Seerausch

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Kapitel 8

Die wärmenden Strahlen der Septembersonne hatten nochmals viele Menschen auf die Promenade und in die Gastgärten gelockt, und so waren die Bänke und Tische des »Wirtshaus am See« fast alle besetzt. Isabel und Timo hielten Ausschau nach einem freien Tisch. Kaum hatten sie Platz genommen, eilte schon eine Kellnerin in grünem Dirndl und Bluse mit großzügigem Oktoberfestausschnitt auf sie zu. Ihre braunen Haare ruhten, zu einem dicken Zopf geflochten, auf ihrer linken Brust. Sie baute ihre stattliche Erscheinung vor Timo auf, zückte erwartungsvoll Stift und Orderman und fragte mit gewinnendem Lächeln: »Was darf’s denn sein?«

Als sie nicht sofort eine Antwort erhielt, zwinkerte sie Timo zu und fügte keck an: »Da haben Sie sich aber eine schöne Frau ausgesucht.«

Augenblicklich zog in Timos Gesicht dunkelrote Farbe auf. Seine Augen begannen zu leuchten. Vollkommen perplex schaute er Isabel an und blickte dann zur Kellnerin auf. Er war viel zu verdattert, um auch nur einen Ton herausbringen zu können, und fuhr sich verlegen über seine Stoppelhaare. Zwar stotterte er ein paar Silben, doch keine der beiden Frauen konnte diese verstehen.

Isabel grinste und antwortete an seiner Stelle: »Ein Weizenbier, alkoholfrei, bitte.« Mit Blick auf Timo, der nun nickte, fügte sie hinzu: »Und für meinen Kollegen auch.«

Die Kellnerin bewegte ihren Stift über das kleine Display und schien kein bisschen verunsichert. Sie bestätigte, machte auf dem Absatz kehrt und eilte mit fliegenden Röcken zum Tresen.

Isabel raunte Timo zu: »Nimm das nicht so ernst, Timo. Den Spruch sagt sie bestimmt zu jedem. Dann freuen sich die Männer und geben großzügig Trinkgeld.«

Hüftschwingend näherte sich die Bedienung wieder und stellte zwei Krüge auf den Tisch. Gebannt starrte Timo auf die dunkle Ritze zwischen ihren Brüsten. Sie schenkte Timo einen weiteren Blick und wünschte mit samtiger Stimme: »Zum Wohl.«

Isabel registrierte belustigt das Geschehen, bedankte sich und beschloss, auf den angeschlagenen Ton einzusteigen. Sie schaute zu der Kellnerin auf und sagte: »Mit dieser Stimme sollten Sie beim Radio arbeiten.«

Schlagfertig antwortete die Angesprochene: »Das hab ich schon probiert, aber da wird man nicht braun bei der Arbeit!«

Ihre beiden Gäste grinsten. Timo beobachtete sie, als sie weitere Gäste bediente. Bald hatte er seine Sprache wiedergefunden und bekannte: »So redegewandt möchte ich mal sein. Prost, Isabel.«

»Prost, Timo«, sagte Isabel, und lächelnd fügte sie hinzu: »Bist du wieder im Lot?«

Timo fühlte sich ertappt. Das Rot in seinem Gesicht leuchtete erneut auf, doch er lächelte zurück.

»Vorhin, bei Markus’ Reaktion, blieb dir mal kurz die Spucke weg, stimmt’s?«, fragte Isabel.

»Ja, wenn der Markus auch anfängt, mich zu mobben, bin ich die längste Zeit hier gewesen. Das lass ich mir nicht noch mal gefallen, auch von ihm nicht!«, antwortete Timo in einem Ton, den Isabel noch nie von ihm gehört hatte.

Sie beruhigte ihn: »Timo, du weißt doch, der Markus ist sonst nicht so. Der ist gerade nur total gestresst und urlaubsreif. Er hat ja auch den ganzen Sommer über keinen Tag freinehmen können.«

»Wir auch nicht! Das gibt ihm nicht das Recht, mich so runterlaufen zu lassen.«

Isabel und Timo erhoben nochmals ihre Krüge. Drei lange Signaltöne drangen an ihre Ohren, und sie schauten zur »MS Baden« hinüber. Das älteste Fahrgastschiff der Weißen Flotte passierte gerade die Hafeneinfahrt und steuerte auf den Anlegesteg zu.

»Guck mal, wie viele Radfahrer und Touristen die »Baden« ausspuckt. Unglaublich, was in so einen Schiffsbauch alles reinpasst«, wunderte sich Isabel, während sie das bunte Völkchen beobachtete, das sich über die Gangway zum Steg schob. Ihre Blicke wanderten weiter zum Aussichtsturm nebenan. Die Strahlen der Abendsonne brachen sich an dem dunklen Stahlgerippe. Die Menschen, die die Treppen hoch- und herunterstiegen, wirkten auf die Entfernung winzig wie Ameisen ebenso wie die vielen Besucher, die von der Aussichtsplattform oben den Sonnenuntergang betrachten wollten.

Timo beobachtete an einem der Nebentische ein junges asiatisches Paar. Er gab Isabel ein Zeichen, und gemeinsam verfolgten sie amüsiert die Szene: Vor dem Paar standen zwei Teller mit Schweinshaxen und Sauerkraut, dazu zwei Maß Bier. Isabel schmunzelte, als die zierliche Frau den mächtigen Knochen aus der Hand legte und den Krug aus schwerem Steingut anheben wollte. Es gelang ihr nicht. Sie musste den Maßkrug mit beiden Händen umfassen, um ihn überhaupt zum Mund führen zu können.

Auch Timo griente, doch ihn beschäftigte mittlerweile etwas anderes: Er zerbrach sich den Kopf, wie er es anstellen könnte, Isabel zu einem Segelausflug auf dem Boot seiner Eltern zu gewinnen. Er wusste seit ihrem Törn im Sommer, dass Isabel genauso gut und auch genauso gern segelte wie er. Ob sie wohl nach allem, was vorgefallen war, noch genug Vertrauen zu ihm haben würde, um mitzukommen? Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte: »Isabel, mein Vater hat sich schon einen Kran­termin geben lassen, um sein Segelboot aus dem Wasser zu nehmen. Bevor die ›Xie‹ ins Winterlager kommt, könnten wir beide nochmals segeln gehen. Was meinst du? Hast du Lust?«

Isabel zögerte. Seit dem Unglück hatte sie außer dem Katamaran kein Boot mehr betreten, nicht einmal ein Polizeiboot. Was, wenn sie von einer weiteren Panikattacke überfallen würde? Auf Wasser reagierten ihr Körper und ihr Kopf nach wie vor unberechenbar. Auf jeden Fall müsste sie mit Lena die Situation vorher durchspielen. Mit Unterstützung der erfahrenen Psychotherapeutin würde sie sich eher auf schwankende Schiffsplanken trauen.

Timos Finger wanderten unruhig den Bierkrug auf und ab, während er auf Isabels Antwort wartete. Endlich sagte sie: »Grundsätzlich gern, du weißt, wie sehr ich segeln liebe, aber … und das hat nichts mit dir zu tun …«, sie machte eine Pause und ihr Blick wanderte auf die Wasserfläche, »ich hab’s seit dem Unglück nicht mehr so mit Booten. Ich war auch nicht mehr auf Bootsstreife. Das einzige Boot, auf das ich inzwischen einen Fuß gesetzt hab, ist der Katamaran.« Isabel sah die Enttäuschung in Timos Gesicht und fügte hinzu: »Wann ist denn der Termin?«

»In ein paar Wochen, hab gar nicht so richtig zugehört«, antwortete Timo, »um den 20. Oktober herum.«

»Dann haben wir ja noch etwas Zeit. Darf ich das kurzfristig entscheiden, wenn mal eine leichte Brise lockt so wie heute?«, fragte Isabel.

Erleichtert nickte Timo. »Klar! Sag’s mir dann eben. Ich hab nach Dienstschluss selten etwas vor. Wir können auch jederzeit abbrechen und in den Hafen zurückfahren, wenn’s dir nicht gutgeht.«

In diesem Moment vernahmen sie einen lauten, anhaltenden Schrei. Gleichzeitig mit den anderen Gästen und den Spaziergängern auf der Promenade wandten auch Isabel und Timo ihre Köpfe in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Sie sahen gerade noch, wie ein Mensch aus über 20 Metern vom Moleturm ins Wasser stürzte. Bei seinem Aufprall spritzte es meterhoch. Ein Raunen ging durch die Menschenmenge.

»Ach du Scheiße, ist der lebensmüde?«, schrie Timo. Zwei der massiven Holzbänke kippten krachend um, als Timo und Isabel gleichzeitig aufsprangen und auf die Mole hinausrannten. Dort angekommen, kämpften sie sich durch die Gaffenden zum Geländer vor und sahen den Körper eines Mannes, der nun mit dem Gesicht nach unten auf der Wasserfläche trieb. Ohne lange zu überlegen, drückte Timo Isabel sein Handy in die Hand, schwang sich über das Geländer und sprang ins Wasser.

Rund um den Turm war es nur wenige Meter tief. Isabel hielt die Luft an, fror und schwitzte gleichzeitig. Im Moment hätte sie es nicht über sich gebracht, in den See zu springen. Vielmehr stand sie wie angewurzelt. In ihrem Kopf drehte sich alles. Es gelang ihr gerade noch, die Nummer 112 anzurufen. Dann krallte sie sich mit beiden Händen am Geländer fest, um nicht umzukippen.

Timo hatte inzwischen den Mann im Wasser erreicht, drehte ihn auf den Rücken und griff mit einem Arm um seinen Oberkörper. Suchend blickte er um sich, entdeckte aber rund um den Turm keine Möglichkeit, hochzuklettern. Dort wo Uferpromenade und Mole im rechten Winkel aufeinandertrafen, hatte sich eine kleine Sand- und Kiesbank gebildet. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, er musste den Mann dorthin schleppen. Er griff fester zu und schwamm los. Dutzende von Schaulustigen, die sich am Geländer der Mole und entlang der Uferpromenade drängten, erwarteten die beiden, um das Geschehen aus nächster Nähe beobachten zu können. Unter Schubsen und Drängen richteten sie ihre Handys auf die beiden Männer. Keuchend kam Timo an und versuchte sofort, den Mann wiederzubeleben.

Isabel war ebenfalls zur Promenade zurückgeeilt. Sie schaute zu den beiden hinunter, traute sich aber nicht, über das Geländer zu steigen. Was sollte sie da unten auch tun? Sie atmete erleichtert auf, als sie das immer lauter werdende Martinshorn vernahm. Ein Rettungswagen näherte sich mit Blaulicht, gefolgt vom Wagen mit dem Notarzt. Zwei Rettungssanitäter stiegen aus. Isabel winkte ihnen zu und erklärte in knappen Worten, was vorgefallen war. Arzt und Sanitäter bahnten sich einen Weg durch die zwischenzeitlich beachtlich angewachsene Menschenmenge und schlüpften unter dem Geländer hindurch hinunter ans Ufer.

Einer der Sanitäter gab Timo ein Zeichen und setzte an seiner Stelle die Beatmung fort. Froh, die Hilfe den Fachleuten überlassen zu können, ließ sich Timo erschöpft an die Mauer sinken. Bereits wenige Minuten später konnte der Gerettete auf einer Liege abtransportiert werden. Sein Zustand war stabil, aber er hatte das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt.

Kapitel 9

Am folgenden Morgen erwachte Isabel schweißgebadet. Im Traum war sie es gewesen, die einen Selbstmörder aus dem Bodensee ziehen wollte, der sie aber mit sich in die Tiefe riss. So hatte sie ein weiteres Mal den eigenen Unfall durchleiden müssen. Mit dröhnendem Kopf und matten Gliedern richtete Isabel sich auf und stellte fest, dass das Bett neben ihr leer war.

 

Sie fand Thomas in der Küche, wo er bereits am Kaffeeautomaten hantierte. »Guten Morgen. Du bist schon wach?«, fragte sie und rieb sich schlaftrunken die Augen. Auch jetzt, nachdem sie nach dem Unfall wieder zu einem einigermaßen geregelten Tagesablauf zurückgefunden hatte, räumte Thomas schon mal den Tisch ab und befüllte die Spülmaschine. Isabel runzelte die Stirn und verfolgte seine Bewegungen. Sie überlegte, ob seine Liebe zu ihr neu erwacht war oder ob eher Mitleid ihren Lebensgefährten motivierte. Letzteres war etwas, was sie keinesfalls haben wollte. Von niemandem, am allerwenigsten von Thomas. Ein klärendes Gespräch hatte sie bisher nicht gesucht, viel zu sehr war sie mit sich selbst beschäftigt gewesen. Und auch jetzt fühlte sie sich dazu nicht fit genug.

Thomas drehte sich ihr zu und antwortete: »Guten Morgen, Isabel. Ich habe gedacht, heute mach ich einmal das Frühstück.«

»Okay, dann geh ich erst mal ins Bad.« Mit diesen Worten machte Isabel kehrt und verließ die Küche. Normalerweise liebte sie den Duft von frisch gebrühtem Kaffee, doch an diesem Morgen verursachte er bei ihr ein Unwohlsein, das sie nicht definieren konnte. Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihr Spiegelbild, nur um festzustellen, dass die dunklen Ringe um die Augen noch dunkler waren als tags zuvor. Um ihren Kreislauf auch ohne Dusche in Schwung zu bringen, tauchte sie einen Waschlappen in kaltes Wasser und rieb ihren Körper ab. Als sie wieder die Küche betrat, fragte Thomas: »Magst du Müsli?«

»Hm, ich weiß nicht. Erst mal ein Glas Wasser und dann ’nen Kaffee«, antwortete Isabel, rümpfte die Nase und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Die Hand, mit der sie gerade ihre Locken zurückgeschoben hatte, wanderte zu ihrem Bauch. Etwas krümmte sich gerade da unten zusammen. Nichts Ungewöhnliches in den Tagen, bevor ihre Monatsblutung einsetzte. Sie stöhnte leise.

»Was ist los, Isabel? Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Thomas besorgt und stellte ein Glas mit Leitungswasser vor ihr auf den Tisch. Das kalte Nass rieselte Isabels Speiseröhre hinunter, und als es in ihrem Magen ankam, verstärkte es ihre Übelkeit noch. Isabel legte beide Hände auf ihren Bauch und jammerte: »Ich weiß nicht, ich glaube, warmer Kaffee wäre vielleicht doch besser für meinen Magen.«

Thomas holte eine Tasse, drückte auf den Knopf des Automaten und stellte sie mit dem dampfenden Getränk vor Isabel.

»Danke, Thomas«, sagte sie, doch als sie das Aroma in die Nase sog, spürte sie Widerwillen aufkommen. Mühsam würgte sie einen Schluck hinunter und verzog ihr Gesicht: »Äh, wie schmeckt denn der Kaffee heute? Hast du da was reingemacht?«

»Nein! Ich habe die Bohnen dort oben aus dem Schrank genommen. Die nimmst du auch immer, oder nicht?«, fragte Thomas. Er probierte ebenfalls, um dann festzustellen: »Der Kaffee schmeckt ganz normal, so wie immer.«

»Nein, meiner nicht. Der ist ganz bitter, scheußlich! Den kann ich nicht trinken.« Isabel erhob sich, leerte den Inhalt der Tasse ins Spülbecken und ging erneut ins Badezimmer. Ihr war mit einem Mal so übel, dass sie sich ein paar Minuten lang auf den Rand der Badewanne setzen musste.

Kurze Zeit später kam sie zurück. Thomas saß, zwei Schüsseln mit Müsli vor sich, wartend am Tisch. Er lächelte Isabel an und stellte fest: »So wie du jetzt aussiehst, geht’s dir besser.«

Isabel erwiderte: »Ja, das stimmt. Essen mag ich trotzdem nichts. Ich hab heute irgendwie keinen Appetit. Ich hab Bauchweh, wahrscheinlich bekomme ich bald meine Tage.«

Thomas schaute Isabel prüfend ins Gesicht und sagte: »Schade. Ich habe extra Banane und frische Brombeeren ins Müsli reingemacht. Die magst du doch so gerne.«

»Das ist echt lieb von dir, Thomas, aber jetzt krieg ich keinen Bissen runter. Bin auch schon spät dran. Ich werde das Müsli mitnehmen, für später.« Damit nahm Isabel ihre Schüssel, füllte den Inhalt um in ein verschließbares Gefäß und steckte dieses in ihren Rucksack. »Mach’s gut heute!«, rief sie Thomas zu und war schon draußen.

»Magst du wirklich zum Dienst gehen, wenn es dir gar nicht gutgeht?«, rief Thomas ihr nach, doch die Tür war bereits ins Schloss gefallen.

An der frischen Luft fühlte sich Isabel gleich besser, und die Bewegung tat ein Übriges. Kraftvoll trat sie in die Pedale und erreichte bald darauf die Dienststelle.

Kapitel 10

Beim morgendlichen Meeting überraschte Markus Proll die Mitarbeiter seiner Schicht mit den Worten: »Der Gesundheitszustand unseres Chefs hat sich etwas gebessert. Ich war in Allensbach und konnte mit einem Arzt sprechen. CaWe liegt zwar noch im künstlichen Koma, aber das Behandlungsteam ist nun hoffnungsvoll.« Bei seinen Worten schaute Markus zu Isabel ans andere Ende des Tisches. Sie hatte ihm wenige Tage zuvor in einer ruhigen Minute von ihrem Besuch bei Carl und ihren Eindrücken berichtet.

Isabels Herz begann, heftig gegen die Rippen zu pochen, und mit einem Mal spannten sich alle ihre Muskeln an. Augenblicklich ging ein Tuscheln durch die Runde. Sie spürte auch die Blicke der Kollegen auf sich, und um sich abzureagieren, griff sie nach einem Stift und drehte ihn zwischen ihren Fingern. Vor ihrem geistigen Auge erschien Carls Bild, wie er leblos in seinem Bett lag, sämtliche Vitalfunktionen überwacht von Monitoren.

Frieder fand als Erster seine Sprache wieder: »Was heißt das? Wird CaWe demnächst wieder hier auf der Matte stehen?«, fragte er ungerührt. In gut einem Vierteljahr würde er in Pension gehen und legte absolut keinen Wert darauf, von dem ungeliebten Chef mit salbungsvollen, verlogenen Worten verabschiedet zu werden.

Isabel strafte Frieder mit einem kurzen vorwurfsvollen Blick. Wie konnte er nur so hartherzig daherreden, nach allem, was passiert war und was auch er mit zu verantworten hatte.

»Nein, das nicht! Davon ist er weit entfernt«, antwortete Markus auf Frieders Frage und überlegte, was er den Kollegen überhaupt berichten durfte. »Der Polizeidirektor zeigt erste Reaktionen. Der Arzt hat mir anvertraut, dass CaWe ein Mal auf einen Schmerzreiz reagiert habe. Er sei zusammengezuckt, als ihn eine Schwester mit kaltem Wasser gewaschen habe. Einmal habe er geblinzelt, also auf Licht reagiert.« Markus schaute in die betretenen Gesichter seiner Mitarbeiter und fügte hinzu: »Für das Behandlungsteam sind diese Zeichen äußerst positiv und wichtig. Sie haben CaWe innerhalb der Intensivstation verlegt. Er liegt jetzt in einem Einzelzimmer, damit die Therapeuten noch intensiver mit ihm arbeiten können.«

Isabels Anspannung ließ nach und ihre Blicke hingen nun an Markus’ Lippen. Keiner der Versammelten sagte ein Wort, und Markus fuhr fort: »Allerdings sei es höchste Zeit gewesen, dass CaWe auf Reize reagiert, hat der Arzt gesagt. Bei solchen Fällen sinkt wohl mit jedem Tag, der ohne Reaktionen verstreicht, die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient wieder vollständig genesen wird.«

Isabel wusste überhaupt nicht, wie ihr geschah. Statt sich über die Entwicklung zu freuen, überkam sie ein Brechreiz, so dass sie eilig das Zimmer verlassen und die Toilette aufsuchen musste. Nachdem sie sich mehrmals übergeben hatte und endlich wieder besser fühlte, war die Besprechung beendet. Sie schleppte sich in ihr Büro, wo Markus sie prüfend ansah. »Was ist denn mit dir los, Isabel? Du siehst ja aus wie’s Kätzle am Bauch.«

Da huschte ein Lächeln über Isabels Gesicht. Den Spruch hatte sie zuletzt von ihrer Mutter gehört, als sie einmal kreidebleich nach Hause gekommen war. Isabel wiegelte ab. »Geht schon wieder.« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch.

»Ist es nicht besser, wenn wir dich mit dem Dienstwagen heimbringen, Isabel?«, fragte Markus.

Isabel schüttelte den Kopf und protestierte: »Red keinen Quatsch, Markus. Ich bin gleich wieder okay.« Sie erhob sich, riss das Fenster auf und sog tief die frische Luft ein. Tatsächlich erholte sich Isabel schnell, drehte sich Markus zu und fragte: »Wie sieht Carl aus?«

»Du, ehrlich gesagt, elend, irgendwie trostlos. Wahrscheinlich noch genauso, wie du ihn angetroffen hast. Aber ich bin medizinischer Laie und verlass mich auf die Aussagen der Ärzte.«

»Ich auch, das müssen wir ja wohl, es bleibt uns gar nichts anderes übrig«, sagte Isabel bedrückt. »Ich muss immer an ihn denken – nicht, wie du vielleicht denkst … Ich seh ihn die ganze Zeit vor mir. Es ist einfach schlimm, hier zu sitzen und nichts für ihn tun zu können.« Sie wandte sich wieder ihrem Bildschirm zu, doch fiel es ihr schwer, stillzusitzen und sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Unruhig rutschte sie auf dem Bürostuhl hin und her. Ein Anruf aus dem Führungs- und Lagezentrum erreichte sie, und sie war froh, in den Außendienst gehen zu können. Schnell band sie sich das Holster mit der Dienstwaffe um die Taille und informierte Markus: »Der Hafenmeister des ›Württembergischen Yacht-Clubs‹ hat Vandalismus an mehreren Booten gemeldet. Ich werde mich gleich drum kümmern.«

»Soll ich mitkommen?«, fragte Markus. Auch sein Kopf brummte. Er studierte die neuen Vorschriften und Richtlinien, die alle Dienststellen ab sofort umzusetzen hatten. Er hasste den ganzen Schreibkram, den er als kommissarischer Leiter der Dienststelle zusätzlich erledigen musste. Viel lieber würde er mit Isabel den Außentermin wahrnehmen. Doch die Kollegin griff bereits nach Mütze, Uniformjacke und Aktentasche und verabschiedete sich mit den Worten: »Das schaff ich alleine. Danke, Markus.«

Isabel trat durch die Arkaden vor der Eingangstür und blinzelte in die Septembersonne, die wieder eindrucksvoll bewies, wie viel Kraft noch in ihr steckte. Die Flaggen am Flaggenmast knatterten leise im leichten Westwind. Dankbar, der stickigen Büroluft entkommen zu sein, atmete Isabel die Weite der Landschaft und des Sees ein. Zahlreiche Motorboote und viele Segelboote tummelten sich auf dem Wasser. Bestimmt würden die Kollegen bald auf Bootsstreife gehen. So sehr sie diese Einsätze vor dem Unglück geliebt hatte, so froh war sie derzeit, wenn ihr Bootsfahrten erspart blieben.

Isabel bahnte sich ihren Weg durch die vielfarbige Menschenmenge in der Fußgängerzone: Ausflügler, die ihre Fahrräder hier schieben mussten, Touristengruppen mit Ferngläsern und Fotoapparaten, Familien mit Kinderwägen, Senioren mit und ohne Rollatoren ließen sich von dem spätsommerlichen Tag zum Bummeln einladen. Fetzen von fremden Sprachen und Dialekten drangen an Isabels Ohr: meist Alemannisch, Schwäbisch und Schwyzerdütsch, daneben auch Französisch, Englisch, Polnisch und andere, die sie nicht zuordnen konnte.

Auf den Treppenstufen am Gondelhafen saßen meist junge Menschen, die Eiscreme schleckten und Musik aus ihren mitgebrachten Geräten hörten. Der Vermieter der Tretboote an der Uferstraße winkte der Uniformierten lachend zu, als Isabel an seiner Hütte vorbeimarschierte. Seine Geschäfte liefen gut, viele seiner Kunden wollten an diesem Tag noch einmal ein paar Stunden auf dem Wasser genießen. Wassersport – nichts für mich momentan, durchzuckte es Isabel, denn schon poppten die Schreckensbilder des Unglücks wieder in ihrem Kopf auf. Rasch ging sie weiter.

Im »Beachclub« direkt am Bodenseeufer waren sämtliche Tischchen besetzt. Selbst auf den Treppenstufen warteten Gäste schwitzend auf einen Sitzplatz. Unter den schattenspendenden Bäumen im Stadtgarten hatten sich einige Gruppen auf dem Rasen niedergelassen. Mit denen würde ich gerne tauschen, dachte Isabel im Weitergehen und wandte sich den Jachten zu, die an ihren Plätzen im Hafen des »Württembergischen Yacht-Clubs« lagen. In derselben Sekunde breitete sich in ihrem Körper ein Schwindelgefühl aus. Isabel verlangsamte ihren Gang, stoppte schließlich, hielt sich am Geländer fest, das die Uferstraße vom Jachthafen trennte, schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Zwei Fußgängerinnen hatten die Szene beobachtet und blieben stehen. Als Isabel ihre Augen wieder öffnete, schauten sie zwei Augenpaare fragend an. Die Ältere fragte: »Brauchen Sie Hilfe?«

»Schon überstanden, war nur ein kleiner Schwächeanfall«, flüsterte Isabel und lächelte dabei. Die zwei Frauen gingen weiter. Isabel blieb noch einen Moment stehen und zwang sich, die im Hafen liegenden Boote zu betrachten. Da entdeckte sie die »Xie«, die Segeljacht von Timos Eltern. Erinnerungen kamen hoch an den ersten Segeltörn und die internationale Polizeiregatta, bei der ihr Team für die Wasserschutzpolizei Friedrichshafen den Sieg geholt hatte. Sie dachte an Carl. An sein schäbiges Verhalten Bootsführer Timo gegenüber. Seine eigene Crew hatte er von dem Begleitboot, von dem aus er und weitere Promis das Rennen beobachteten, massiv behindern lassen. Durch taktisch kluge Manöver gewann die »Xie« trotzdem. Isabel fragte sich, ob sie sich jemals wieder unbeschwert und mit gutem Gefühl würde auf einem Segelboot bewegen können. Da erblickte sie vor dem Hafenmeistergebäude einen Mann, der eine Mütze schwang und ihr zuwinkte. Sie erkannte den Hafenmeister, der die Polizistin bereits erwartete.

 

»Hallo, Frau Böhmer, schöne Schei…«, setzte er zur Begrüßung an, versagte sich das Ende des Wortes und verbesserte sich: »Schöne Bescherung!«

Isabel führte zum Gruß eine Hand an ihre Mütze und sagte: »Hallo, das kann man wohl sagen, wenn es stimmt, was Sie mir am Telefon geschildert haben.«

Aus dem Hafenmeister sprudelte es förmlich heraus: »Die Täter müssen vergangene Nacht von der Uferstraße aus auf den Steg gekommen sein. Wie’s aussieht, wollten die Burschen es den reichen Jachtis mal wieder so richtig zeigen. Die haben sich gleich an mehreren Booten zu schaffen gemacht.«

»Dann lassen Sie uns die Bescherung gleich einmal anschauen und aufnehmen«, sagte Isabel sachlich und zog ihr Klemmbrett aus ihrer Tasche.

»Das machen wir, kommen Sie mit!«

Hinter dem Hafenmeister marschierte Isabel konzentriert den Schwimmsteg entlang, ihren Blick stur auf den Boden gerichtet. Das Federn unter ihren Sohlen bereitete ihr erneut Unbehagen, doch sie wollte sich nichts anmerken lassen. Das würde bestimmt bald wieder besser werden. Sie würde später Lena um ein weiteres freundschaftlich-therapeutisches Gespräch bitten, um ihre weichen Knie auf schaukelndem Grund besser in den Griff zu bekommen. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, schritt sie weiter.

Um das Heck einer großen Segeljacht standen mehrere Menschen in gediegener Freizeitkleidung und redeten durcheinander. Ihr Gespräch verstummte, als sich der Hafenmeister mit der Uniformierten näherte.

»Schauet Sie sich bloß des hier mal an. So eine Sauerei! Die Schweine haben mir die ganze Persenning zerschnitten«, rief ein braun gebrannter Mann in weißem Poloshirt und roter knielanger Hose. Seine behaarten braunen Beine steckten in blauen Lederslippern. »Backbord sind noch mal so viele«, jammerte der Mann.

»Sind Sie der Eigentümer?«, fragte Isabel und zückte ihre Schreibunterlage.

»Ja! Die Persenning war neu. Hat mich fast 5.000 Euro gekostet«, klagte der Eigner weiter.

Isabel begutachtete die Abdeckung der Jacht und zählte die verschieden langen Risse und Schnitte, soweit sie diese vom Steg aus sehen konnte. Zwölf entdeckte sie im Bereich des Hecks sowie auf der rechten Seite und stellte fest: »Sieht ganz so aus, als hätten der oder die Täter ganze Arbeit geleistet.«

Sie nahm alles schriftlich auf und holte dann die Kamera, um die Beschädigungen auch im Bild zu dokumentieren. Nun zeigte der Hafenmeister auf das Motorboot daneben. »Hier haben die Täter die Polsterung der Sitzbänke aufgeschlitzt. Ich hab den Eigner bereits verständigt. Er wird bald hier sein.«

Isabel ging ein paar Schritte weiter, um auch diese Schäden zu begutachten. Dunkles Füllmaterial quoll aus den weißen Lederpolstern. Als sie mit den Aufnahmen fertig war und den Kopf hob, erblickte sie am nächsten Boot einen Schriftzug, und im selben Moment schien das Blut in ihren Adern zu gefrieren. Vor ihr schaukelte eine große Segeljacht, mit dem Bug am Steg vertäut. Auf der Seitenfläche des Bugs prangte der Name des Schiffs. Die vier großen Lettern sprangen Isabel förmlich entgegen:

›CARL‹

Das C war kein normales C, sondern hatte die Gestalt eines Fisches: Die obere Rundung des Buchstabens bildete den Kopf, das Mittelteil den schuppigen Körper und das untere die erhobene Schwanzflosse. Isabel traute ihren Augen nicht, sie nahm ihre Mütze ab und strich sich Schweißperlen von der Stirn. Ihr Herz pochte wie wild, und im Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Ihr Blick wanderte am Boot entlang. Eine »Faurby«! Carl hatte erzählt, dass er eine »Faurby 36« besessen hatte, als er noch segelte. Das Schiff vor ihr konnte nur Carl Dangelmanns Jacht sein.

Der Hafenmeister beobachtete Isabel. Was war bloß plötzlich los mit der Frau Böhmer? Während des Sommers hatte er schon ein paarmal mit der jungen Polizistin zu tun gehabt. Zwischen den meist älteren Ehefrauen der Segler war ihm aufgefallen, dass die neue Wasserschutzpolizistin außerordentlich gut gebaut war und dazu ein hübsches Gesicht hatte. Bei ihren früheren Ermittlungen war sie ihm freundlich, gründlich, kompetent und völlig normal vorgekommen. Ratlos blickte er sie nun von der Seite an und sagte: »Dieses edle Stück haben die Vandalen Gott sei Dank verschont.«

Seine Worte holten Isabel zurück in die Gegenwart. »Eine sehr schöne Jacht! Wem … wem gehört das Boot?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.

Ihre Frage erstaunte den Hafenmeister. Warum interessierte sich die Polizistin für dieses Schiff, das doch gar nicht beschädigt worden war? Achselzuckend antwortete er: »Einem Schweizer Freizeitkapitän. Er hat es vor circa fünf Jahren gekauft, bewegt das Prachtstück aber sehr wenig. Schade.« Dabei fixierte er immer noch Isabel, die ihm irgendwie nicht bei der Sache und geistig abwesend erschien.

Isabels Hirn arbeitete fieberhaft: Passte alles! Wie hatte Carl nur wenige Wochen zuvor gesagt: »Musste einer meiner Ex-Frauen bei der Scheidung meine Segeljacht überlassen, obwohl das Miststück vom Segeln noch weniger Ahnung hat als vom Vögeln.« Isabel spürte einen Druck in der Brust, und ihr Hals schnürte sich zusammen. Sie dachte an Carl.

Der Hafenmeister musterte die junge Polizistin weiter, die sich so rätselhaft benahm, und fragte: »Darf ich Ihnen jetzt die weiteren beschädigten Boote zeigen, Frau Böhmer?«

»Ja, natürlich, gehen wir«, stotterte Isabel und hatte Mühe, ihren Blick von der Jacht mit dem Namen Carl loszureißen und dem Hafenmeister zu folgen.

Auf dem Rückweg machte sie sich erneut Gedanken über Carl. Würde er jemals wieder aufwachen? Würde er genesen? Und was dann? Würde er einen Schlussstrich unter ihre Affäre ziehen, weil sie es bisher nicht geschafft hatte? Mit dem Verstand konnte sie sich nach wie vor nicht erklären, warum sie Carl so verfallen konnte. Doch es war vorbei. Nachdem er sich auch ihr gegenüber gemein und rücksichtslos verhalten hatte, hatte ihr Körper längst nicht mehr so unfassbar verrückt gespielt wie zu Beginn ihrer Liebschaft. Nichtsdestotrotz brauchte er vielleicht gerade jetzt ihre Hilfe. Sie musste noch einmal zu ihm in die Klinik.

Mit diesem Entschluss kam Isabel in die Dienststelle zurück, dokumentierte die Beschädigungen auch am Computer und packte dann hastig ihre Sachen zusammen. Als die Tür hinter Isabel ins Schloss fiel, bog sie, ohne zu überlegen, automatisch wieder nach rechts ab und hastete durch die immer noch gut bevölkerte Fußgängerzone in Richtung Stadtgarten und Jachthafen. Beinahe wäre sie an der Ecke des Restaurants »Al Porto« mit einem Kellner, der ein volles Tablett balancierte, zusammengestoßen. Sie hielt abrupt inne, kam erst jetzt zur Besinnung. Was mach ich denn? Ich will doch überhaupt nicht noch mal zu den Booten … Sie brauchte Zeit, um ihre Gedanken zu sortieren. Nach Hause gehen, Thomas gegenübertreten und Hausarbeit erledigen, das würde sie jetzt überfordern. Sie lehnte sich an das Geländer, das den See vom Ufer trennte. Völlig reglos lag die Wasserfläche silberblau vor ihr. Mehrere Stand-Up-Paddler glitten elegant und fast lautlos mit ihren Boards vorbei. Vielleicht gelänge es ihr da draußen, zur Ruhe zu kommen, so wie im Sommer, vor dem Unglück und vor der Sache mit Carl … Hier mit dem Geplapper und Gegacker, der lauten Musik, hier jedenfalls war es ihr zu laut. Isabel machte kehrt und schlenderte inmitten der Menschen zurück, vorbei an der Dienststelle mit dem Flaggenmast, vorbei am Becken des Fährhafens mit den Fahrgastschiffen, dem großen Polizeiboot, der Fähre nach Romanshorn in Richtung Eriskircher Ried. Alles war ihr in den vergangenen Monaten schon so vertraut geworden. Neben dem Klubgelände der Ruderer der kleine Jollenplatz des Segel- und Motorbootklubs Friedrichshafen, dann der Campingplatz, zu dem die Polizisten immer mal wieder gerufen wurden. Wie oft war sie schon hier vorbeigeradelt und vorbeigejoggt?

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