Tödliche K. I.

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Kapitel 7



Donnerstag, 29. Oktober 2020 – Wilhelmsruh, Berlin



Jana flüchtete aus der Uni zurück in ihre Wohnung. Den Weg zum Bahnhof Friedrichstraße und vom S-Bahnhof Wilhelmsruh bis zur Hertzstraße taumelte sie mehr, als dass sie ihn ging. Die wenigen Passanten, die ihr begegneten, schienen sie genauso vorwurfsvoll zu mustern wie vorhin ihre Kommilitonen, auch wenn sicher keiner von ihnen in ihrem Namen beschimpft worden war. Jana blickte starr geradeaus, presste ihre Tasche an die Brust und setzte einen Schritt vor den anderen, bis sie die Tür zu ihrer Wohnung erreichte. Das mahlende Geräusch, das ihr Schlüssel im Schloss machte, entspannte sie ein wenig. Sie öffnete den Eingang, ließ die Tasche zu Boden gleiten und schloss die Wohnungstür, indem sie sich mit dem Rücken dagegen lehnte, bis das Schloss einrastete. Zumindest in ihrer Wohnung war sie sicher.



Ihr Blick fiel auf einen schmucklosen Umschlag, den offensichtlich jemand unter ihrem Türschlitz durchgeschoben hatte. Zögernd hob sie das leicht vergilbte Couvert auf, »Fräulein J. Loewe« stand mit Schreibmaschine getippt darauf. Der Brief konnte nur von ihrem Vermieter Herrn Lehmann stammen. Bislang hatte sie zwei solche Briefe bekommen: Eine Nachforderung für Nebenkosten und eine Mieterhöhung – nach knapp vier Monaten, die sie hier wohnte. Sie riss den Umschlag auf und las den Dreizeiler:



Sehr geehrtes Fräulein Loewe,



weil Sie seit zwei Monaten die Miete nicht bezahlt haben und das wegen ihrer finanziellen Schwierigkeiten auch zukünftig nicht können, kündige ich hiermit fristlos die Wohnung und erwarte Ihren Auszug spätestens am Monatsende.



Gruß,



Lehmann



»Super, genau das, was ich jetzt brauche.« Jana feuerte ihre Jacke über die Stange mit den Kleiderhaken, die sie als Garderobe benutzte, stapfte in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine und die Kaffeemühle an, drehte mit einem Ruck den Siebträger heraus und leerte ihn mit einem übertrieben harten Schlag auf die Kante des Mülleimers, als ob er schuld an ihrer Lage wäre. Alles, ohne den Brief ihres Vermieters aus der Hand zu legen.



Sie platzierte den Brief neben der Spüle. Mit einem Löffel füllte sie Kaffeemehl in das chromglitzernde Metallsieb, doch der Versuch, das Schreiben ihres Vermieters auch nur für den Augenblick auszublenden, war von vorneherein aussichtslos. Wie magisch zog es ihren Blick an. Sie verschüttete Kaffeepulver, was ihr sonst nie passierte.



»Mann!«, fauchte sie und knallte den Siebträger auf die Arbeitsplatte, dass sich der braune Staub um sie herum verteilte. Das war ihr im Moment gleich. Sie zog ihr Telefon aus der Tasche und wählte die Nummer des Vermieters. Nach dem ersten Klingeln überlegte sie es sich anders und legte auf. Sie pflückte ihre Jacke von der Garderobenstange und stapfte durch das Treppenhaus auf die Straße. Passend zu ihrer Stimmung blies ihr ein böiger Wind Dreck und Blätter ins Gesicht. Für einen Umzug hatte sie keine Zeit, eine günstige Wohnung fand sich nicht im Handumdrehen, und außerdem hatte sie kein Auto. Ein Wohnungswechsel kam nicht infrage. Während des 15-minütigen Fußmarsches zu ihrem Vermieter in der Friedrich-Engels-Straße kreisten ihre Gedanken einzig um die Frage, wie das alles passieren konnte. Kämpferischer Stimmung kam sie bei ihrem Vermieter an und klingelte an der Haustür des gelbgrauen Häuschens aus DDR-Zeiten. Es blieb ihr nicht viel Zeit, das heruntergekommene Gebäude zu betrachten, bis sie durch eine schmutzige Milchglasscheibe Herrn Lehmann kommen sah. Die Tür öffnete sich und der Geruch einer schlecht gelüfteten Wohnung schlug ihr entgegen. Lehmann strich seine ungepflegten, gelblichen Haare nach hinten und musterte sie mit herabgezogenen Mundwinkeln. Jana fand ihn genauso abstoßend wie bei ihrer letzten Begegnung.



»Betteln wird Ihnen nichts bringen, Fräulein Loewe«, schnarrte er grußlos.



Für einen Augenblick sah sich Jana in der verhassten Sozialwohnung in Kölnberg, dem Brennpunkt in Köln-Meschenich, in der sie die Jahre nach der Trennung ihrer Eltern gelebt hatte. Ihr Gesicht glühte vor Scham. Die Schwäche dauerte drei, vier Herzschläge lang, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen. So jemand wie Lehmann zwang sie nicht in die Knie, schon gar nicht, da sie sich nichts hatte zuschulden kommen lassen.



»Guten Tag, Herr Lehmann«, grüßte sie steif. »Das muss ein Missverständnis sein.« Jana gab ihrer Stimme einen werbenden Klang. »Für die Miete habe ich einen Dauerauftrag eingerichtet, sodass Sie jeden Ersten pünktlich Ihr Geld haben! Ich habe die Abgänge im Kontoverlauf gesehen.«



»Ach was! Nichts haben Sie überwiesen!«



Jana schalt sich, weil sie die Kontoauszüge nicht ausgedruckt hatte, um einen Beweis in der Hand zu halten. Ihre Bankgeschäfte erledigte sie schon immer ausschließlich online. Lehmanns Unterlippe schob sich kaum merklich nach vorn. Anscheinend genoss er die Situation.



»Wie gesagt, das muss ein Missverständnis sein. Sehen Sie her!« Jana fischte ihr Smartphone aus der Tasche. Ihre Finger huschten über das Display, als sie sie das Portal ihrer Bank aufrief und sich in ihr Konto einbuchte. Lehmann beobachtete sie mit einer Miene, die keinen Zweifel aufkommen ließ, dass er das Ganze für Zeitverschwendung hielt. Jana drehte den Bildschirm so, dass sie ihn beide sehen konnten. »So, jetzt noch die Zahlungsabgänge an Sie …« Entgeistert brach sie ab. Sie spürte, wie sie aschfahl wurde. Ihr Konto war um über 4.000 Euro überzogen, weswegen der Dauerauftrag für die Miete nicht ausgeführt worden war. Und zwar schon seit September. Dabei überprüfte sie ihr Konto regelmäßig und hätte geschworen, dass sowohl die September- als auch die Oktobermiete pünktlich überwiesen worden waren. Fassungslos sah sie ihren Vermieter an, auf dessen Gesicht sich ein triumphierendes Lächeln ausbreitete.



»Sag ich doch! Schulden haben Sie, bis über beide Ohren. Mir kommen zukünftig nur noch Werktätige ins Haus, Leute, die ihr Geld ehrlich verdienen. Früher hätte es so etwas nicht gegeben.«



Janas Augen verengten sich zu Schlitzen.



»Zum Glück hat mich die Schufa rechtzeitig gewarnt«, zeterte Lehmann. »Das hat man davon, wenn man so gutmütig ist, an Studenten zu vermieten. Gesocks!«



Jana zwang sich, ruhig ein- und auszuatmen. Sich mit diesem Widerling zu streiten, war völlig sinnlos, aber seine Wohnung brauchte sie – zumindest bis auf Weiteres.



»Wieso Schufa?«, fragte sie. »Seit wann schickt die von sich aus Auskünfte? Da muss man nachfragen.«



»Sie scheinen sich ja bestens auszukennen, Fräulein Loewe.«



Jana biss die Zähne zusammen und atmete tief ein, um nichts Übereiltes zu sagen. »Wenn Sie einverstanden sind«, erwiderte sie beherrscht, »bringe ich die Miete an jedem Monatsersten vorbei. In bar.«



Lehmann sah sie herablassend an.



»Die schuldige Miete und das Geld für den kommenden Monat könnte ich Ihnen sofort geben.« Sie zog ihren Geldbeutel hervor und nahm ein Bündel kleiner Scheine heraus. Lohn und Trinkgeld von neun langen Abenden im »Fàilte!«.



Lehmanns Augen flammten gierig auf. »Man ist ja kein Unmensch«, sagte er und machte dabei eine ausladende Geste, als ob er Jana einen großen Gefallen täte und seine eigene Großzügigkeit ihm ein unergründliches Rätsel sei. »Also gut, Barzahlung am Ersten. Und die Miete für den kommenden Monat sofort.« Fordernd streckte er Jana seine Hand entgegen.



»Nicht, dass ich Ihnen misstrauen würde«, entgegnete Jana honigsüß und drückte die Scheine an sich, »aber dieses … dieses Missverständnis lehrt mich, dass ich es in finanziellen Dingen an keiner Sorgfalt mangeln lassen darf. Sicher können Sie mir eine Quittung geben?«



Lehmann stutzte. »Moment«, schnarrte er und knallte die Haustür hinter sich zu. Kurz darauf kam er mit einem Quittungsblock zurück, füllte das oberste Blatt aus und riss es ab. Wortlos tauschten sie Geld gegen Quittung. Lehmann deutete ein Nicken als Verabschiedung an und schlug hinter sich die Tür zu.



»Geldgieriger Blockwart«, fauchte Jana und machte sich auf den Weg zurück zur Hertzstraße.



Mit jedem Schritt verrauchte ihr Ärger über Lehmann mehr, sodass die Sorge über den Schufa-Eintrag und das überzogene Konto die Oberhand gewann. Was ging hier vor sich? Wer hatte sie bei ihrem Vermieter angeschwärzt? Wer hatte überhaupt ein Interesse daran, sie anzuschwärzen? Wie konnte es sein, dass ihr Konto um über 4.000 Euro überzogen war? Sie fühlte sich wie in einem schlechten Film. Zu Hause angekommen ließ sie ihre Jacke auf den Dielenboden gleiten und sich selbst wenige Schritte später auf ihr Bett fallen. Eine Zeit lang lag sie da, alle Viere von sich gestreckt und starrte die Decke an. Nie in ihrem Leben hatte sie sich so einsam gefühlt. Jana fröstelte. Sie musste reden. Schließlich zog sie ihr Telefon aus der Tasche. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich die vertraute Stimme.



»Tante Greta«, flüsterte Jana, »ich weiß nicht, ob ich unter Verfolgungswahn leide.«



Jana telefonierte über zwei Stunden mit ihrer Tante. Danach ging es ihr besser. Sie litt nicht unter Verfolgungswahn, sondern die Bank hatte ihr Computersystem nicht im Griff oder irgendjemand musste sich einen üblen Scherz mit ihr erlaubt haben. Gemeinsam mit ihrer Tante war sie ihren Kontoverlauf durchgegangen, und sie hatten festgestellt, dass ihr Konto 4.000 Euro im Minus war, weil es zwei Abbuchungen zu je 2.500 Euro gegeben hatte. Schon Anfang September! Wobei sie ganz sicher seit den angegebenen Buchungsdaten mehrmals ihr Konto geprüft hatte, natürlich ohne Kontoauszüge zu drucken. Wer tat so etwas heute noch? Eine der beiden Abbuchungen ging an ein Konto auf den Namen Angela Merkel, die andere an eines auf Frank-Walter Steinmeier, beide mit dem Betreff ›Nachhilfe‹.

 



›It is our pleasure to serve our customers – Coral Reef Bank, Bahamas‹, stand darunter. Laut Google gab es jedoch gar keine Bank dieses Namens, und die Suche mit der Bankleitzahl ergab ebenfalls keine Treffer. Jana buchte sich erneut online in ihr Bankkonto ein, diesmal mit dem Rechner, um besser arbeiten zu können. Sprachlos las sie zum zweiten Mal, dass die Septembermiete am 3. des Monats rückgebucht und die Überweisung der Oktobermiete wegen fehlender Kontodeckung nicht ausgeführt worden sei. Ebenfalls am 3. September gingen die ominösen Zahlungen für Nachhilfe ab. Wenigstens hatte Lehmann die Miete nicht doppelt bekommen. Nach einigem Suchen fand sie den Menüeintrag »Lastschrift rückbuchen«. Sie klickte ihn an, aber nichts passierte. Der Menüpunkt war ausgegraut!



»Welch eine Freude, Bankgeschäfte online zu erledigen«, knurrte Jana sarkastisch und wählte die Nummer der nächstgelegenen Filiale.



»Einer Lastschrift widersprechen können Sie ausschließlich schriftlich«, erfuhr sie. »Kommen Sie bitte in der Filiale vorbei und füllen Sie das entsprechende Formular aus. Gegen eine geringe Gebühr buchen wir bei erfüllten Voraussetzungen zurück.«



»Vielen Dank«, presste Jana hervor und legte auf.



Sie stand auf, zog ihren Mantel an, warf die Wohnungstür hinter sich ins Schloss und stürmte los zur Bankfiliale. In dem kleinen Schalterraum langweilten sich drei Angestellte, als Jana eintrat. Zwei saßen hinter Schaltern, der Dritte stand mitten im Raum.



»Sie kommen wegen der Rückbuchung«, sprach sie der Stehende an, bevor sich die automatische Tür hinter ihr geschlossen hatte. Er war Ende 30, hatte einen dicken Schnurrbart und ausgeprägte Geheimratsecken. Der Mann war einen Kopf kleiner als Jana und seine Körperrundungen deuteten an, dass er jede Form von Hektik verabscheute.



»In der Tat«, bestätigte Jana und atmete tief aus. »Wieso wird so etwas überhaupt ausgeführt? Es glaubt sicherlich kein Mensch, dass die Kanzlerin und der Bundespräsident mir Nachhilfe geben!«



»Ich verstehe ihren Ärger, Frau …?«



»Loewe.«



»Koslowski. Ich bin der Filialleiter. Eine Bank kann nie sicher sein, dass Dritte die Zustimmung haben, um Geld per Lastschrift einzuziehen. Es obliegt vielmehr der Sorgfalt des Kontoinhabers, die Bewegungen auf seinem Konto zu kontrollieren und gegebenenfalls innerhalb der gesetzlichen achtwöchigen Frist Widerspruch einzulegen.«



Jana schwoll der Kamm. Eine unfreundliche Bemerkung lag ihr auf der Zunge.



Der Filialleiter war entweder erboste Kunden gewohnt oder nahm ihre Erregung nicht wahr. Jedenfalls sprach er ungerührt weiter: »Wir führen jeden Lastschriftauftrag bis zur Erschöpfung des Dispokredits aus. Folgen Sie mir bitte in mein Büro, Frau Loewe.«



Er ging voraus zu einer Tür neben den Schaltern, die er Jana aufhielt, wobei er gleichzeitig auf einen Stuhl vor einem Schreibtisch deutete. Jana betrat den kahlen Raum und nahm Platz. Koslowski setzte sich ihr gegenüber.



»An Kanzlerin und Bundespräsident, sagen Sie. Da hat sich wohl jemand einen Scherz erlaubt.«



»Ich kann nicht darüber lachen«, entgegnete Jana erleichtert, dass sie ihr Geld umstandslos zurückbekam. Hatte sie wirklich in den letzten acht Wochen ihren Kontoverlauf geprüft oder bildete sie sich das nur ein? Schließlich hatte sie viel um die Ohren und die einzige alternative Erklärung wäre, dass irgendjemand ihre Daten im Zentralcomputer der Bank manipuliert hatte. Koslowski danach zu fragen war sinnlos. Seine Antwort konnte sie sich ausmalen und nüchtern betrachtet war es absurd, dass jemand eine Bank hackt und dann nur einer Studentin einen Streich spielt. Zerknirscht gelobte sie sich selbst, zukünftig sorgfältiger zu sein. Wenige Minuten später verließ sie die Filiale, nachdem sie noch etwas Geld abgehoben hatte, um wieder flüssig zu sein. Vor der Tür googelte sie mit ihrem Smartphone die nächste Polizeiwache. Sie musste nach Pankow. Zum Glück fuhren regelmäßig Busse dorthin. Dennoch kostete es sie 30 Minuten, bis sie auf der Wache ihre Anzeige aufgeben konnte.



»’ne Bank uff die Bahamas, sagen Se«, berlinerte der Beamte kopfschüttelnd. »Ick gloobe nich, dat wir von denen ’ne brauchbare Auskunft bekommen können. Wär dat erste Mal. Det jibt et öfter, dat von dort so obskure Firmen Geld von Konten einziehen. Muss man halt uffpassen.« Jana verabschiedete sich freundlich. Schließlich konnte der Polizeibeamte nichts dafür, dass die Kollegen auf den Bahamas wenig hilfsbereit waren. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass es zweitrangig war, den Scherzkeks zu bestrafen, sofern die Belästigungen aufhörten.



Sie fuhr zurück zu ihrer Wohnung, wo sie die Sauerei in der Küche aufräumte, sich einen Kaffee brühte und zwei belegte Brötchen machte, weil sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Zum Essen setzte sie sich aufs Sofa und stellte die Tasse auf den kleinen Couchtisch daneben. Den Teller mit den Brötchen behielt sie in der Hand. Beim Kauen grübelte sie, wer sich diesen üblen Scherz mit ihr erlaubt haben könnte. Dass eine Scheinfirma zufällig an ihre Kontoverbindung gekommen war, glaubte sie nicht. Die Angelegenheit war absurd. In Berlin kannte sie kaum jemanden, und weder Wibke noch Nils kamen für solche Scherze infrage. Sie steckte das letzte Stück Brötchen in den Mund, strich sich die Krümel von den Fingern und stellte den Teller ebenfalls auf den Couchtisch. Dann trank sie den Kaffee aus, ging an ihren Arbeitsplatz und startete ihren Rechner.



Die Selbstauskunft bei der Schufa war umstandslos zu bekommen, kostete aber 25 Euro. Es gab in der Tat einen negativen Eintrag: Sie habe einen Kredit bei Coral Reef Bank, Bahamas, nicht zurückgezahlt – einer Bank, die es allem Anschein nach überhaupt nicht gab, weswegen sie die beiden Abbuchungen für Nachhilfe von Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier umstandslos zurückbekommen hatte. Jana knirschte mit den Zähnen, während sie die Nummer der Schufa wählte, um die sofortige Löschung zu fordern.



»Das tut mir leid«, säuselte die Frau am anderen Ende der Leitung. »Möchte man einen negativen Schufa-Eintrag löschen lassen, ist das nur über den Veranlasser möglich. Sie müssen sich diesbezüglich an die Coral Reef Bank wenden.«



»Hören Sie nicht zu? Diese Bank gibt es überhaupt nicht! Diesen Kredit gab es nie, den ich angeblich nicht bedient habe!«



»Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«



Jana beendete das Gespräch grußlos. In diesem Augenblick leuchtete das Symbol ihres elektronischen Postfachs auf. Sie öffnete die Nachricht und begann zu lesen.



von: Abu Mujahed



an: jyloewe@t-online.de



Betreff: komm auf den richtigen Weg!




Jana, warum machst Du Dir Sorgen um Geld? Bete nicht den Götzen Mammon an. Das ist Sünde! Ins Jenseits kannst du nichts mitnehmen. Komm zu uns. Wir weisen dir den Weg ins Paradies, wo Deine Belohnung auf dich wartet.



Allahu akbar



Janas Hände krallten sich in die Tischplatte, ihr Atem setzte aus. Sie stemmte sich mit gestreckten Armen gegen das Möbel, wollte den Abstand zwischen sich und dem Bildschirm vergrößern. Vier, fünf Atemzüge lang starrte sie auf den Text. Ihre Gedanken überschlugen sich. Welche Seuche auch immer ihren Rechner befallen hatte, wer auch immer dahintersteckte, so konnte es nicht weitergehen. Erst Belästigungen per E-Mail, dann Verleumdungen bei ihren Freunden und Kommilitonen, dann verschwand ihr Geld auf die Bahamas. Was kam als Nächstes? Sie griff zum Telefon und wählte Nils’ Nummer.



Nils ging beim ersten Klingeln dran: »Reiss?«



»Nils … Nils, jemand hat Geld von meinem Konto abgebucht. Eine nichtexistente Bank auf den Bahamas!« Das andere Ende der Leitung blieb stumm. »Nils, bist du noch da?«



»Ja. Mir hat es gerade die Sprache verschlagen. Komm bei mir vorbei, wann es dir passt. Prinz-Eugen-Straße 17.«



»In einer halben Stunde bin ich da.«



Als Jana eine Dreiviertelstunde später in die Prinz-Eugen-Straße einbog, kamen ihr zwei Frauen entgegen, die mit schwarzen Tüchern verschleiert waren. Jana schauderte und beschleunigte ihre Schritte. Je eher diese unerfreuliche Episode ihr Ende fand, desto besser. Augenblicke später hatte sie die beiden Muslimas passiert und tadelte sich für ihre Angst. Die beiden stellten ihr sicherlich nicht nach!



Das Haus mit der Nummer 17 war ein großer Gründerzeitbau, der wie der ganze Wedding heruntergekommen wirkte. Sie klingelte bei Reiss. Kurz darauf hörte sie schnelle Schritte, und Nils öffnete ihr die Haustür.



»Hallo, Jana …« Er stockte. Sein Gesicht war gerötet, und er rang nach Luft. Er war offensichtlich schnell gelaufen. »Ähm … komm doch rein. Meine Bude liegt im dritten Stock.«



Jana stieg hinter Nils die abgewetzte Treppe hinauf und folgte ihm in seine Wohnung. Es gab keine Diele. Soweit sie es überblicken konnte, hatte er ein winziges Bad – die Tür stand offen – und keine Küche, lediglich eine Kochnische. Hinter der einzigen verschlossenen Tür vermutete sie das Schlafzimmer. Die Einrichtung war ebenso spartanisch: ein einfacher Holztisch mit drei Stühlen und ein Sitzsack als Sofaersatz. Die technischen Geräte, von denen Jana nur den Rechner, die WLAN-Antenne, die Stereoanlage und die Lautsprecherboxen zweifelsfrei identifizieren konnte, bildeten einen krassen Gegensatz zur Wohnung: Der Raum mutete an wie ein Elektroniklabor.



»Darf ich dir etwas anbieten?«, unterbrach Nils ihre Gedanken. »Kaffee, Wasser, Tee – ich habe aber nur grünen?«



Einen für ihren Geschmack trinkbaren Kaffee zu bekommen schien unwahrscheinlich. »Ein Tee wäre nett, danke, aber ich mache dir sowieso schon zu viele Umstände.« Jana rieb ihre linke Handfläche an ihrer Hose. In der rechten trug sie ihren Laptop.



»Wirf schon mal deinen Blechkopf an«, schlug Nils vor und machte sich in der Kochnische zu schaffen. Nachdem Jana ihr Notebook ausgepackt und auf dem Tisch angeschaltet hatte, kam er mit einem Humpen heißem Wasser zurück, in dem ein Tee-Ei steckte.



»Danke.«



Nils öffnete eine Schublade am Tisch, zog eine Rolle Isolierband heraus, riss ein Stück ab und verklebte damit die winzige Kamera, die im Rand um den Bildschirm verbaut war. Dabei achtete er darauf, jederzeit außerhalb des Kamerabereichs zu bleiben.



»Sicher ist sicher«, erklärte er und ließ die Rolle in der Schublade verschwinden. Er setzte sich vor den Rechner und sah Jana fragend an.



»Mach, was du für richtig hältst. Ich will, dass das Teil sauber ist.«



»Alles klar. Auf die elegante Art ging es nicht, ergo machen wir es eben auf die grobe … Ich boote Linux vom USB-Stick und suche nach verdächtigen Dateien. Alles, was nicht koscher ist, lösche ich. Okay?«



»Was immer das heißt. Ich habe kein Wort verstanden.«



»Ich starte den Rechner neu mit einem anderen, sichereren Betriebssystem, eben Linux.« Dabei fuhr er die Maschine herunter. »Von Linux aus untersuche ich das Dateisystem. Der einfachste Weg, einen Virus zu tarnen, ist, ihn wie einen Teil des Windows-Betriebssystems aussehen zu lassen. Wir sichern die Daten, die du kennst, und löschen alles Übrige auf deinem Rechner, inklusive dem Betriebssystem. Danach formatieren wir die Festplatte und überschreiben alles mehrfach. Danach ist alles so, wie es aus der Fabrik kommt. Wenn wir damit fertig sind, installieren wir neu und spielen deine Daten drauf.«



Nils steckte den USB-Stick in den Rechner und drückte den Startknopf. Jana spürte ihre Handflächen feucht werden. Sie rieb die Hände aneinander und sah auf. Ihr Blick fiel auf ein kleines Bücherregal. Die meisten Autoren kannte Jana bestenfalls dem Namen nach: neben Science-Fiction von Borges und Lem standen »Per Anhalter durch die Galaxis« und »Der Herr der Ringe«. »Der Fänger im Roggen« prangte zwischen den »Kritiken« von Kant und Gedichten von Rilke!



Jana musste an Wibke denken, an er-oder-ich, während sie mit dem Zeigefinger über die Buchrücken strich. Wibke hatte wahrscheinlich kein einziges Buch im Regal. Nils hatte einen anderen Weg aus der Enge ihrer Herkunft in Kölnberg gefunden als sie. Er kannte den Zeitgeist ihrer Vorgängergenerationen, ohne ihm zu verfallen, las Standardwerke der Philosophie und hatte darüber hinaus Sinn für das Schöne. Und natürlich wusste er, dass man sich um einen ausgefuchsten Computerfachmann wie ihn reißen würde, wenn er einen Job suchte. Ein geradliniger Weg ohne jede Effekthascherei, auf dem er darauf verzichten konnte, sich bei irgendjemandem anzubiedern. Nils ist wirklich unabhängig. Wie du gerne wärst, gestand sie sich mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid ein. Und Wibke? Konnte sie sich vorstellen, dass Wibke wirklich eine Freundin war oder wenigstens werden könnte? Oder waren es nur ihr selbstbewusstes Auftreten und der Zugang zur Jeunesse dorée, der sie anzog?

 



Ein elektronisches Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf den Bildschirm, den Nils fixierte, als existiere die Welt um ihn nicht. Wie vor ein paar Tagen auf der Uni belauerte er die Anzeige, als wäre sie ein wildes Tier, und bearbeitete dabei die Tastatur mit atemberaubender Geschwindigkeit. Ohne ersichtlichen Grund hielt er plötzlich inne, richtete sich auf und sagte: »… und tschüss.« Dabei schlug er mit dem rechten Zeigefinger die Enter-Taste an und drehte sich zu ihr herum. »Was immer da auf deinem Rechner war – ist weg.«



Befreit lachte Jana auf. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie sich zuletzt so erleichtert, so sorgenfrei gefühlt hatte. Nils lümmelte auf seinem Stuhl und strahlte eine grimmige Zufriedenheit aus, nachdem er einen genauso lästigen wie hartnäckigen Gegner in die Schranken gewiesen hatte. Zu ihrer Überraschung sah sie in ihm einen Mann, den sie gerne näher kennenlernen würde, von dem sie mehr als die Seite des eigenbrötlerischen Nerds kennen wollte. »Ich finde, wir haben uns eine Belohnung verdient«, stellte sie fest und lächelte schelmisch in seine Richtung. »Genauer, du hast eine Belohnung verdient.«



»Das habe ich doch gerne gemacht«, brummte Nils und sah verwirrt zu ihr auf.



Errötete er ein wenig?



»Ich möchte tanzen. Vorausgesetzt, du traust dich, mit mir in der Öffentlichkeit gesehen zu werden, ziehen wir heute durch die angesagtesten – Wibke würde sagen Locations – von Berlin.«



Nils blieb der Mund vor Staunen offen stehen. Das neckische Spielchen belustigte Jana. Nils war oberflächlich betrachtet alles andere als ein Frauentyp, während es ihr beinahe lästig war, wie sehr sie beim anderen Geschlecht auf Anklang stieß. Deshalb verzichtete sie meist auf Schminke, zog sich bequem an und frisierte sich unauffällig.



»Du, das ist nett von dir. Ich, äh, ich habe eine Verabredung zum Online-Go mit einem Gegner in Singapur. Den habe ich das letzte Mal plattgemacht, und er verdient eine Revanche.«



Jana schnappte nach Luft. Männer gaben ihr keine Körbe! »Nicht dein Ernst? Go, und dann auch noch online? Das hört sich ja rasend spannend an. Hey, aufwachen, du sollst nicht Aschenputtel ausführen!«



»Jana, bitte sei mir nicht böse«, stammelte Nils. »Ich bin nicht schwul, und Augen im Kopf habe ich auch, aber …« Er gestikulierte hilflos. »Ein andermal?«



In seinem Gesicht las sie ehrliches Bedauern und das Wissen, dass es kein andermal geben würde.



Jana spürte, wie sich ihre Gesichtszüge verhärteten. Jedem anderen hätte sie eine Zurückweisung krumm genommen. Nils böse zu sein, brachte sie nicht über sich. Weil er ihr geholfen hatte? Weil er so ganz anders war?



»Du bist echt ein schräger Typ«, lenkte sie das Gespräch zurück in unbedenkliche Fahrwasser. Mit ihm streiten wollte sie auf keinen Fall, aber ganz ungeschoren durfte er für den Korb nicht davonkommen. »Spiel du mal Online-Go, wenn du das lieber tust, als mit mir zu tanzen. Ich gehe shoppen und sehe, was ich mit dem angebrochenen Tag anfange.«



Die kleine Spitze wollte sie sich nicht verkneifen. Jana packte ihren Rechner ein und ging.



Bester Stimmung fuhr Jana in die Friedrichstraße und verpulverte ihre Barschaft für ein dunkelgrünes Seidentop, das zu ihrer Augenfarbe passte und dazu einen Minirock aus schwarzem Leder, der das Oberteil traumhaft ergänzte. Die ganze Zeit pfiff sie leise »Mein kleiner grüner Kaktus« und wippte zu »sticht – sticht – sticht« seitlich mit der Hüfte. Als sie zurück in ihre Wohnung kam, war es bereits dunkel. Nachdem sie ihren Mantel aufgehängt und die Schuhe ausgezogen hatte, drehte sie Pirouetten zur Melodie des kleinen grünen Kaktus, bis zu ihrem Schreibtisch im Wohnzimmer.



»Wie sieht es denn hier aus, Jana?«, schalt sie sich scherzhaft und kicherte wie betrunken. Mit ein paar schnellen Handgriffen ordnete sie die Zettel mit Notizen für ihre Seminararbeit in drei Bündel und legte ihren Laptop an seinen Platz. In ein paar Tagen sollten die losen Blätter verschwunden und alles in die Präsentation eingearbeitet sein. Spätestens dann würde ihr Studium wieder zielsicher dem Abschluss entgegengehen.



Beim Gedanken an die Universität lief ein Schauer über ihren Rücken. Seufzend setzte sie sich auf ihren Schreibtischstuhl. Die Verleumdungen über Facebook und Whatsapp, die sie unter den Kommilitonen unmöglich gemacht hatt

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