ergeben, auch Texte aus der politischen Ideengeschichte neu zu interpretieren. Bei der ausführlichen Darstellung und Illustration von textzentrierten Ansätzen beschränken wir uns jedoch auf den analytischen Ansatz.



Autorzentrierte Ansätze: „ein Text ist von jemandem geschrieben“



Man kann einen Text aber auch als etwas verstehen, das von jemandem geschrieben wurde; der Autor rückt ins Zentrum. Die damit einhergehende Prämisse ist, dass man etwas über den Autor des Texts in Erfahrung bringen muss, möchte man das interpretationsbedürftige Textmaterial verstehen. Explizit finden autorzentrierte Ansätze in der ideengeschichtlichen Praxis Anwendung, wenn biografische Informationen über den Autor argumentativ in eine Textinterpretation eingewoben werden. Häufig wird beispielsweise behauptet, der Leviathan von Thomas Hobbes lasse sich nicht ohne dessen Erfahrung des englischen Bürgerkriegs verstehen. Nur impliziter, aber nicht weniger prämissenbehaftet, wird von einem solchen Zusammenhang des Lebens eines Autors und der Bedeutung eines seiner Texte ausgegangen, insofern der inhaltlichen Diskussion eine biografische Notiz vorangestellt wird. Warum sonst sollte das intime Verhältnis von Simone de Beauvoir mit Jean-Paul Sartre erwähnenswert sein in einer Abhandlung, die sich mit de Beauvoirs Text Das andere Geschlecht zu befassen behauptet? Misst man dem Zusammenhang von der Person des Autors einerseits und der Bedeutung des Texts andererseits die Hauptrolle zu, so kann man von einem biografischen Ansatz sprechen. Genau genommen wird dann ein Text als Ausdruck des Lebens eines Autors verstanden: Der Text hätte, angesichts der Biografie des Autors, gar nicht anders lauten können als er lautet.



Im Unterschied dazu unterstellt ein werkimmanenter Ansatz, dass man einen Text eines Autors am besten dann versteht, wenn man ihn im Zusammenhang mit den anderen Texten des Autors sieht. Dieser Ansatz kommt etwa zum Tragen, wenn man bei der Interpretation eines Texts die Qualifizierung hinzufügt, dass es sich um einen frühen Text des Autors handelt, da die späteren Texte doch alle durch das Hinzutreten eines bestimmten Motivs gekennzeichnet sind. (Hinsichtlich des Werks von Platon wird beispielsweise häufig gesagt, dass Sokrates nur anfangs eine zentrale Rolle einnimmt und in späteren Schriften immer mehr in den Hintergrund rückt.) Im Extremfall wird ein Text unter Anwendung des werkimmanenten Ansatzes in seiner Stellung innerhalb des Gesamtwerks der einem Autor zugeschriebenen Texte verstanden. Das Leben des Autors ist nicht primär für die inhaltliche Interpretation ausschlaggebend. Aber nur mittels der Identifikation des Autors können die verschiedenen Texte überhaupt als Texte des Gesamtwerks eines Autors verstanden werden.



Adressatenzentrierte Ansätze: „ein Text ist für jemanden geschrieben“



Ein Text kann aber auch so verstanden werden, dass er in der Hauptsache „für jemanden geschrieben“ ist; ein bestimmter Adressatenkreis nimmt also den Platz des Autors im Zentrum des Textverständnisses ein. Es wird daher nach der Botschaft gesucht, die der Autor mit seinem Text an seine Zeitgenossen vermitteln wollte oder tatsächlich sendete.



Der esoterische Ansatz von Leo Strauss bezieht die Möglichkeit in Betracht, dass Autoren nicht beabsichtigt haben mochten, ihre Erkenntnisse offen und explizit zu kommunizieren. Vielleicht drohten Freigeistern Repressionen; oder sie glaubten, die Gesellschaft vor unbequemen Wahrheiten schützen zu müssen; oder aber sie meinten, dass sich Leser philosophische Einsichten nicht in der gleichen Weise wie Sachinformationen aneignen können. Autoren könnten dementsprechend der adressierten Leserschaft ihre eigentliche Lehre zwischen den Zeilen zu vermitteln gesucht haben. Das, was auf den Zeilen geschrieben steht, wäre dann nur Zensoren, der politisch korrekten Öffentlichkeit oder Philosophieunempfänglichen zugedacht.



Der kontextuelle Ansatz geht hingegen davon aus, dass Autoren nicht in ein überzeitliches Gespräch mit vergangenen und zukünftigen Generationen (und zuletzt uns) eintraten, sondern ihren politischen Zeitgenossen eine Mitteilung machten. Sie taten dies nicht so sehr, weil sie es wollten, sondern weil sie gar nicht anders konnten. Die Autoren ideengeschichtlicher Texte werden als Kinder ihrer Zeit begriffen, die in historisch und kulturell kontingenten sprachlichen Konventionen, intellektuellen Traditionen und politischen Kontroversen gefangen waren. Laut dem bekanntesten Vertreter eines kontextuellen Ansatzes, Quentin Skinner, stellen ideengeschichtliche Texte ideologische Interventionen in das politische Tagesgeschäft dar. Dementsprechend richten sich die von ihm empfohlenen Analysestrategien auf die in einem Text angelegten Anspielungen auf parteiische Positionen, Bewertungen und Akzentverschiebungen. Wer die politische Rhetorik des Entstehungskontexts von Daniel Defoes Schrift Der kürzeste Weg mit den Dissentern in die Interpretation miteinbezieht, so Skinner zum Beispiel, erkenne, dass Defoe seinen Zeitgenossen keineswegs empfahl, mit Andersgläubigen kurzen Prozess zu machen, sondern sie mithilfe der ironischen Überspitzung zu größerer Toleranz bewegen wollte.

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Leserzentrierte Ansätze: „ein Text ist von jemandem gelesen“



Ein weiterer Typ von Interpretationsansätzen versteht Texte als etwas, das vor allem von jemandem gelesen wird; die Leseerfahrung wird in den Vordergrund gerückt. Dabei kann auf die Leseerfahrung eines Einzelnen oder die Gesamtheit aller Leser fokussiert werden.



Beim hermeneutischen Ansatz dreht sich alles um die Fremdheit, mit der ein Interpret als Leser eines ideengeschichtlichen Texts konfrontiert ist. Problematisiert wird dabei die zeitliche, kulturelle, sprachliche, milieubezogene und politisch-soziale Differenz, die dem Bemühen nach Verständnis entgegensteht. Der Leser tritt notwendig mit Vorannahmen und Vorurteilen an einen Text heran. Ziel ist, sich dieser bewusst zu werden und sie produktiv zu wenden. Dabei wird nicht davon ausgegangen, dass es ein letztes Wort über einen historisch in den Text hineingelegten Sinn zu sprechen gälte. Vielmehr nimmt, wie Hans-Georg Gadamer es ausdrückte, die „Ausschöpfung des wahren Sinns“ kein Ende. Durch das Bemühen des Lesers ergeben sich neue Verständnisse und Sinnbezüge. Die Differenz zwischen Interpret und Text schließt sich letztlich nicht, sie ist in „ständiger Bewegung und Ausweitung“ begriffen.

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Der rezeptionstheoretische Ansatz sucht hingegen der unterschiedlichen Deutungen von Lesern gewahr zu werden, die von einem Text über die Zeit entstanden sind. Der Interpret setzt also an den Deutungen der Sekundärliteratur an und schlägt im Extremfall den interpretationsbedürftigen Text selbst gar nicht auf. Diese Vorgehensweise rechtfertigt sich entweder, weil die Bedeutung von Texten als uneindeutig und durch die Leserschaft mitkonstituiert gilt; oder weil die Auswertung der kaleidoskopischen Vielfalt von Rezeptionsdispositiven indirekt eine Interpretation des Texts ermöglicht, die weniger von den persönlichen Voreinstellungen des Interpreten belastet ist; oder einfach weil das Maßgebliche von Texten nicht in der Bedeutung erkannt wird, die sie vermitteln wollten, sondern in der Bedeutung, die sie faktisch vermittelten.



Ansätze, die über die Interpretation eines Einzeltexts hinausgehen



In der politischen Ideengeschichte gibt es über die bereits erwähnten Ansätze hinaus eine Reihe von Interpretationsansätzen, die nicht in erster Linie einen Einzeltext in den Blick nehmen, sondern sich von vornherein auf ein Kollektiv von Texten konzentrieren, dem das eigentliche Interesse gilt. So auch in der Begriffsgeschichte, die wir von diesem Typ von Ansätzen in diesem Band detailliert betrachten werden. Bei der Begriffsgeschichte spielen Texte gegenüber den Begriffen, die sie verhandeln, eine untergeordnete Rolle. Texte werden allenfalls als Sammelsurium von Bestimmungen und Deutungen bestimmter politischer und anderer Begriffe verstanden. Begriffsgeschichtler, wie ihr prominentester Vertreter Reinhart Koselleck, versuchen Entwicklungen von Begriffen über viele Texte hinweg nachzuzeichnen, um so letztlich sozialen und politischen Wandel historisch greifbar zu machen. Gerade bei der Begriffsgeschichte hat sich der Fokus über die letzten Jahrzehnte merklich weg von Höhenkammliteratur zu institutionellen Texten und Texten der Populärkultur geweitet.

 



In diesem Band nicht behandelt, aber gleichermaßen erwähnenswert sind eine Reihe anderer Ansätze, die in ähnlicher Weise über die Interpretation eines Einzeltexts hinausgehen und die ebenfalls in der Disziplin verfolgt werden. Wie die Begriffsgeschichte beziehen sie die Interpretation des einen Texts auf ein Kollektiv von Texten, dem das eigentliche Interesse gilt. Stichwortartig seien hier die Problemgeschichte, die Mentalitätengeschichte sowie diskurs- und systemtheoretische Ansätze erwähnt. Diese Ansätze sind nicht zuletzt durch ihr, über einen Einzeltext weit hinausreichendes Interesse überaus komplex konzipiert; sie kommen aber allesamt nicht umhin, sich mit Einzeltexten zu beschäftigen, so dass ein Verständnis der in diesem Band vorgestellten Interpretationsansätze gleichsam als Vorbereitung für diese weiterführenden Ansätze verstanden werden darf.



Damit sind abschließend zwei wichtige Punkte angesprochen. Erstens ist es durchaus ein Aspekt der Diskussion um Ansätze in der politischen Ideengeschichte, was denn nun als eigenständiger Ansatz gelten kann. Es scheint zumindest so zu sein, dass die eben erwähnten Ansätze, die auf ein Kollektiv von Texten abheben, je schon ein Textverständnis bei der Lektüre des Einzeltexts ansetzen. Wenn man zum Beispiel Problemgeschichte betreibt und sich dem Problem der sich durch Macht einstellenden Korrumpierbarkeit widmet, dann kann man die Texte und den darin enthaltenen Beitrag zur Problembehandlung noch immer als von jemandem geschrieben oder als für jemanden geschrieben oder einfach auch nur als vorliegenden Text lesen. Damit ist letztlich auch verständlich, warum es strittig ist, ob etwa der Feminismus einen eigenständigen Ansatz bereitstellt. Er könnte sich durchaus mit manchen der in diesem Lehrbuch versammelten Ansätze kombinieren oder aber als unabhängiges Set von Analysestrategien ausdifferenzieren lassen.



Zweitens sind natürlich im Grunde auch die von uns ausgewählten, grundlegenden Interpretationsansätze in ihrer Ausgestaltung durch eine anhaltende Fortschreibung auf theoretischer Ebene sowie durch konkurrierende Anwendungen in der Praxis gekennzeichnet. Im Rahmen dieses Bands kann auf diese vielfältigen Entwicklungen nur punktuell eingegangen werden. Größeres Gewicht wird dagegen darauf gelegt, die ausgewählten, grundlegenden Interpretationsansätze in Modellform zu präsentieren. Denn durch die modellhafte Darstellung und Illustration werden Vorzüge und Nachteile der einzelnen Ansätze deutlicher sichtbar, so dass gehofft werden darf, das Bewusstsein für die jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen zu fördern und zu einem (selbst-)kritischen Umgang mit dem methodischen Handwerkszeug der politischen Ideengeschichte zu motivieren.





Auswahl der Texte





Im vorliegenden Lehrbuch werden die Analysestrategien der ausgewählten Interpretationsansätze erläutert und durch Anwendung auf je einen Text illustriert. Die Auswahl der Texte berücksichtigt die Kriterien unterschiedlicher Textformate sowie soziokultureller Herkunft. Dabei beschreiten wir einen Mittelweg zwischen „Klassikern“ (Platons Staatsmann, Machiavellis Der Fürst, Strauss’ Verfolgung und die Kunst des Schreibens und Madisons Federalist Paper Nr. 10) und eher vernachlässigten Texten (De Gouges’ Drei Urnen, Riveras Die Geschichte Mexikos, Huangs Mingyi daifang lu und dem hethitischen Text Die Würdenträgereide des Arnuwanda). Was die Autorschaft der Texte anbelangt, so wird ebenso einerseits auf Familiarität gesetzt, und andererseits auf noch nicht oder nur namentlich bekannte Autoren zurückgegriffen. Schließlich, auch wenn die Auswahl nur exemplarisch und ohne Anspruch auf Repräsentativität erfolgen konnte, wurden nicht nur Texte von männlichen, weißen Europäern miteinbezogen.



Männliche, weiße Europäer? Reden wir damit nicht einer politischen Korrektheit das Wort, die wir in unserer eigenen Schreibpraxis gar nicht einlösen? Haben wir nicht durchgängig von Autoren in der männlichen Form gesprochen? Darüber wollen wir in Form einer Reflexionsbox kurz nachdenken.





Reflexionsbox 1: Sexistische Sprache





Wäre es nicht gerade in einem Lehrbuch nötig, auf geschlechtsneutrale Sprache zu achten? Nicht alle Autoren der politischen Ideengeschichte waren Männer und auch nicht deren Adressaten oder Leser. Die standardmäßige Verwendung der männlichen Form suggeriert eine falsche Normalität. Umgekehrt kann eine geschlechtsneutrale Sprache über die faktisch vorherrschenden patriarchalen Verhältnisse hinwegtäuschen. Das Dilemma lässt sich nicht leicht umgehen. Im einen Fall laufen wir Gefahr, Studierende an eine sexistische Konvention zu gewöhnen. Im andern Fall würden wir einem idealisierenden Anachronismus erliegen, indem wir unser heutiges Selbstverständnis in die Vergangenheit projizieren.



Für uns ausschlaggebend war die Befürchtung, mit einer konsequent geschlechtsneutralen Sprache oder mit im Deutschen ungebräuchlichen Alternativen die Reflexion über Ansätze in der politischen Ideengeschichte zu erschweren. Wir haben uns daher in einigen Fällen des Schlüsselvokabulars für die Verwendung des generischen Maskulinums entschieden, ohne zu meinen, damit die richtige Lösung, oder auch nur die beste aller schlechten, gefunden zu haben.





1 Siehe z. B.: Ball, Terence. 1995. Reappraising Political Theory. Revisionist Studies in the History of Political Thought. Oxford: Clarendon, S. 5; Sontag, Susan. 2009. „Against Interpretation“. In: dieselbe, Against Interpretation and Other Essays. London: Penguin, S. 3–14.



2 Busen, Andreas und Weiß, Alexander. 2013. „Ansätze und Methoden zur Erforschung politischen Denkens: The State-of-the-Art?“. In: dieselben (Hg.), Ansätze und Methoden zur Erforschung des politischen Denkens. Baden-Baden: Nomos, S. 15–39.



3 Siehe z. B.: Kersting, Wolfgang. 2009. Die Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; Riklin, Alois. 2006. Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.



4 Gunnell, John. 2011. „History of Political Philosophy as a Discipline“. In: Klosko, George (Hg.), The Oxford Handbook of the History of Political Philosophy. Oxford: Oxford University Press, S. 60–72; hier S. 60.



5 Ottmann, Henning. 1996. „In eigener Sache: Politisches Denken“, Politisches Denken, Jahrbuch 1995/96: S. 1–9; Ottmann, Henning. 2001a. Geschichte des Politischen Denkens. Band 1/1: Die Griechen. Von Homer bis Sokrates. Stuttgart: Metzler, S. 1–6.



6 Für einen Klassiker, siehe: Collingwood, Robin George. 1994. The Idea of History. Oxford/New York: Oxford University Press.



7 Zum Unterschied zwischen Politik und dem Politischen, siehe: Röttgers, Kurt und Bedorf, Thomas (Hg.). 2010. Das Politische und die Politik. Berlin: Suhrkamp Verlag.



8 Löwith, Karl. 2004. Weltgeschichte und Heilsgeschehen: Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart: Metzler.



9 Lefort, Claude. 1988. Democracy and Political Theory. Cambridge: Polity Press.



10 Ottmann, 2001a, S. 2.



11 Siehe: von Rotterdam, Desiderius Erasmus. 1978. „Copia: Foundations of the Abundant Style (de duplici copia verborum ac rerum commentarii duo)“, übersetzt von Betty I. Knott, in: Collected Works of Erasmus: Literary and Educational Writings 2, hg. von Craig R. Thompson, Toronto: University of Toronto Press, S. 348–354.



12 Skinner, Quentin. 2009. Visionen des Politischen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 74–75.



13 Gadamer, Hans-Georg. 1990. Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr, S. 303.






Kapitel 1  Der analytische Ansatz: Am Beispiel des Federalist Paper Nr. 10





Der analytische Ansatz zur Interpretation von Texten der politischen Ideengeschichte – zuweilen auch Oxford Ansatz genannt – bedarf im Grunde nicht langatmiger Erläuterung. Er bezeichnet das, was wir ohnehin intuitiv tun zu müssen glauben, wenn wir uns einen Text nicht nur ansehen, sondern ihn wirklich studieren wollen. Anstatt das Geschriebene nur zu überfliegen und ein wenig in die Einleitung und den Schluss hineinzulesen, nehmen wir uns vor, genau zu betrachten, was die einzelnen Sätze des Texts besagen. Wir versuchen uns in die Lage zu bringen, den Text in eigenen Worten wiederzugeben, um dessen Inhalt uns selbst und anderen erklären zu können. Weil der analytische Ansatz vergleichsweise ebenso naheliegend wie theoretisch schlicht und praktisch einfach zu handhaben ist, findet er in Lehrbüchern wie Vorlesungen zur politischen Ideengeschichte (und Philosophie) nur selten Erwähnung.



Drei Gründe sprechen dennoch für eine systematische Darlegung des analytischen Ansatzes. Erstens kann nicht davon ausgegangen werden, dass jedem völlig klar ist, wie gemäß dem analytischen Ansatz genau vorzugehen ist. Zweitens erachten unseres Wissens alle heutigen Fachexegeten von Texten der politischen Ideengeschichte den analytischen Ansatz als defizitär und legen ihren Arbeiten andere Interpretationsansätze zugrunde. Die genaue Kenntnis des analytischen Ansatzes ist also auch deshalb wichtig, weil wir sonst nicht wissen können, welche Grenzen unserer intuitiven Herangehensweise an Texte gesetzt sind. Schließlich ist die Kenntnis des analytischen Ansatzes für die ideengeschichtliche Interpretationspraxis deshalb von Vorteil, weil er Analysestrategien bereitstellt, auf die fast alle anderen Ansätze trotz ihrer Ablehnung des analytischen Ansatzes in „Reinform“ in der ein oder anderen Weise doch zurückgreifen.

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Der analytische Ansatz versteht Textinterpretation nach seinen Maßstäben als eine recht bescheidene Aufgabe. Es sollen lediglich im Text befindliche Fragen, Thesen, Argumente, Theorien und Antworten identifiziert werden. Die Aufgabe der kritischen Prüfung, ob die im Text identifizierten Fragen, Thesen, Argumente, Theorien und Antworten funktionstüchtige politiktheoretische Werkzeuge und somit für uns relevant sind, wird vom analytischen Ansatz nicht übernommen. Er verrichtet nur die notwendige Vorarbeit dafür. Er unterzieht die Texte einer deskriptiven Analyse, um eine systematische Diskussion zu ermöglichen. Vereinfachend gesagt wird ein Text zu verstehen gesucht, indem zerlegt, sortiert und zusammengefasst wird, was Schwarz auf Weiß im Text geschrieben steht.





1. Zur Theorie des analytischen Ansatzes





Der analytische Interpretationsansatz ist theoretisch und in der praktischen Anwendung maßgeblich durch Philosophen und Philosophinnen geprägt worden, die im 20. Jahrhundert an der Universität Oxford tätig waren. Ihr Beitrag bestand dabei nicht zuletzt darin, dass sie die „analytische Methode“ (die vorab durch Philosophen aus Cambridge wie G.E. Moore entwickelt wurde), auf den Bereich der politischen Philosophie übertrugen.

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 Für die Interpretation von Texten bedeutete dies zunächst, dass man sich auf die sprachphilosophische Klärung von politischen Begriffen und den Nachweis konzeptueller Fehler und methodischer Missverständnisse beschränkte. In der Folge ging man aber dazu über, in weniger destruktiver Absicht die logische Verknüpfung der politischen Begriffe zu Argumenten und Theorien nachzuvollziehen und die Texte als Antwortversuche von politischen Autoren auf „permanente oder zumindest wiederkehrende Probleme der Philosophie“ zu deuten.

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Reflexionsbox 2: Überzeitliche Ideen





Der Begründer der Disziplin der politischen Ideengeschichte, Arthur Oncken Lovejoy, gab als Ziel der Disziplin das Studium von überzeitlichen Grundideen (unit ideas) aus. In detaillierten Analysen sollte die Geschichte dieser überzeitlichen Grundideen nachvollzogen werden, d. h. wie Begriffe (z. B. Recht, Freiheit, Vertrag) im Laufe der Geschichte bestimmt, modifiziert, mit anderen Begriffen kombiniert und artikuliert wurden.

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 Die Vertreter des analytischen Ansatzes insistierten nicht unbedingt auf der Existenz von überzeitlichen Ideen, suggerierten aber wohl, dass sich einige Ideen (oder zumindest Fragen) als ziemlich langlebig erwiesen und sich historisch nur wenig verändert haben. Kritiker, die von einer stärkeren Beeinflussung von Autoren durch ihren historischen intellektuellen Kontext ausgehen, charakterisieren das Ideengeschichtsverständnis des analytischen Ansatzes deshalb überspitzt als fiktives Gespräch zwischen antiken, neuzeitlichen und modernen Autoren in einem zeitlosen Elfenbeinturm. Die Vertreter des analytischen Ansatzes entgegneten darauf nicht ganz zu Unrecht, dass die Klassiker der politischen Ideengeschichte in einen eben solchen überzeitlichen Dialog einzutreten gewillt gewesen scheinen. Die Vertreter des analytischen Ansatzes konnten ihnen somit in gewisser Hinsicht besser gerecht werden als ihre Kritiker, indem sie z. B. Hobbes als einen Menschen des 20. Jahrhunderts diskutierten, so wie Hobbes Aristoteles als seinen Zeitgenossen ansprach.

 



Für den analytischen Ansatz ist zentral, was in einem Text steht. Warum jemand den Text geschrieben hat, wer dieser Jemand war und welche Absichten dieser Jemand mit dem Text im Sinn hatte, wird konsequent ausgeklammert:



Manche meinen, um zu verstehen, was ein Mann sagte, müssten wir wissen, warum er es sagte. Das ist falsch. Wir müssen nur betrachten, wie er Wörter verwendete. Um Hobbes zu verstehen müssen wir nicht wissen, welchen Zweck er mit dem Leviathan verfolgte und was er über die rivalisierenden Ansichten der Royalisten und Parlamentarier dachte. Wir müssen nur wissen, was er mit Wörtern wie Recht, Freiheit, Vertrag und Verpflichtung meinte Ich beschränke mich darauf, was meine Autoren zu sagen haben und lasse die Ursprünge ihrer Theorien oder die Umstände, in denen sie entwickelt wurden, fast vollständig außer Acht.

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Um gemäß der Theorie des analytischen Ansatzes einen Text zu verstehen, braucht man also nicht den historischen Kontext, die Biografie des Autors, weitere Texte des Autors und seiner Zeitgenossen oder spätere Rezeptionen zu beachten; alles, was es herauszufinden gilt, steht im zu untersuchenden Text selbst.





Reflexionsbox 3: Aussagegehalt und Autorintention





Wenn wir über ideengeschichtliche Texte sprechen, sagen wir häufig so etwas wie „Im Text kritisiert Thomas Hobbes die Position Y“ oder „Was Hannah Arendt meint, ist Z“, wodurch die Person des jeweiligen Autors ins Spiel gebracht und suggeriert wird, dass entscheidend ist, was er oder sie beim Schreiben im Kopf hatte. In den Kopf eines Autors hineinzusehen ist naturgemäß schwierig. Verlässlicher scheint zu sein, darauf zu fokussieren, was ein Autor schrieb. Der analytische Interpretationsansatz beschränkt sich dementsprechend auf die Aussagen, die Schwarz auf Weiß in den Texten geschrieben stehen. Im Rahmen einer analytischen Interpretation geht es deshalb nicht darum, was Hobbes oder Arendt „eigentlich meinten“, sondern nur darum, welche Aussagen die Sätze ihrer Texte treffen.



Wie ist vorzugehen, wenn man einen Text für interpretationsbedürftig oder, mit Blick auf den analytischen Ansatz, analysebedürftig befunden hat? Drei Analyseschritte lassen sich unterscheiden: Die Analyse des Aussagegehalts, die Klärung der Begriffe und die Rekonstruktion der Argumente des Texts.



Im ersten Analyseschritt wird der inhaltliche Aussagegehalt des Texts identifiziert. Die Sätze eines Texts beherbergen dessen inhaltliche Aussagen, fallen aber nicht unbedingt mit diesen zusammen. Allerdings sind die Sätze der meisten Texte der politischen Ideengeschichte sehr wortreich und schließen Füllwörter, literarische Floskeln, rhetorische Wendungen und Umschreibungen mit ein, die dem Sprachrhythmus, der besseren Lesbarkeit oder effizienteren Überredung der Leser dienen, aber keine zusätzlichen, im engeren Sinn inhaltlich relevanten, Informationen liefern. Sie können deshalb gestrichen werden. Selbiges gilt für ganze Sätze, die beispielsweise bereits getätigte Aussagen wiederholen, zusammenfassen oder mit weitgehend überflüssigen Details und Beispielen ausschmücken. Sogar in extrem technisch anmutenden Traktaten können Streichungen geboten sein. Das bekannteste Beispiel stellt der Nachsatz an einen logischen Beweis „quod erat demonstrandum“ (was zu beweisen war) dar. Andere Sätze können durch Paraphrasierung stark gekürzt werden. Ein Beispiel aus Platons Der Staat mag dies illustrieren:




Text

Aussagen

SOKRATES: Kannst du mir aber eine größere und heftigere Lust nennen als die, die man mit der Aphrodite verbindet? GLAUKON: „Nein“, versetzte er, „und auch keine wahnsinnigere.“ (403a)

A: Die mit der Aphrodite assoziierte Lust ist die stärkste Lust.



Eine Herausforderung bei der Identifikation und Paraphrasierung des inhaltlichen Aussagegehalts eines Texts ist mitunter grammatischer Art. Allem voran gilt dies für Pronominalbezüge, denn häufig ist nicht eindeutig, auf welches Subjekt des Vorsatzes sich Pronomen (wie z. B. er, sie, es, dieser, jenes, etc.) bezieh