Unverarschbar

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Eine kalte Wintersonne gibt sich redlich Mühe, die Nacht zu vertreiben.

Ben schält sich aus dem Bett, geht ins Bad und duscht kalt. Das macht er nicht, weil seine Dusche kaputt ist. Er glaubt, daß das irgendwie gesund sei, und tatsächlich war er schon lange nicht mehr krank. Dieses Kaltduschen ist eine der Marotten, die er seit seiner Jugend beibehalten hat. Ebenso beschloß er damals, in den militant anti-amerikanischen 80ern, von einem Tag auf den anderen, keine Cola mehr zu trinken, um ein Zeichen gegen den amerikanischen Kulturimperialismus zu setzten. Daran hält er bis heute fest, und wahrscheinlich ist das der Versuch, irgendwie Konstanten in sein sonst so unstetes Leben zu bringen. Aber all das ist Schnickschnack gegen den einzigen wirklichen Fixstern in seinem Leben: die Liebe zur Musik. Für Ben ist Musik etwas Heiliges. Sie steht ganz oben, Galaxien über diesem jämmerlichen Planeten. Dann kommt erstmal lange nichts. Und an diesem Ideal muß sich diese profane Welt, oder, im Fall von gestern nacht, geschmacksverirrte Taxifahrer, erst einmal messen. Ob seiner elitären Vorstellung von Musik wird der lärmverseuchte Großstadtdschungel zum Minenfeld. Überall lauern Abgründe des schlechten Geschmacks. Und wenn er nicht aufpaßt, fällt er manchmal selbst hinein, besonders, weil er versucht, mit Musik Geld zu verdienen.

Apropos Geld: Ben muß sich langsam mal ernsthaft Gedanken darüber machen, wie er an die Kohle für den nächsten Monat kommen soll. Das kommende Jahr sieht in seinem Terminkalender aus, als sei es eine Werbung für Tipp-Ex (verdammt viel ist ausgefallen) oder für Faber-Castell (ein Haufen Termine stehen da in Bleistift und sind noch nicht bestätigt). Mit anderen Worten: Ben bewegt sich finanziell gesehen mal wieder auf extrem dünnem Eis. Eigentlich war das immer schon so, abgesehen vielleicht von der Zeit, als er bei der recht erfolgreichen Rockband M. the walking spielte, die einen Deal bei Motor Music hatte, was Mitte der 90er bedeutete, einen ganz passablen Vorschuß auf die zu erwartenden Plattenverkäufe zu bekommen. Das Internet hatte sich noch nicht im großen Maße als Musikplattform durchgesetzt, und die Plattenfirmen ahnten damals noch nicht, daß sich die CD-Verkäufe schon kurze Zeit später drastisch verringern und sie am Stock gehen würden. In Bens Fall schüttete die Band den Vorschuß monatlich an die Bandmitglieder aus, so daß die Miete schon mal im Sack war.

Dann kamen noch die Gagen für die ganzen Konzerte dazu, so daß er sich damals keine besonders großen Sorgen um seinen Brotbelag machen mußte. Zugegeben, man wird nicht zwingend reich als Musiker, aber die meisten Menschen wären verblüfft, wenn sie wüßten, wie viele Musiker von ihrer Kunst leben, ohne, daß man ihren Namen jemals irgendwo gelesen oder etwas von ihrer Arbeit im Fernsehen gesehen hätte. Bens Kumpel Peter zum Beispiel hat sich mit Tanzmucke einen Flügel und einen Sportwagen erspielt, nachdem er bei den SERVOKINGS ausgestiegen war. Ben will trotzdem nicht mit ihm tauschen. Er selbst macht Musik, um sein persönliches Statement anzuliefern, um seine Message in die Welt zu pusten. Leider verhält sich die Welt momentan gar nicht danach, als wolle sie sie hören.

Shoppen ist geil! Früher, als sie noch zur Schule ging, konnte sie sich immer nur das Nötigste kaufen. Dadurch hatte sie echte Schwierigkeiten, mit dem Modetempo ihrer Mitschülerinnen Schritt zu halten. Damals hat ihr Shoppen einfach keinen Spaß gemacht. Sie mußte immer abwägen: „Nimmst du jetzt das Teil oder lieber das ...“ Dauernd mußte sie sich entscheiden, sonst wäre es einfach zu teuer geworden. Heute steht sie in einer Boutique am Kudamm und nimmt einfach beides. Und dieses Gefühl der Allmacht genießt sie sehr. In letzter Zeit verfällt sie immer öfter in eine Art Kaufrausch. Sie bekommt richtig feuchte Hände, wenn sie daran denkt, daß sie gleich mit all den Sachen, die sie gerade aussucht, aus dem Laden spazieren wird und davor nur kurz ihre Platinum-Karte zücken muß. Nur das Verhalten der Verkäuferin, die sie gerade bedient, geht ihr ganz schön auf die Nerven. Sie wird das Gefühl nicht los, daß sie etwas aufgeschwatzt bekommt, was ihr eigentlich gar nicht so richtig steht. Der apricotfarbene Pullover, den sie gerade anprobiert, macht zwar ein ganz schönes Dekolleté, sitzt jedoch unten herum viel zu spack. Irgendwie ist sie sich nicht sicher, ob sie ihn kaufen soll. Die nachlässig blondierte und etwas zu freundliche Verkäuferin rät weiterhin unbeirrt zum Kauf, denn sie geht (zu Recht) von einer gewissen Solvenz ihrer Kundin aus. Diese wiederum mustert sie mißtrauisch und denkt, wahrscheinlich ist die alte Schrulle nur deswegen so freundlich zu mir, weil sie am Umsatz beteiligt ist. Genau deswegen ist sie allerdings eine denkbar schlechte Beraterin. Am liebsten würde die junge Frau mal wieder zusammen mit ihrer besten Freundin Simone shoppen gehen, wie früher, inkognito und ohne belästigt zu werden. Simone ist wenigstens ehrlich zu ihr.

Ben steigt aus der Dusche und wirft sich den seidenen Morgenmantel über, den er von seinem Vater geerbt hat. Das gute Stück ist aus den 60ern, und Ben sieht darin aus wie Sherlock Holmes bei seiner Frühgymnastik. Er füllt Espressopulver in eine kleine silberne Kanne und entzündet eine Flamme seines verbeulten Gasherds. Auf einer zweiten Flamme stellt er einen Topf mit Milch, die er mit einem Schneebesen gewissenhaft aufschäumt. Wenn Ben eins kann, ist es Milchkaffee kochen! Er schiebt Glenn Goulds Goldbergvariationen in den CD-Spieler. Nach den ersten ihm vertrauten Takten fühlt er sich, als streife er die Musik über wie eine bequeme Jacke, und ihm wird wohl und behaglich. Seiner Ex war Bach immer zu depressiv am frühen Morgen, aber Ben bringt das in genau die richtige, klare Stimmung, seine Strategie zu überdenken. Ehrlich gesagt, würde er im Moment jeden musikalischen Job annehmen, den er angeboten bekäme. Das Schöne und zugleich Schreckliche an seiner Situation ist, daß er verdammt viel machen könnte, mit dem, was er gelernt hat. Er könnte überall und nirgends spielen, wenn man ihn fragte. Wenn zum Beispiel die WDR Bigband bei ihm anriefe und er sich in einer Aufnahmesession wiederfände, vor sich eine dreiseitige Notentapete, dann würde er die Musik verdammt noch mal vom Blatt spielen und das gar nicht mal so schlecht. Aber wo und mit wem man wann Musik spielt, hat selten was mit Können zu tun, sondern vielmehr mit dem Stil, den man verkörpert. Und Ben ist einfach nicht gerade bekannt dafür, der mega Bigbandbassist zu sein, so daß er lange auf einen Anruf vom WDR warten kann. Da ist es fast schon wahrscheinlicher, daß das Management von NENA mit ihm Kontakt aufnimmt und ihn für eine Tour engagiert. Bevor das passiert, könnte er sich natürlich auch in irgendeinen Musicalgraben setzen. Dann müßte das Schmerzensgeld allerdings hoch genug sein, denn so schön kann ein Musical gar nicht sein, als daß man es jeden Tag einmal und sonntags sogar zweimal ertragen könnte. Er behält diese Möglichkeit mal im Kopf, für den Fall, daß alle Stricke reißen.

Was ist eigentlich mit meinen Diner-Jazz Spezies? fragt er sich. Diner-Jazz ist nach seiner Definition kein Musikstil, sondern ein Agreement, eine Absprache zwischen seinem Auftraggeber, dem Gastgeber einer Party und der Band, die verspricht, so leise zu spielen, daß sich die Gäste beim Essen noch unterhalten können, jedoch so spritzig jazzig, daß sie denken, der Gastgeber habe Stil, habe irgendwie Klasse, denn er hätte ja auch einen Alleinunterhalter engagieren können. Ben nennt diesen Vorgang leicht ironisch „Jazz für reiche Leute“, was an und für sich keine Schande ist, denn das hat Charly Parker früher auch machen müssen, und der war schließlich einer der größten Jazzmusiker des letzten Jahrhunderts. Für Ben ist es fast die angenehmste Art, mit Gebrauchsmusik Geld zu verdienen. Es wird meistens ganz gut bezahlt, und wenn nicht gerade eine Firma feiert, wandert das Geld schwarz in seine Tasche. Außerdem spielt man gute Musik. Leider bekommt auf so einer Feier niemand mit, wenn man mit seinem Solo in Zimmerlautstärke mal wieder die gesamte Musikwelt des Abendlandes revolutioniert. Trotzdem, irgendwas was in dieser Art wäre jetzt super.

Ben hätte auch nichts gegen einen gutbezahlten Playback-Job im Fernsehen. Ab und zu wird er von einer Agentur vermittelt, um bekannte Popkünstler bei ihrer Playbackperformance zu begleiten. Er bewegt sich dann mit seinem Instrument zu fremder Musik. Eine Art Pop-Ballet. Ben findet es wichtig, daß das echte Musiker machen, nicht so wie in der Sektreklame, wo die „Wo-ist-der-Deinhart?“-Frau, nicht einmal weiß, wie man die Trommelstöcke richtig hält. Aber die Agentur hat dummerweise lange nicht mehr angerufen. Vielleicht, weil sie anderer Ansicht ist als er und findet, daß man genauso gut ein weibliches Model an den Baß stellen kann, um Rentner-Acts wie Phil Collins wenigstens optisch ein bißchen aufzupeppen.

Was fällt ihm noch ein? Unterrichten könnte er mal wieder. Aber das braucht auch einen gewissen Vorlauf. Anzeige in die Zeitung setzen, bei Musikschulen anrufen. All das geht auch nicht über Nacht. Und eigentlich hat Ben auch gar keinen Bock dazu. Seit seinem letzten Plattendeal mußte er nicht mehr unterrichten, und im Grunde ist er auch ein bißchen stolz darauf. Das ist eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, die er gerne möglichst lange herauszögern würde.

So, genug überlegt. Ben schaut erstmal nach seiner Elektro-Post. Nicht schlecht. Posteingang: 27.

Wahrscheinlich ist der größte Teil davon Müll und/oder Konzerthinweise seiner Kollegen. Ben ist sich sicher: Spam-Mails sind die Geschlechtskrankheiten der Neuzeit. Da ist er einmal zum Spaß auf eine Website mit Pornobildern gegangen, und schon erstickt er in Mails, mit denen für Penisverlängerungen geworben wird. Welcher Depp spannt sein bestes Stück schon freiwillig in einen Miniaturschraubstock aus Plastik? Das muß doch weh tun. Es gibt schon krankes Zeug auf der Welt, denkt er. Dabei kann die moderne Telekommunikation doch so viel Spaß machen. Sein Freund Ulf zum Beispiel hat ihm mal eine Mail geschickt, um zu seinem dreißigsten Geburtstag einzuladen. Betreff: Leber Enlargement!

 

Ben versucht weiter, Müll von Inhalt zu trennen. Delete, delete ...

Ah, die ist von Volker, einem von Bens besten Kumpels und Baß-Kollege. Mit ihm hat er zusammen in Köln studiert: Jazz und Popularmusik, wie es so schön heißt, und seitdem sind sie eng befreundet. Betreff: Babylon Busineß! Na, wo drückt denn der Schuh, fragt sich Ben beim Lesen der Mail. Verstehe, Volker braucht Hilfe bei einem Plattendeal. Er hat ihm den Vertragsentwurf mitgeschickt und bittet ihn, mal drüberzuschauen. Da Ben schon ein paar Verträge unterzeichnet hat, findet er meistens tatsächlich noch ein paar Punkte, die man verbessern könnte. Akribisch liest er die fünf Seiten durch und macht sich auf einem Zettel Notizen. Au, was ist das denn? Nein, das geht ja gar nicht! Ben antwortet umgehend.

Betreff: Unverarschbar!

Hallo Volker, altes Fahrrad,

herzlichen Glückwunsch zum potentiellen Plattendeal! Der Vertrag ist soweit ganz OK. Aber bei den Tantiemen mußt du noch ein bißchen pokern. So was vorzuschlagen ist ne echte Frechheit von denen. So etwas habe ich ja noch nie erlebt. Also, bei einem Künstlerdeal sollten es schon 12 % sein. Tiefer würde ich nicht gehen. Laß dich ja nicht verarschen von denen!

Liebe Grüße

Ben

So, weiter. Delete, delete ...

Hey, das ist interessant. Betreff: Wohin mit all der Liebe?

Moment mal. Diesen Satz kennt Ben irgendwoher. Ach richtig, es ist der Titel eines Liedes, das er vor über einem Jahr auf einem Sampler untergebracht hat. Seitdem hat er nichts mehr davon gehört. Kurios, denkt er, aus heiterem Himmel so eine verspätete Reaktion zu bekommen. Das weckt bei ihm Bilder aus seiner Kindheit.

Damals nahm er an einem Luftballon-Wettbewerb teil. Er beschrieb eine Postkarte mit seinem Namen, seiner Adresse und ein paar Grußworten an einen potentiellen Finder und knotete sie erwartungsvoll an einen mit Helium gefüllten Ballon. Auf dem Kirmesplatz, einer großen Wiese, in dessen Nähe er aufgewachsen ist, durfte er den Ballon dann endlich loslassen. Dieser schoß in die Luft davon, wurde immer kleiner und war irgendwann außer Sichtweite. Ein paar Wochen später, nachdem Ben ihn schon vergessen hatte, kam dann die Postkarte matschverschmiert zurück, mit dem Poststempel eines Ortes, von dem er nie zuvor gehört hatte. Eine für Ben immer noch unglaublich romantische Vorstellung. Message in a bottle.

Mit Musik, die er veröffentlicht, ist es oft nicht anders, denkt er. Sie kommt irgendwo raus, und nur, wenn man ganz viel Glück hat und schon gar nicht mehr damit rechnet, kommt irgendwann mal ein Feedback aus der Welt da draußen. Mit dem Stück, das er vor über einem Jahr produziert hat, wußte er zunächst nicht, wohin, da kam ihm die Veröffentlichung auf einer Kompilation gerade recht. Der Sampler wurde kein Riesenhit. Es gab ein paar positive Reviews in der regionalen Presse, aber im Großen und Ganzen ging die Veröffentlichung sang- und klanglos unter, wie bei so vielen Produkten, hinter denen keine riesen Promotion-Maschine sitzt. Um so überraschter ist Ben, als er die Mail vom Campus Radio Köln liest. Der Uni-Sender auf 100 MHZ ist praktisch der einzige in Köln, den man auf Dauer ertragen kann. Die Hippies spielen echt schräges Zeug, meistens Indie oder Punk, nachts manchmal sogar Jazz. Nur mittags, wenn die Moderatoren-Azubis eine Chance bekommen und das Mensamenü verlesen, muß man mal ein Auge zudrücken.

Hallo Ben,

ich bin Redakteurin beim Campus Radio Köln und habe dein Stück Wohin mit all der Liebe? gehört. Ich finde es echt super und würde gerne ein kleines Interview mit dir machen. Meld dich bitte mal, damit wir einen Termin ausmachen können.

Ganz liebe Grüße

Marie.

Wahnsinn. Auf der Platte sind zwanzig Titel, und sie hat seinen rausgesucht. Ben ruft sie an und verabredet sich mit ihr für den morgigen Abend. Er hat schon ein paar Sender von innen gesehen, aber beim Campus Radio Köln war er noch nie und ist echt gespannt, wie es dort wohl aussieht.


„Ja, Mutter, is gut, Mutter.“

Heinz steht telephonierend vor dem Schreibtisch seines sterilen Berliner Büros. Sein Gesicht ist bleich und sein bulliger Körper in sich zusammengesunken. Seine Stimme klingt kleinlaut: „Ja, ich paß auf ... ja, ich habe Unterwäsche zum Wechseln dabei ... natürlich, Mutter ... ja, ich dich auch, bis morgen.“ Heinz drückt die Auflege-Taste seines Handys und hält es weiter vor sich in der Hand, als wäre es eine stinkende Socke. Mit einem schnaubenden Geräusch preßt er Luft durch die Nase. Während er das Telephon in seine Anzugtasche steckt, mahlen seine Kieferknochen sicht- und hörbar. Glasig geht sein Blick ins Leere. So verharrt er gut zwanzig Sekunden. Plötzlich haut er mit voller Wucht auf die Platte seines Schreibtischs, die mit einem Mordslärm hochspringt. Langsam nimmt sein Gesicht wieder Farbe an. Die Verwandlung, die dabei an ihm vor sich geht, könnte nicht spektakulärer sein, wenn er ein Werwolf in natura wäre. Er setzt sich hin und wählt auf dem Tischtelephon die Nummer seiner Sekretärin. Gewohnt unfreundlich teilt er ihr mit, daß er ein Wagen vom Fahrservice braucht: „Und zwar sofort!“

Der Adresse auf seinem Zettel zufolge ist das Campus Radio in einem ganz normalen Wohnhaus untergebracht. Ben klingelt und betritt ein dunkles, ungepflegtes Treppenhaus, in dem es sehr international riecht. Im Erdgeschoß befindet sich laut Türschild das Akademische Auslandsamt und im ersten Stock das Martin-Buber-Institut für Judaistik. Natürlich ist das Studentenradio (wie Studenten im allgemeinen) im fünften, also obersten Stock untergebracht. Die Tür ist offen, und Ben betritt eine Diele, die aussieht, als gehöre sie zu einer stinknormalen Studentenbude. Zur Linken geht eine kleine Kaffeeküche und zur Rechten eine Toilette ab. Alles ist ganz schön versifft. Eine türloser Türrahmen vor Kopf gibt denn Blick auf ein unaufgeräumtes Zimmer frei. Beim Näherkommen kommt Ben verdächtig süßlicher Rauch entgegen. An der Wand hängt ein Tocotronic-Plakat, ein völlig zugekrakelter Kalender vom letzten Jahr sowie ein paar aktuelle Playlisten. In dem etwa linienbusgroßen Raum (wahrscheinlich dem Herzstück der Sendelogistik) lungern acht Studenten herum. Sie sitzen an oder auf ausrangierten Schultischen. Ben fragt sich, ob diese Studenten immer noch oder im Zuge der Retro-Welle wieder so wie früher aussehen, denn sie wirken erschreckend müslihaft auf ihn. Da wird so mancher Keim über Nacht in Wasser eingeweicht, denkt er, während sein Blick über Stapel von Papier, CDs, leeren Pizzakartons und Musikzeitschriften streicht. Erstaunlich, daß die Freaks hier unter solchen Arbeitsbedingungen ein so cooles Programm auf die Beine stellen. Ben ist wie immer pünktlich, also viel zu früh. Die Studenten kommen ihm unglaublich jung vor. Er fühlt sich wie Dr. Pfeiffer in Die Feuerzangenbowle, der sich als erwachsener Mann hier einschmuggelt hat. Ben fragt sich zu Marie durch, die ihn freundlich lächelnd begrüßt. Sie hat blonde Rastalocken und ein Lippenpiercing.

„Grüß dich, Ben, du, der Aufnahmeraum ist noch belegt. Da werden gerade zwei Tänzerinnen interviewt. Die machen irgend so eine Uraufführung nächste Woche. Willste nen Kaffee?“

Wahrscheinlich wird das Campus Radio vom Kultusministerium unterstützt und dazu angehalten, wenigstens ein paar im klassischen Sinne kulturell wertvolle Themen zu bringen, analysiert Ben das bunte Treiben im Sender. Die Tänzerinnen sind fertig und gehen an Ben vorbei, der eine von beiden umwerfend schön findet. Er hört, daß sie einen französischen Akzent hat, und ihre dunklen, fast schwarzen Augen durchbohren ihn, als sie rehgleich an ihm vorbeistreicht. Scheiße, denkt er, warum haben die meisten Tänzerinnen eigentlich keine vernünftigen Titten? Zuviel Sport in der Pubertät ist einfach nicht gesund. Der Aufnahmeraum sieht im Gegensatz zum Büro sehr akkurat aus und bietet eine mit anderen Studios vergleichbare Technik. Zunächst geht der Titel von Ben auf Sendung. Er freut sich, ihn nach langer Zeit mal wieder zu hören und vor allem, daß ihn im gleichen Moment ein Haufen anderer Leute ebenfalls hören. Das ist doch das Schönste, denkt Ben, wenn ich meine Musik mit irgendwem teilen kann.

„Liebe Hörer. Ich sitze hier gerade mit Ben ... äh ...“ Sie gerät ins Stocken und flüstert Ben zu: „Sorry, wie war noch mal dein Nachname?“

„Schröder.“

„... also mit Ben Schröder, dessen chilligen Titel Wohin mit all der Liebe? wir gerade gehört haben. Ben, auf der Kompilation Kölner Schule sind zwanzig Titel von ganz unterschiedlichen Acts. Wie ist es zu dieser Zusammenarbeit gekommen?“

Ben denkt, weil irgend so ein weltfremder Spinner zu viel Geld übrighatte und nicht gepeilt hat, daß Köln nicht Hamburg ist und es hier einfach kein Zusammengehörigkeitsgefühl gibt, weil alle Angst vor dem berüchtigten Kölner Klüngel haben. Aber diese kritische, soziokulturelle Einschätzung kann er ja schlecht über den Äther schicken.

„Also, äh, dieser Sampler ist eine Art Bestandsaufnahme der Kölner Szene, die aufzeigt, wie vielschichtig und heterogen im Moment hier gearbeitet wird.“

„Aha, und was machst du sonst so?“

Wie, sonst? Musik natürlich. Na, ganz verschiedene Sachen eben. Soll sie halt auf meiner Website nachgucken, denkt er ärgerlich. Oder Moment mal – wollte sie eigentlich fragen: Was machst du beruflich? Das ist hier doch hoffentlich kein beschissener Party-Smalltalk, wo er sich Sätze anhören muß wie „Und, kann man davon leben?“ Oder besser noch: „Machen Sie das amateurmäßig oder semiprofessionell?“ Wahnsinn. Da könnte er sich noch stundenlang drüber aufregen, aber so langsam sollte er sich mal eine passende Antwort aus seinem Gehirn schrauben. Tick, tack, tick ...

„Tja, also, ich beschäftige mich ausschließlich mit dem Themengebiet Musik, in seiner gesamten Komplexität.“

Langsam wird Ben locker und hofft, daß die nächste Frage mal ein bißchen mehr hergibt.

„Vielen Dank für das Interview. Jetzt kommen wir zu den Konzerthinweisen fürs Wochenende ...“

Echt, das war alles? Das war aber ganz schön lau, denkt Ben, so richtig aus den Puschen kam das Interview jetzt aber nicht. Beim Rausgehen fragt er sich, ob er jemals einen Status erreichen wird, bei dem sein Interviewpartner vorab etwas über ihn weiß oder, wenn nicht, sich die Mühe macht, es zu recherchieren, um dann auch mal eine interessante, gerne auch persönliche oder sonstwie inhaltlich relevante Frage zu stellen. Er hat das Gefühl, bei allem, was er musikalisch macht, immer wieder bei Null anzufangen. Erst im Flur merkt er, daß ihn das richtig wütend macht. So eine redundante Scheiße. Was denkt sich diese kleine Freizeitredakteurin eigentlich? Ben kommt hier extra vorbeigefahren, erklimmt den fünften Stock ohne Atemgerät und das alles, um dann so ein hohles, nichtssagendes Drecksinterview zu geben. Diese kleinen, schlecht vorbereiteten Independent-Schlampen sind doch keinen Deut besser als die Girlies von MTV, und die haben sich wenigstens vor der Sendung unter den Achseln rasiert. Aber ehrlich. Um sich Luft zu machen, zückt Ben seinen schwarzen Edding extra breit und verziert noch ein bißchen das Treppenhaus mit ein paar postmodernen Aphorismen: Fuck the Shit you Fuckers! Völlig genervt geht er zu seinem VW-Bus und sieht, daß ein Knöllchen unter dem Scheibenwischer klemmt. Wütend rupft er es raus, zerknüllt es und wirft es auf die Straße. Dabei entfährt ihm ein Laut, wie Chewbacca, als der zusammen mit Han Solo vom Todesstern flüchtet: Naaaaaaaeeeeeein. Fassungslos steigt er in seinen Bus und läßt ihn vorglühen. Er braucht zwei Versuche, bis er anspringt. An der ersten Ampel klingelt seine Funke (Smoke on the water). Er schaut auf das Display und sieht, daß es Tine ist, seine Exfreundin. Ben versucht, möglichst gut drauf zu klingen: „Hey, hallo, na, so eine Überraschung.“

„Hör mal, Ben“ purzeln Eiswürfel durch die Leitung, „ich muß mit dir reden.“

„Tun wir doch gerade“, versucht Ben das sich ankündigende Drama noch etwas hinauszuzögern und macht sich schon mal auf das Schlimmste gefaßt, denn er hat ein ganz komisches Gefühl. Verrückt, wie schnell und plastisch sich Emotionen in nur einem Satz bündeln und sich dann auch noch digital zerhackt durchs Telephon übertragen lassen.

 

„Ben, ich wollte dir sagen, ich meine, bevor du es vielleicht von jemand anderem hörst, ich hatte etwas mit Volker.“ Pause.

Ben fährt rechts ran. „Warum erzählst du mir das?“

„Ich dachte, das könnte dich vielleicht interessieren.“

„Mich interessieren? Mir ist es verdammt egal, mit wem du rum...“

„Ben, es tut mir leid.“

Ben ist sprachlos. Er weiß nicht, was er dazu sagen soll. Er kann nicht einmal Wut empfinden, sie zumindest nicht adäquat kanalisieren. Er fühlt sich abgeschnitten von sich selbst. Er sieht nur noch in ein schwarzes Loch und drückt sie weg. So eine überflüssige Scheiße. Man muß sich das mal klarmachen. Es gibt gegenwärtig etwa sechs Milliarden Menschen, ergo circa drei Milliarden Männer auf der Welt, und Tine muß sich gerade einen seiner besten Freunde, nämlich Volker, raussuchen, um ihre sexuelle Freiheit wiederzuentdecken. Das hat doch alles keinen Stil. Das Schicksal scheint Gefallen an hochpotenzierten Szenarien zu finden. Volker reiht sich nahtlos in seine momentane Schadensbilanz ein. Klar, er hat kein Recht mehr, irgend etwas von Tine zu erwarten, sie ist frei, kann machen, was sie will, aber daß sie jetzt auch noch anfängt, ihm sein rudimentäres Restleben zu vermiesen, ist einfach eine Nummer zu hart. Er könnte schreien, kann aber noch nicht einmal das und beginnt, apathisch in der Gegend herumzufahren. Ein Wunder, daß er dabei keinen Unfall baut. Irgendwann bekommt er Hunger. Er hat zwar keinen Appetit, aber sein Körper meldet sich mit einem respektablen Loch im Bauch. Keine Frage, ein Fall für Lena. Die vollschlanke Jugoslawin ist Inhaberin der rustikalen Eckkneipe Bei Lena, die sich als letzte Bastion der realen Welt gegen die schicken Sushi-Bars und Coffee-Lounges rund um den Media-Park behauptet. Außer Kölsch gibt es bei ihr die besten Bratkartoffeln der Welt, und das mitten in der Nacht, was vor allem Taxifahrer zu schätzen wissen. Beim Gericht Bratkartoffeln à la Lena kommen noch riesige, gebratene Speckscheiben oben drauf. Wahrscheinlich ist das das einzige, was Ben jetzt helfen kann, und instinktiv führt ihn seine autistische körperliche Hülle genau an diesen Ort.

„Hey, schönerrr Mann, warum du schaust so trraurig?“

Ben hat etwas Manschetten, Lena sein ganzes Elend zu erzählen, deswegen deutet er den groben Themenkomplex lediglich an: „Frau weg!“

„Ahhh, kommt neue Frrau bald. Wirrst sähn ...“

Ben trinkt ein Kölsch, und wie von Zauberhand steht auf seinem Bierdeckel wieder ein volles. So geht es einige Male, bis die Bratkartoffeln kommen. Währenddessen spielt die Jukebox Connie Francis Schlager aus den 60ern. Wie in Trance fährt sich Ben das Essen rein. Als er sich verabschieden will, setzt sich Lena neben ihn und legt ihren dicken, weißen Arm um seine Schulter, wobei er deutlich ihres herben, etwas säuerlichen Körpergeruchs gewahr wird, der in ihrem Polyesterkittel prächtig gedeiht und sich mit dem Geruch von billiger Seife und Bratenfett vermischt, was Ben zwar ein bißchen fies, aber auch irgendwie beruhigend findet. Sie spendiert ihm einen Julischka und trinkt selber auf sein Wohl einen mit. „Na, siehst du, ist schon bießchen bässerr!“

Eines steht mal wieder fest an diesem Abend: Alles Fotzen, außer Lena!

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