Unverarschbar

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Das MTC ist ein ranziger Kellerladen mitten im Kwartier Latäng, dem Studentenviertel Kölns. Ben fährt mit der U-Bahn zum Zülpicher Platz und legt erstmal einen Zwischenstop beim Eurogrill 2000 ein. Hier gibt es die besten Pommes der Stadt, und vor allem nimmt man sich hier noch die Zeit, die Dinger richtig durchzubraten. Ben bestellt wie immer „einmal Spezial bitte“, den Klassiker vom Eurogrill: Pommes rotweiß mit rohen Zwiebeln obendrauf. Ab und zu braucht er das zum Glücklichsein. Sein Kumpel Tom kann gar nicht mehr ohne. Er ist pommesabhängig, und sein Körper schreit mindestens einmal am Tag nach einer adäquaten Dosis Hüftgold. Erstaunlicherweise ist Tom keineswegs dick, ganz im Gegenteil. Vielleicht ist er ja gleich auch im MTC, denkt Ben und stellt sich mit seinen Fritten an einen der leeren Tische. Die klebrige Tischdecke flüstert: Besser nicht aufstützen!

Ben ist guter Dinge und ventiliert in einem Anflug von Anfang-des-Jahres-Euphorie seine Absicht, heute abend den Gitarristen seiner neuen, noch zu gründenden Band zu finden. Zunächst versucht er sich darüber klarzuwerden, wonach er eigentlich Ausschau hält. Schließlich ist das gemeinsame Spielen in einer Band so etwas ähnliches, wie verheiratet zu sein. Dementsprechend muß der Kandidat extrem hohen Anforderungen genügen. Vor Bens Augen entsteht eine Checkliste. Unter der Überschrift „Der ideale Gitarrist muß ...“ stehen fett gedruckt folgende Punkte:

1. cool aussehen

2. super spielen können

3. abrocken wie eine Drecksau und ganz wichtig

4. die Gitarre auf Sackhöhe hängen haben und natürlich

5. dabei auch noch tierisch nett sein.

Zwei dieser Anforderungen, nämlich 2. und 4., widersprechen sich diametral: Wenn man nämlich alles spielen kann, hat man irgendwann mal in seinem Leben richtig geübt. Und wenn man übt, fällt einem auf, daß es viel schwieriger ist, Gitarre zu spielen, wenn sie einem auf den Knien hängt. Und genau in diesem Dilemma befindet sich Ben, seit er Musik macht. Schon immer fragt er sich: Wie kann es sein, daß es nur zwei Arten von Musikern zu geben scheint: Die, die üben und zu musikalischen Klugscheißern werden, oder diejenigen, die ihr Instrument nicht einmal richtig stimmen können, aber coolen Sound machen? Gibt es – verdammt noch mal – nicht irgend etwas dazwischen? Ben unternimmt an diesem Abend den Versuch der Quadratur des Kreises. Er sucht einen insgeheim versierten, potentiellen Indie-Rockstar, mit dem er seine musikalische Vision teilen kann. Entschlossen wischt er sich den Ketchup aus den Mundwinkeln und läuft die Zülpicher runter. Am Eingang des MTC macht er etwas, was er schon lange nicht mehr bei einem Konzert gemacht hat. Normalerweise wird er alle naselang eingeladen und auf die Gästeliste geschrieben. Von der Band, die spielt oder von ihrem Manager, ihrem Busfahrer, ihrem Lichttechniker oder Mischer. Oder von der Plattenfirma, die ein bestimmtes Kontingent an Karten kaufen muß, damit ihre Band in einem Laden spielen kann und die sie dann an die anderen Musiker ihres Labels verschenkt. Letztes Jahr zum Beispiel war Ben eingeladen auf das Paul-McCartney-Konzert in der Kölnarena, und zwar nur deswegen, weil er am selben Nachmittag zufällig auf seinem Fahrrad an Ulli vorbeifuhr, den er flüchtig kannte. Ulli hatte den stumpfen, aber zum Glück saugut bezahlten Job, vor der Kölnarena eine Traverse aufzubauen, an der bewegliche Lampen befestigt wurden, die den Zugang der Arena mit kleinen, sich bewegenden ARD-Logos illuminierten. Diese Aktion, mit umstrittenem Werbeeffekt, ließ sich der Sender eine schöne Stange Geld kosten. Irgendwo müssen die ganzen GEZ-Gebühren ja schließlich hin. Neben seinem Lohn bekam Ulli noch ein paar Freikarten, mit denen er zunächst gar nichts anzufangen wußte, denn er selbst hatte gar keinen Bock, Sir Paul musizieren zu sehen. Das verschaffte Ben einen 120 Euro teuren Platz in der 15. Reihe, den er sich selber nie hätte leisten können. Er war begeistert. Auch wenn Paul McCartney nicht die Beatles sind, war Ben an jenem Abend überglücklich, die wahrscheinlich letzte Gelegenheit wahrgenommen zu haben, wenigstens ein Viertel der unbestritten größten Band des letzten Jahrhunderts live auf der Bühne zu erleben. Heute abend jedoch steht er vor dem MTC, kennt keinen der Band Crazy Lolitas und bezahlt.

„Oh Mann, Fingernägel brechen immer dann ab, wenn man es gerade überhaupt nicht gebrauchen kann.“

Seit geraumer Zeit schon tut sich nichts mehr vor ihr am Lufthansa Check-in-Schalter. Abwesend nimmt sie die gerade erworbene Destiny’s-Child-CD aus der Tasche und versucht, das Preisschildchen abzuknibbeln. Klick, da knickt ihr weißlackierter, falscher Fingernagel einfach ab und schießt davon. Er titscht auf den Betonboden und kommt unpraktischerweise direkt unter dem Gepäckband neben dem Schalter zu liegen, so daß sie ihn nicht einmal aufheben und mitnehmen kann, um ihn später wieder anzukleben. Ärgerlich betrachtet sie den wieder zum Vorschein gekommenen echten Fingernagel, den sie unverzüglich in den Mund steckt und abkaut, als wolle sie ihn bestrafen.

Diese Warterei macht sie einfach nervös. Ihr ganzes Leben ist irrsinnig hektisch geworden, und sie empfindet so eine außerplanmäßige Verzögerung als weitere Schikane, sie von ihrem wohlverdienten Feierabend abzuhalten. Wie gerne säße sie jetzt auf ihrem roten Plüschsofa, mit einem Glas Cola Light in der Hand und einer Buffy-DVD im Player? Aber so schnell wird das heute nichts. Der Lärm im Terminal holt sie zurück ins Jetzt. Ihre Nerven liegen blank, und deswegen reagiert sie mehr als gereizt auf Preisschilder, die nicht abgehen, beziehungsweise Fingernägel, die zu früh abgehen (nämlich nach nicht einmal zwei Tagen). Da bauen sie winzige Kameras in Handys ein und können noch nicht mal den richtigen Kleber benutzen. Vielleicht sollte man den Fingernagel direkt mit dem Preisschildkleber dranpappen, dann wäre er jetzt immer noch dort, wo er hingehört. Sowas. Langsam kommt Bewegung in die Schlange.

Selbst der Kassenwart vom MTC hat etwas Schmieriges. Schlechtgelaunt hockt er ketterauchend auf einem Barhocker an einem kleinen Holztischchen und knöpft Ben acht Euro ab. Statt einer Eintrittskarte gibt es einen Stempel, was Ben gar nicht recht ist: „Die Scheiße geht doch nie wieder ab ...“

Die grauhaarige Lederjacke an der Kasse läßt jedoch nicht mit sich diskutieren und stempelt ihm Storno auf den Handrücken. Arschloch, denkt Ben und geht die schmale, L-förmige Treppe runter in den Keller, wo ihm bereits ein süßliches Rock&Roll-Parfum aus Zigarettenrauch, verschüttetem Bier und Klostein entgegenströmt. Er betritt einen langen Schlauch mit gekacheltem Boden, der parallel zu einer Theke verläuft und sich vor der Bühne wieder verbreitert. Wenn dort um die 150 Zuschauer stünden, wäre es schon ordentlich gestopft. Im Moment jedoch, oxidieren dort ein paar einzelne Gestalten herum, die darauf warten, herauszufinden, was die Crazy Lolitas so drauf haben. Natürlich geht das Konzert nicht pünktlich los, zumal so wenig Leute da sind. Jede Band hat die irreale Hoffnung, daß sich noch was tut an der Kasse, wenn sie nur lang genug wartet. Das ist natürlich Käse. Und die Gäste, die bereits da sind, kriegen langsam schlechte Laune oder fangen im besten Fall schon mal an zu trinken, was ja der Rezeption der Musik durchaus zuträglich sein kann. Ben peilt derweil die Lage. Ob er wohl irgend jemanden kennt im bislang sehr übersichtlichen Publikum? Und Tatsache: An der Bar lehnt Jan, ein junggebliebener Enddreißiger von der Kölner Illustrierten. In Bens Augen einer von den Guten, obwohl er für die Musikpresse arbeitet. Er hat nämlich immer nur positiv über die SERVOKINGS geschrieben.

„Hi, Jan. Und, können die was?“

„Keine Ahnung. Das ist das neue Ding von der EMI. Die Lolitas haben mit ihrem letzten Demo gleich einen riesen Plattendeal bekommen. Du mußt mal auf die Sängerin achten. Die sieht echt hasig aus.“

Irgendwie nimmt Ben solche Meldungen immer persönlich. Jahrelang hat er um einen Plattendeal gekämpft, sich den Arsch abgespielt und es kein einziges Mal geschafft, einen Plattenheini auf eines seiner Konzerte zu lotsen. Und dieses Studioprojekt bekommt sofort einen 1a Vertrag bei einem Major Label.

Die Welt ist schlecht, warum muß das so sein ...! erinnert er sich an einen seiner Texte. Plötzlich betreten die Crazy Lolitas die Bühne. Zunächst verpennt die Frau hinter der Theke, die Kneipenmucke auszumachen. Nach kurzer Verzögerung panzert die Musik von der Bühne los. Gar nicht mal so schlecht, findet Ben. Komisch jedoch, daß sich bislang noch niemand von der Band bewegt. Kommt wahrscheinlich alles von der Minidisc, analysiert er weiter, und da ist er schon mal grundsätzlich fies für. Ben steht halt auf handgemachte, ehrliche Musik. Trotzdem geht er ein paar Schritte näher an die Bühne heran, um zu prüfen, ob Jan nicht zuviel versprochen hat. Und Tatsache: Die Sängerin sieht super aus. Sie hat einen kecken, rötlich schimmernden Pagenkopf und trägt ein knappes weißes T-Shirt, was den Blick auf ihren hübschen, gepierceten Bauchnabel zuläßt. Arschgeweih oder nicht? rätselt Ben. Davon abgesehen kann sie wirklich toll singen, was in einem krassen Gegensatz zu ihrer Performance steht. Sie wirkt extrem unlocker, als habe sie jemand auf der Bühne abgestellt und dort vergessen. Das erste Stück ist zu Ende, und das spärliche Publikum spendet einen ebenso spärlichen Applaus. Es entsteht eine peinliche Pause, denn der Sampler des Keyboarders hat gerade seinen Geist aufgegeben. Die Sängerin, die Susan heißt, wird von der unfreiwilligen Pause böse überrascht. Sie ergreift, dramaturgisch sehr unglücklich, die Gelegenheit, die Band vorzustellen.

„An der Gitarre haben wir den Jörg.“ Vereinzelte Klatscher.

 

„Am Keyboard ist der Xaver.“ Ungünstigerweise hockt Xaver gerade mit dem Rücken zum Publikum vor einem verwirrenden Kabelhaufen und versucht herauszufinden, was mit der Stromversorgung seines Keyboards los ist. Als er vorgestellt wird, kann man seine Arschritze sehen. Susan fällt langsam nichts mehr ein. Gerade erwähnt sie die in Kürze erscheinende CD ihrer Band, als ein besoffener Zuschauer „Ausziehen!“ brüllt. Ein anderer, weitaus differenzierterer Konzertbesucher schreit: „Hör auf zu labern, sing!“ Ben kann sich diesem Statement nur anschließen und überlegt bereits, was wohl ein probates Mittel wäre, dieser peinlichen Veranstaltung die richtige Wendung zu geben. Sein Blick schweift den engen Gang neben der Theke entlang, an dessen Ende der Mischer hinter sein Pult gequetscht steht. Im Vorbeigehen zieht Ben rasch und unbemerkt ein Kabel vom Mischpult, als sei er David Copperfield und bereitet so dem Ansageelend des Bauchnabelwunders ein schmerzloses Ende. Zunächst spricht Susan weiter, bis sie bemerkt, daß sie vor der Bühne gar nicht mehr zu hören ist. Verstört klopft sie auf ihr Mikro und fuchtelt hektisch mit den Armen, um dem Mischer zu bedeuten, daß er doch bitte schnell irgend etwas unternehmen soll. Dieser nestelt ratlos an seinen Knöpfen und geht schließlich um sein Pult herum, um zu gucken, was da los ist. Ben nutzt die Gelegenheit und reißt unbemerkt den Regler des Gesangskanals voll auf. Noch auf der Treppe hört er, daß sein Plan aufgeht: Als der Tontechniker das lose Kabel findet und wieder einsteckt, gibt es eine brüllend laute Rückkopplung, einen irrsinnig hohen, bestialisch schrillen Ton, so daß die Sängerin halb taub und der Bedarf des Publikums an Live-Musik zumindest an diesem Abend schlagartig gedeckt ist. Strafe muß sein, denkt Ben und geht raus auf die Straße.


Wow, das hat gesessen. Wie man doch mit kleinen Mitteln eine große Wirkung erzielen kann, hört er seine innere Stimme sprechen und sieht, daß ihm sein eigenes Spiegelbild aus dem dunklen Schaufenster eines Lack- und Ledergeschäftes komplizenhaft zulächelt. Scheiße, das hat leider Spaß gemacht. Zufrieden geht er direkt um die Ecke ins Feynsinn, um noch ein, zwei Kölsch zu trinken. Hoffentlich arbeitet dort wieder die hübsche Bedienung von letzter Woche. Eigentlich ist ihm der Laden einen Tick zu spießig, aber die braungelockte Kellnerin geht ihm partout nicht aus dem Sinn. Fasziniert denkt er an ihren leichten Silberblick. Er schaut sich um, kann sie allerdings nirgendwo entdecken. Nach kurzer Zeit schon fühlt sich Ben geräuchert wie eine Rügenwalder Teewurst. Zu viele Raucher auf einem Fleck sorgen mal wieder für beachtlich schlechte Luft im Feynsinn. Statt in eine ordentliche Lüftung hat der Besitzer lieber in Kunst an der Wand investiert. Da hilft nur abhauen oder mitrauchen. Dummerweise hatte sich Ben just gestern vorgenommen, mit dem Rauchen aufzuhören, um im neuen Jahr erstmal ein Signal in Sachen Fitness zu setzen. Als Ben gerade wieder gehen will, kommt die braungelockte Gefahr aus der Küche, als glitte sie auf Schlittschuhen. Trotz der schlechten Luftverhältnisse weht ihm ein Molekül ihres Parfums in die Nase, als sie an ihm vorbeischwebt. Ein blumiger, schwerer Duft, der ihn an irgend etwas erinnert, er kommt jedoch nicht darauf, was es ist. Bilder rauschen durch seinen Kopf. Er denkt an seine Sportlehrerin, an ein Federbett mit Spitzen, an Weihnachten und Frühling zugleich ... So geht es ihm oft mit Gerüchen. Bisweilen stimmen sie ihn melancholisch, und er weiß nicht, warum. Womöglich stimmt es, was er einmal irgendwo gelesen hat, daß Gerüche im Gehirn direkt mit dem Gefühlszentrum verbunden seien, und wahrscheinlich geben Menschen deswegen bereitwillig Unsummen für Parfums aus, einfach um sich besser zu fühlen. Ben ist froh, als er einen freien Platz ergattert. Kraftlos läßt er sich nieder. Er weiß, daß er auf verlorenem Posten kämpft. Hat man jemals von einer Beziehung gehört, die durch vorsätzliches Angraben der Bedienung ins Rollen kam? Never ever. Kellnerinnen sind tabu, sind quasi geschlechtslos, in jedem Falle jedoch blind für jegliche Annäherung seitens der Gäste. Anders würden sie ihren Job gar nicht aushalten. Besonders wuschig macht ihn, daß sie durch ihn hindurchzuschauen scheint. Immer wieder blickt er verstohlen zu ihr herüber. Er mag, wie sie sich kleidet. Sie hat einen ganz eigenen Stil. Irgendwie origineller als dieser ganze H&M-Dreck. Wenn er sie anschaut, kommen ihm ganz wilde Gedanken. Er könnte schwören, daß sie „Oh Gott“ sagt beim Sex, und er ist sich gar nicht sicher, wie er das fände, wenn es soweit käme. Außerdem vermutet er, daß sie mit ihrem Kellnerjob irgend etwas finanziert, was sie eigentlich machen möchte. Irgend etwas Kreatives. Er weiß noch nicht genau, was, aber er ist sich sicher: das Kellnern ist nur ein Mittel zum Zweck. Meistens treffen seine Vorahnungen ins Schwarze, aber er ist smart genug, sie für sich zu behalten, denn wenn sie zutreffen, stiften sie meist große Verwirrung: „Woher weißt du das? Sieht man mir das an? ...“, und wenn nicht, gibt es erst recht Ärger: „Was soll das denn heißen? Wie bist du denn drauf ...“ Ben kann seinen Blick nicht von ihr wenden.

„Hoffentlich hat sie keinen Hund. Hoffentlich hat sie keinen verdammten Hund ...“, denkt er, denn Frauen mit Hund machen ihm Angst. Ihre Kollegin fragt Ben, was er trinken wolle. Er reagiert wie in Zeitlupe, da diese Frage ihn ganz unerwartet aus seinen Gedanken reißt und bestellt dann ein Kölsch. Schlagartig bekommt er Schmacht auf eine Zigarette. Er beschließt, seine guten Vorsätze auf morgen zu verschieben und schaut sich nach potentiellen Schnorr-Opfern um. Nach eingehender Analyse seiner Umgebung, wendet er sich vertrauensvoll an eine Frau zu seiner Linken, die in ihrer weißen Bluse mit hochgeschlagenem Kragen und Perlenkette schwer nach Event-Managerin und (trotzdem) irgendwie am spendabelsten aussieht. Tatsächlich hat sie eine Benson & Hedges für ihn übrig. Frauen anzuschnorren klappt meistens besser. Typen sagen gerne mal als Antwort auf seinen Standardspruch „Hey, könnte ich mir von dir mal eine Kippe leihen?“ „Am Arsch!“ oder: „Isch gib dir gleisch eine leihen.“ Frauen reagieren fast immer bereitwillig mit dem Entgegenhalten ihres Päckchens und einem Lächeln. Manchmal sagen sie auch: „Das sind aber leichte.“ Und Ben sagt dann immer: „Ist nicht schlimm.“

„Brauchst du auch Feuer?“

„Ich bitte darum.“ Eine leicht antiquierte Floskel, die Ben an seinen Vater denken läßt. Wenn die angeschnorrte Frau einen Typen dabeihat, sagt dieser gerne auch mal Sachen wie „Aber rauchen kannste alleine?!“ Schnorren ist schon ein bißchen asozial. Paffend sitzt er am Tisch, behält die braunen Locken im Auge und überlegt sich, wie er sie wohl am besten ansprechen könne. Ein eigener Text seiner Band kommt ihm in den Sinn: Gar nicht lange labern, keine Scheiße erzählen, keine dummen Sprüche, du mußt dich selbst nicht quälen, denn Hallo ist ganz einfach, und jeder versteht es, glaube mir, so einfach geht es: Hallo, Hallo, sage einfach Hallo ... OK, so ging der Text, aber hatte er es jemals im wirklichen Leben probiert? Ehrlich gesagt, nein.

Ben atmet tief durch und wartet darauf, daß sie wieder an seinem Tisch vorbeischwebt. Plötzlich bemerkt er, daß sein Glas immer noch voll vor ihm steht. Na, da kann ich ja lange warten, denkt er und trinkt es auf ex. Beim Absetzen kommt automatisch die Bedienung an seinen Tisch. Leider wieder die falsche. Die Tische scheinen aufgeteilt zu sein, und an seinem wird das heute nichts. Er muß sie zwischendurch auf dem Weg zur Toilette abfangen. Die Stringenz seiner Gedanken überrascht ihn selbst, komisch, soviel Entschlußkraft in Sachen Erstkontakt hatte er bislang nicht. Irgendwie hat seine fatalistische Grundstimmung auch etwas Gutes; er hat einfach nichts mehr zu verlieren. Also, ran an die Buletten. Er steht auf und geht Richtung WC. Perfekt getimed, wie sich herausstellt: Gerade als er um die Ecke biegt, kommt ihm sein brünetter Traum entgegen. Er schaut ihr direkt in die Augen und sagt: „Hallo.“

Sie schaut zurück, lächelt und antwortet: „Hallo.“

Damit hat er nicht gerechnet. Er dachte, sie sagt etwas wie: „Bitte?“ oder „Kennen wir uns?“ In diesem Fall hätte er versucht, möglichst spontan wirkend zu entgegnen: „Nein, aber ich würde das gerne ändern ...“ Aber einfach nur „Hallo“ hat Ben so überrascht, daß er wortlos weitergeht und im Klo verschwindet.

Was war das denn jetzt? Scheiße. Du hast es versaut. Du bist einfach nicht spontan genug. Sie hat dich angelächelt.

Sie macht das bei jedem.

Sie meinte, dich zu kennen.

Sie tut einfach nur so, damit du dich als Gast ernstgenommen fühlst.

Sie kennt dich wirklich vom Sehen.

War ich schon so oft hier?

Sie kennt dich von woanders her.

Aber woher, verdammt?

Bens interner Dialog schraubt sich in ungeahnte Höhen wie ein dialektischer Disput von Platon oder gar ein Gespräch zwischen Jack Lemon und Walter Matthau in Männerwirtschaft. Vor Aufregung kann er kaum pissen. Er steht am Pissoir, und seine Gedanken rasen. Mit den Augen fährt er die Kacheln entlang nach oben und sieht einen Aufkleber der SERVOKINGS, den die Putzfrau nach Jahren immer noch nicht abgerubbelt bekommen hat. Das läßt ihn lächeln und endlich pissen. Gute Qualität, denkt er, geht sich die Hände waschen und dann direkt zur Theke, um zu zahlen. Beim Rausgehen ist er sich sicher: Ich werde, ich muß diese Frau kennenlernen. Das war gar nicht so schlecht für den Anfang, aber ich muß meine Strategie ändern. Das Lied Hallo mag er immer noch.

Hallo, mein Name ist Ben, ich habe dich letzte Woche schon mit meinen Augen verschlungen, finde dich sehr attraktiv und möchte dich gerne kennenlernen wäre auch ein selten dämlicher Liedtitel.


Ben will ins Bett, am besten schnell. Er läuft zum Zülpicher Platz und entnimmt dem Fahrplan, daß er die letzte U-Bahn, die ihn in absehbarer Zeit auf die andere Rheinseite bringen könnte, dummerweise gerade verpaßt hat und das um kurz nach zwölf.

Für eine Großstadt hat Köln ein verdammt lausiges U-Bahn-Netz. Daß Köln überhaupt eine Großstadt ist, bezweifelt Ben bisweilen. Und auf knapp eine Million Einwohner kommt sie auch nur, weil sie irgendwann mal alles eingemeindet hat, was bei drei nicht auf den Bäumen war. Großstadt hin oder her, es hilft nichts; Ben steigt in ein Taxi. Um einem etwaigen Smalltalk zu entgehen, nimmt er auf der Rückbank Platz und nennt seine Adresse in Deutz. Beim Losfahren wird er der grausamen Musik gewahr, die der Taxifahrer, als wolle er ihn ärgern, auch noch lauter dreht. Dem kompromißlosen WDR 4-Schlagerbrett fühlt sich Ben allerdings momentan nicht gewachsen und fragt freundlich, aber bestimmt: „Könnten Sie die Musik bitte ausstellen?“

Dabei schaut er dem Taxifahrer auf seine, trotz gekonnter Hol-über-Frisur, nur spärlich mit fettigen Haaren bedeckte Kopfhaut.

„Mögen Sie keine Musik?“

Musik schon, aber nicht so eine Grütze, denkt Ben, sagt jedoch: „Bin gerade nicht in der richtigen Stimmung.“

„Aha, welche Stimmung hätten Sie denn gerne?“ mißversteht ihn der Fahrer und fummelt bereits an der Senderwahl seines Digitalradios. Es erklingt ein halber Satz Nachrichten: „... haben die Erwartungen der Parteispitze bei weitem nicht erfü...“, dann ein halber Takt von Vivaldis Vier Jahreszeiten und schließlich der Refrain der neuen Janine Paffrath Single Come closer, Baby! was in Bens Verfassung eindeutig zu viel ist.

„Machen Sie den Scheiß aus ... Bitte.“

Diese jungen Leute werden immer unverschämter, denkt sich der Taxifahrer und stellt irritiert das Radio ab. In die einsetzende Stille schneidet das Klingeln seines Mobiltelephons in einer irrsinnigen Lautstärke. Er geht nicht ran, und so kommt Ben in den Genuß des gesamten Kehrreims von En unserem Veedel.

„Schön, nicht?“

Ben wird langsam ungehalten. Handy-Klingeltöne sind für ihn akustische Umweltverschmutzung. Man muß sich das mal klarmachen: Menschen bezahlen für solche Klingeltöne auch noch Geld. Aus dem Internet ziehen sie sich megabyteweise Musik runter – und zwar kostenlos –, aber für Klingeltöne zahlen sie richtig Kohle, dabei kann man die selbst programmieren, vorausgesetzt, man besitzt einen IQ über Zimmertemperatur. An einer roten Ampel kommt das Taxi zum Stehen. Anscheinend probiert es der Anrufer erneut, denn das Handy entfesselt abermals seine apokalyptische Kakophonie.

 

„Können Sie das Ding nicht stumm stellen?“ fragt Ben gereizt.

„Keine Ahnung, wie das geht.“

„Zeigen Sie mal her.“ Ben reißt dem Fahrer das Handy aus der Hand, öffnet die Tür, wirft es auf die Straße und springt selbst hinterher.

Geschmack kann man halt nicht kaufen, denkt er und rennt los.