Beatrice – Rückkehr ins Buchland

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Z serii: Buchland #2
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Blindbuch

Da Ingo ziemlich verschnupft auf Beas Reaktion reagiert hatte, sprachen sie den Rest des Abends nur noch das Allernötigste miteinander. Die Aufräumaktion im Keller wurde nicht mal in Erwägung gezogen. Ingo fläzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer und probierte demonstrativ die diversen Funktionen des Lesegerätes aus. Immerhin gab es auch zahlreiche „Apps“, die über das reine Lesevergnügen hinausgingen. Das Wort „Kuriosum“ durchfuhr Beatrice. Nachdem Ingo sich über eine Stunde mit dem ergänzenden Computerprogramm für seinen PC und den dazugehörigen Updates beschäftigt hatte, widmete er sich eine weitere Stunde einigen Minispielen. Schließlich blieb er bei einem Enhanced E-Book hängen. Ob er es tatsächlich las, konnte Bea nicht feststellen. Der mitgelieferte Soundtrack quäkte allerdings blechern und lautstark aus einer kleinen Öffnung an der Unterseite des Geräts und passte sich seinem angeblichen Lesefortschritt an. Mal blieb die Musik leise und unauffällig, mal schwang sie sich zu epischen Höhen auf.

Da sie sich nicht wirklich gestritten hatten, bemühte sich Bea in keinster Weise um eine Versöhnung. Sollte ihr Mann noch ein bisschen im eigenen Saft schmoren und mit dem Teil glücklich werden. Ausgerechnet ein E-Book-Reader! Sie kam sich verraten vor. Und seine Aussage, dass sie nicht Herr Plana sei, machte sie tatsächlich wütend. Als ob sie es nicht wüsste. Sie war kein Auktoral. Das hatte sie auch nie von sich behauptet.

Andererseits … Plana war der Protagonist ihrer Geschichte. Durch diese Geschichte war das Buchland erst möglich geworden. Und das Buchland war nun real. Herr Plana war auch real gewesen. Seine Gedanken waren irgendwie aus ihrem Kopf gekommen und hatten seine Person erschaffen. Oder hatte sie alles falsch verstanden? Wieder stand sie auf dieser Treppe, die sich spiralförmig in den Himmel streckte und beim Beschreiten doch nicht nach oben führte.

Dem Tag war endgültig die Farbe vergangen. Das bläuliche Schwarz der Nacht kroch durch die Straßen. Ingo war auf dem Sofa eingeschlafen. Der Reader lag noch eingeschaltet in seiner erschlafften Hand.

Beatrice nahm das Gerät und suchte nach der kleinen Taste, die einen nach oben offenen Kreis mit einem senkrechten Strich zeigte. Sie fand stattdessen einen winzigen Hebel an der Seite. Darin eingraviert, so klein, dass es kaum lesbar war, standen die Worte: „Hiermit sollest du den Apparath ausschaltigen.“

Natürlich: Wenn man sich ein solches Gerät in einem Kuriosum zulegte, musste man mit Überraschungen dieser Art rechnen. Also tat Beatrice wie ihr geheißen und sortierte alsdann den Reader im Bücherbord zwischen den Werken von Bruce Sterling und H.G. Wells ein.

Aus dem Schlafzimmer holte sie Ingos Plumeau und deckte ihn damit vorsichtig zu. Ein zaghafter Kuss auf die Stirn (die er sofort angestrengt zusammenzog), ein leises „Ich liebe dich“. Danach ging sie zur Garderobe, zog sich eine Jacke über und machte sich auf, um ein paar Gedanken zu sortieren, denn an Schlaf war für sie gerade nicht zu denken.

Die Straße war menschenleer, das Schaufenster des Antiquariats dunkel wie ein Loch in der Zeit. Auch die anderen Läden waren unbeleuchtet. Warum ihre Füße sie gerade hierhin getragen hatten, wusste Beatrice nicht. Schon hatte sie den Schlüssel in der Hand, schloss auf und stand im nächsten Augenblick zwischen den geliebten Büchern.

Sie wisperten wieder!

Aufgeregt.

Fordernd.

Wissend.

„Was wollt ihr mir sagen?“ Beas Stimme war nur ein Hauchen. Sie wagte es nicht, laut zu sprechen, weil sie Angst hatte, ihre Freunde mit ihren Worten zu verschrecken. Die Antwort, die sie erhielt, war so vielstimmig, dass sie nichts verstand.

Was blieb, war das Gefühl, dass etwas Neues und Wichtiges sich ankündigte. Doch bevor sie nachfragen konnte, was genau das sein könnte, läutete hinter ihr die Ladentür. „Wir haben geschlossen“, sagte Bea mechanisch, noch ehe sie sich überhaupt darüber wundern konnte, dass um diese nachtschlafende Zeit jemand das Antiquariat betrat. Sie drehte sich um und sah …

„Chaya, was machst du denn hier?“

Da Beatrice das Licht nicht eingeschaltet hatte, blieben die Gesichtszüge des Mädchens im Halbdunkel verborgen. Dennoch hatte sich das Kind auf subtile Art verändert. Irgendwie wirkte sie nicht mehr so zerbrechlich. Der Kopf hatte sich den restlichen Proportionen des Körpers ein klein wenig angepasst. Er schien nicht mehr viel zu groß im Vergleich zum dünnen Hals. War das möglich? Oder spielte Beatrice’ Wahrnehmung ihr einen Streich?

„Ich wollte das Buch zurückbringen.“ Aus einer kleinen Umhängetasche zog sie Pippi Langstrumpf heraus. „Ich habe es leer gelesen.“

Leer gelesen? Beatrice hatte natürlich schon öfters diese Formulierung zu hören bekommen. Die Leute sagten so was. „Ausgelesen“, „zu Ende gelesen“ oder eben „leer gelesen“. Doch aus Chayas Mund klang es, als würde sie es nicht im übertragenen Sinne meinen. Als sie einen Schritt nach vorne tat und das hereinfallende Mondlicht ihre Wangen streichelte, sah Bea diesen Gesichtsausdruck, der ehrliches Bedauern und eine unausgesprochene Bitte um Entschuldigung widerspiegelte.

Bea nahm das Buch entgegen. Selbst für ein Kinderbuch lag Pippi ungewöhnlich leicht in der Hand. Es erinnerte an ein Stück Pappmaché in Form eines Buches, wie es in Möbelhäusern verwendet wurde, damit die ausgestellten Schränke nicht so leer aussahen.

Eigentlich hätte Bea fragen können, warum Chaya gerade mitten in der Nacht das Buch zurückbringen wollte oder woher sie wusste, dass Bea hier war. Stattdessen fragte sie: „Was hast du mit dem Buch gemacht?“

Denn als sie das Buch aufschlug und die Blätter zwischen ihren Fingern hindurchgleiten ließ, … rieselte zarter Papierstaub auf den Boden. Die Seiten waren grau und ungewöhnlich dünn. Sie erinnerten an ein Gebetsbuch. Die Schwärze der gedruckten Buchstaben zeigte haarfeine Risse. „Was hast du mit dem Buch gemacht?“ Beatrice wiederholte die Frage. Es gelang ihr kaum, den Blick von Pippi zu lösen.

Chaya war einen Schritt zurückgewichen. Eine Antwort war ihr jedoch nicht über die Lippen gekommen. Verstört und ängstlich schaute sie zu Beatrice auf. Aber sie sagte nichts.

Als Beatrice ungeschickterweise ihre Frage ein drittes Mal wiederholte, flog die Ladentür auf und Chaya verlor sich auf der Straße wie ein Schatten in der Dunkelheit.

„Hier geht’s nicht mit rechten Dingen zu“, flüsterte Bea verwundert und benutzte damit eine Floskel, die auf abertausenden Klappentexten ein Zuhause hatte. „Das hätte Herrn Plana irgendwie gefallen.“ Es hätte ihm sogar ein Schmunzeln ins Gesicht gezaubert.

Der brüchige Einband zerfaserte zusehends zwischen Beatrice Fingern. In wenigen Minuten würde das Buch wahrscheinlich endgültig aus dem Leim fallen. Nie hatte sie ein Buch als so leblos empfunden. Vielleicht war es Zeit für etwas Buchland-Zauber. Eine Nacht inmitten der Artgenossen würde der gedruckten Version von Pippi Langstrumpf bestimmt gut tun. Beatrice schob das Buch zurück an seinen ursprünglichen Platz im Regal und beschloss, herzhaft gähnend, diesen merkwürdigen Tag enden zu lassen. Morgen würde wieder alles beim Alten sein.

Beatrice stellte fest, dass nichts wieder beim Alten war. Während die ersten Kunden im Laden stöberten und die üppig beladenen Auslagen betrachteten, klebte Beas Blick immer wieder entgeistert an dem schwarzen Strich fest, der durch die Lücke in den ansonsten geschlossenen Reihen im Bücherregal entstanden war. Dort, wo sie gestern das Kinderbuch eingeschoben hatte, lag ein klägliches Häuflein Staub. Wie konnte das sein? Wie konnte ein Buch innerhalb so kurzer Zeit zerfallen? Das hatte Beatrice noch nie erlebt. Schon gar nicht hier im Antiquariat. Hier starben keine Bücher! Hier lebten sie auf. Egal, was es zu bedeuten hatte: Es konnte nichts Gutes sein. Aber wenn sie Antworten finden wollte, gab es nur einen Ort, an dem sie danach suchen konnte. Während der Zeiger langsam über das Zifferblatt ihrer Armbanduhr kroch, überkam sie mehr und mehr ein Gefühl der Unruhe. Die Angst, dass etwas ihre Bücher bedrohte, machte sich schmerzhaft spürbar in ihren Knochen breit. Da war noch immer das Wispern um sie herum. Doch entgegen aller Erfahrungen, die sie bislang zwischen den Büchern gemacht hatte, klang es nun kläglich, geradezu krank.

Kurz vor Mittag entschied sie kurzerhand, den Laden zu schließen. Wenn in ihrem Antiquariat Bücher verschwanden, duldete es keinen Aufschub. Dass sie einer ihrer besten Kundinnen, Frau Richter, dabei die Tür quasi vor der Nase zusperrte, nahm sie in Kauf.

Sie eilte zum Maschinentelegraphen, ließ den Hebel an der richtigen Stelle einrasten und riss die Tür zur Kellertreppe auf. Sie war schon die ersten Stufen hinuntergerannt, bis sie abrupt stehen blieb.

„Was zum …“

Die in Stein geschlagenen Stufen wanden sich wie ehedem hinab. Die Finsternis wurde von den Glühbirnen in die Fugen zwischen den Steinen verbannt, doch ihr Licht wurde feucht glitzernd zurückgeworfen. Von der halbrunden Decke hingen kleine, schleimig grüne Stalaktiten herab. In der Luft schwebte ein unangenehmer Geruch, der an faulende Eier erinnerte.

„Es wäre schön, wenn ich jetzt meinen Herrn Plana an meiner Seite hätte“, flüsterte Bea in die Kälte, die ihren Atem in weiße Dunstschwaden verwandelte. „Ein Auktoral wüsste, was das zu bedeuten hat.“

Weitaus langsamer setzte sie ihren Weg hinunter fort. Dabei musste sie aufpassen, dass sie nicht ausglitt, denn mit jedem Schritt wurden die Stufen glitschiger. Moos, Schimmel und Schwamm hatten sich ausgebreitet, machten den Abstieg zu einem gefährlichen Unterfangen.

Unten angekommen nahm sie sich die Taschenlampe. Die Beleuchtung reichte zwar bis in die Abteilung mit den aktuellen Kinderbüchern, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass etwas zusätzliches Licht nicht schaden konnte. Die Regale mit den Grüffelos und Elfen waren nicht weit entfernt und im Vergleich zu den restlichen Themengebieten relativ überschaubar. In einer Viertelstunde konnte sie da sein, sich ein neues Exemplar von Pippi nehmen und schleunigst wieder …

 

Entsetzt hinderte sie sich daran, den Gedanken zu Ende zu spinnen. Sie liebte das Buchland! Es war doch kein Ort, von dem sie fliehen wollte. Beatrice hob die Schultern, reckte das Kinn vor und wagte endlich, ihren Weg mutig fortzusetzen. Immerhin war hier unten alles in Ordnung. Was auch immer da im Treppenabgang passierte: Es passierte nur dort.

Alles in Ordnung!

Irgendwo knackte es.

Etwas Anderes trippelte über den steinernen Boden.

Kicherte da etwas? Oder jemand?

Bea drehte sich langsam um. Der Gang hinter ihr war genauso leer wie der Gang voraus. „Buh!“ Nein, das hatte niemand gesagt. Es lag nur unausgesprochen in der Luft.

Beatrice schluckte trocken. Der Kloß im Hals blieb davon unbeeindruckt. Er ließ ein zaghaftes „Hallo?“ der Kehle entweichen. Ein Echo, das unnatürlich laut zurückhallte, kam einer Antwort gleich. „Hallo!“

„Ist da jemand?“

Das Echo zerhackte ihren Satz. Aus allen Richtungen drangen ihre Worte zu ihr zurück. „Ist da jemand … da jemand … jemand … ist … da … jemand … da ist jemand.“

Herr Plana, dachte Bea, hätte jetzt gesagt: „Das Echo, welches Bücher erzeugen, ist nicht akustischer Natur.“ Nein, hier unten konnte es nicht so einen Widerhall geben. Sie hielt sich doch nicht in einer Schlucht aus Kalk und Granit auf. Hier gab es nur Holz und Papier.

Das Licht über ihr flackerte. Noch bevor sie nach oben blicken konnte, machte es über ihr leise „patsch“. Dann rieselten kleine Glasscherben herunter. Schützend hob sie die Arme über ihren Kopf, spürte, wie warme Splitter von ihr abprallten und mit leisem Klirren auf dem Boden aufschlugen. „Patsch, patsch, patsch.“ Überall um sie herum wiederholte sich das Geschehen und ließ sie schließlich in absoluter Finsternis zurück.

Vorsichtig ließ Beatrice die Arme sinken, schüttelte sich, um das Glas vom Körper zu bekommen. Ein paar kleine Schnitte brannten in der Haut, doch alles in allem war sie wohl unverletzt. Sie erlaubte sich, wieder zu atmen, und rang die aufkommende Panik nieder. Das Zittern ihrer Finger bekam sie auch in den Griff. Sie schaffte es, die Taschenlampe einzuschalten.

Wahrscheinlich wäre es nun das Vernünftigste gewesen, so schnell wie möglich den Rückweg anzutreten. Aber Beatrice spürte in sich eine ungekannte Art von Trotz, die allerdings nicht mit Mut zu verwechseln war. „Hey Pippi Langstrumpf. Trallali“, flüsterte sie. Das entsprechende Regal war ja nicht mehr weit.

Als sie es erreichte, entfuhr ihr ein erstauntes Pfeifen. Ein imposanter Anblick. Sie schätzte das Gesamtwerk Astrid Lindgrens auf knapp 100 Titel. Dazu kamen zig Spezialeditionen, Neuauflagen, illustrierte Fassungen und allerhand Drehbücher, bei denen Frau Lindgren als Co-Autorin mitgewirkt hatte. Darüber türmten sich die unzähligen Übersetzungen in die Höhe. Das spärliche Licht in ihrer Hand erlaubte Beatrice nur eine begrenzte Sicht. Von hier unten sah das Regal deshalb aus, als würde es sich bis unter das ferne Deckengewölbe recken. Oder weiter. „Das wird ein Weilchen dauern.“

Sie zog eine Leiter auf Rollen vom Nachbarregal heran und machte sich forsch an den Aufstieg. Die Taschenlampe klemmte sie dabei zwischen die Zähne, um mit beiden Händen sicheren Halt zu haben.

Etwa drei Meter über dem Boden fand sie das Brett mit den deutschsprachigen Titeln. Da standen sie: Pippi Langstrumpf, Pippi geht an Bord und dann … eine Lücke, die, gefüllt mit leuchtend blauem Nebel, den Umriss eines Buches formte. Vorsichtig griff Beatrice in die Lücke. Das Gefühl eines Déjà-vu stellte sich ein. Sie tastete nach dem Dunst, der aber körperlos ihrem Griff entfloh. Stattdessen spürte sie ein Stück Karton, das am angrenzenden Buch lehnte. Sie zog es hervor.

„Eine Postkarte“, entfuhr es ihr erstaunt. Dann las sie: „Vergriffen. Regalplatz 09081979. Die Geschichte eines mutigen Mädchens auf einer Südseeinsel. Lesen Sie die Abenteuer der kleinen Pippi und ihrer treuen Freunde. Tauchen Sie ein in eine anarchische Erzählung für Kinder. ISBN 978-3789116322. Weitergehende Informationen erhalten Sie in der Buchbinderei.“

Ein alter Bekannter

Beatrice hätte nie gedacht, dass sie das Schicksal nochmal so tief ins Buchland führen würde. Seitdem sie das Antiquariat geerbt hatte, hatte sie sich nicht mehr so weit in die Gänge hineingewagt. Sie wusste um das mächtige Eigenleben des geschriebenen Wortes, wusste um die Magie, die die Realität um die Fiktion krümmte wie das Weltall den Raum um die Masse. Es gab hier Gänge, die sich verschoben, Bücher, die sich bewegten, und Wesen, denen sie nie wieder begegnen wollte. Ja, sie liebte das Buchland. Aber sie hatte auch einen höllischen Respekt vor dem, was im Buchland zu finden war.

Jetzt, nur bewaffnet mit einer Taschenlampe, konnte niemand von ihr erwarten, dass sie sich zum Blinden Buchmacher aufmachen würde. „Nein, meine Lieben“, flüsterte sie den Büchern zu, „das Spiel mache ich nicht mit. Ich bin nicht eure Marionette.“

Entschlossen schob sie die Karte zurück an ihren Platz, stieg die Sprossen hinab und …

Die Taschenlampe flackerte. Ihr Licht färbte sich von hellem Gelb zu schwachem Orange. Just als Beas Füße den sicheren Boden berührten, erlosch das kleine Birnchen hinter der Scheibe gänzlich.

„Scheiße“, stellte Bea aus tiefstem Herzen fest. Dabei drehte sie sich zwei oder drei Mal um die eigene Achse, um zu sehen, ob es vielleicht irgendwo ein Funken Helligkeit in ihrer Nähe gab. Ein fataler Fehler! Jetzt hatte sie endgültig ihre Orientierung verloren.

Sie streckte vorsichtig die Arme in beide Richtungen aus. Die Leiter musste ja noch neben ihr stehen. Die Leiter lehnte doch am Regal, das vorhin, als sie gekommen war, rechter Hand gewesen war. Wenn sie die Leiter fände, diese dann links zurücklassen würde, musste der Gang sie zurück zum Ausgang führen. Soweit die Theorie …

Fast gleichzeitig fanden ihre Fingerspitzen den Holm einer Leiter; auf beiden Seiten des Ganges, sich genau gegenüberstehend. „Das ist ein ziemlich schlechter Scherz“, beschwerte sich Bea beim Schicksal.

Das war es nicht. Nach Lachen war ihr eigentlich auch gar nicht mehr zumute, denn sie hatte nun keine Ahnung, wie sie wieder herausfinden sollte. Und zu ihrem Verdruss musste sie feststellen, dass sie einen der elementarsten Patzer gemacht hatte, die man hier unten machen konnte: Sie war aufs Geratewohl in die Gänge gelaufen. Weil sie den Weg zu den Kinderbüchern auswendig kannte, hatte sie auf die Kordel verzichtet.

„Ruhig bleiben“, befahl sie sich. Das Zittern in ihrer Stimme trug nicht dazu bei. Sie atmete tief durch, schloss die Augen (was in Sachen Sicht keinen Unterschied machte) und lauschte. Jetzt, wo sie sich darauf konzentrierte, konnte sie die Bücher wieder hören. Ihr Flüstern war kaum wahrnehmbar. Es war mehr ein Tuscheln. „So“, sagte Bea etwas aufgeräumter, „jetzt seid ihr dran. Ein bisschen Hilfe könnte nicht schaden. Wie komme ich hier wieder raus?“ Im nächsten Augenblick gesellte sich zu der absoluten Schwärze auch noch eine absolute Stille.

„Was soll das?“ Bea wollte wütend klingen. Sie tat es nicht.

Ein hohes Fiepen, irgendwo in einem entfernten Gang, entlockte ihr ein verzweifeltes Stöhnen. Von all den Wesen, die ihr in der Vergangenheit hier im Buchland begegnet waren, fürchtete sie am meisten die Ratten.

Doch anstelle des leisen Trippelns kleiner Füßchen vernahm Beatrice kurz darauf das schwere Pochen, das festes Schuhwerk auf Steinboden erzeugte. Sie war nicht allein!

„Wer … Wer ist da?“

Obwohl das Klangmuster auf einen langsamen, gemächlichen Schritt schließen ließ, näherte sich die Geräuschquelle rasch.

Abstruse Gedanken blitzten in Bea auf: Mors. Vitae. Wie weit war sie von der Tür zu den Großen Büchern entfernt? Hatte sie sich geöffnet? Würde sie gleich dem Buchhalter gegenüberstehen?

Ihre Beine hatten – ohne ihren Kopf – eine längst überfällige Entscheidung getroffen: Sie rannten blindlings drauflos. Die Arme nach vorne gestreckt wie ein Zombie, der in aller Dringlichkeit eine Toilette suchte, stolperte und strauchelte sie durch die Finsternis. Sie kam keine zwanzig Meter weit. Ein Bibliothekswagen stand aus unerfindlichen Gründen mitten im Weg.

„Das hat weh getan“, stellte jemand fest. „Darf ich dir aufhelfen?“

Eine Hand griff unter Beas Achseln, zog sie sanft nach oben.

„Wer ist da?“, fragte sie etwas lahm, während sie sich den schmerzenden Ellenboden rieb.

Der Fremde richtete den Wagen auf und schob ihn an den Rand des Ganges. Dann hörte Bea, wie er wieder zu ihr zurückkam. „Noch alles heil?“

„Wer sind Sie?“

„Du kennst mich“, sagte die Stimme.

Ja, sie kannte die Person. Aber für den Moment ließ sich für Beatrice die Stimme nicht einordnen. Doch ihr Unterbewusstsein schaufelte nach und nach einige Assoziationen nach oben. Eine Holzhütte, eine Werkbank, Bucheckenzangen, Zwingen, Falzbeine, Winkel und Schienen. Das ganze Zeugs, das man brauchte, als ein …

„… Buchbinder“, sagte Beatrice überrascht.

„Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg kommen.“ Ein leiser Vorwurf lag in den amüsiert vorgetragenen Worten. „Eigentlich hatte ich gehofft, dass du den Weg zu mir finden würdest. Aber so ist es auch gut.“

„Ich finde gerade gar nichts“, gab Bea kleinlaut zu.

„Warum?“

„Es ist stockfinster.“

„Ach, halb so wild. Das ist es für mich hier unten immer. Ich habe nur eine ungefähre Ahnung von der Gegend um uns herum. Den Rest malt mein Kopf.“ Stimmt, dachte Beatrice. Die hervorstechendste Eigenschaft, wenn man in diesem Fall von Eigenschaft sprechen konnte, war die Blindheit des Buchbinders. Ein ganzes Kapitel hatte Beatrice ihm in ihrem Buch gewidmet. „Der Blinde Buchbinder“, entfleuchten die Gedanken ihrem Munde.

„Nenn mich Markus“, sagte der Buchbinder in aller Vertraulichkeit.

„Markus“, wiederholte Beatrice. Sie schien diesen Namen abzuschmecken, seinen Klang mit der Person in Verbindung zu bringen, an die sie sich noch erinnerte. Schlank, eine ziemlich hohe Stirn, im besten Alter und in seiner süffisanten Art ebenso arrogant wie Herr Plana. Ja, so hatte sie ihn einst beschrieben. Trotzdem fiel es ihr schwer, ihn sich richtig ins Gedächtnis zu rufen, denn ihre Begegnung mit ihm in seiner Hütte war jetzt ungefähr zwei Jahre her. „Markus?“ Irgendwie passte der Namen nicht.

„Hört sich nur halb so geheimnisvoll an wie der Blinde Buchbinder. Ich weiß. Aber eine kleine Plauderei ist doch bei Weitem angenehmer, wenn man sich freundschaftlich ansprechen kann“, erklärte der Buchbinder. „Sollen wir uns nicht setzen?“

„Eigentlich möchte ich bloß so schnell wie möglich hier raus“, sagte Bea ehrlich. Ihr schlug das Herz immer noch bis zum Hals. Und auch wenn sie die Tatsache tröstete, dass sie nun nicht mehr allein war, so war die gesamte Situation, in der sie sich befand, doch extrem verstörend.

„Angst vor der Dunkelheit?“ Markus schmunzelte. „Habe ich mir abgewöhnt.“ Dann wurde seine Stimme eine Spur ernsthafter. „Aber ich kann dich verstehen. Das Ambiente ist leicht unheimlich geworden. Die Freunde deines Herrn Plana sind im Moment auch nicht mehr so freundlich zu dir, wie sie es einst ihm gegenüber gewesen sind. Was glaubst du, woran das liegt?“

Beatrice zuckte mit den Schultern und wurde sich erst dann der Tatsache bewusst, dass Markus es nicht sehen konnte. „Keinen Schimmer. Ich habe nach einem Buch gesucht, das verschwunden ist, habe aber nur einen Vermerk vorgefunden. Wissen Sie etwas über …“

„… Pippi?“ Markus seufzte schwer. „Ja. Ich weiß, dass ein Buch von ihr fehlt.“

„Wie kann das sein? In diesem Keller gibt es alle Bücher.“

Markus Stimme kam nun von unten. Er hatte sich offensichtlich auf den Boden gesetzt. „Erinnerst du dich noch, was dein Herr Plana über die Seelen der Bücher erklärt hat? Es steckt Seele in ihnen. Die Seelen der Figuren und auch sehr viel Seele von den Autoren. Plana hat sich in gewisser Weise davon genährt. Sie haben ihm Substanz verliehen.“

„Ja. Deshalb musste ich ihm immer vorlesen, ich erinnere mich. Aber was hat das mit dem verschwundenen Buch zu tun?“ Beatrice ließ sich im Schneidersitz neben Markus nieder.

 

„Hmm. Da musst du selbst drauf kommen“, sagte er bedächtig. „Eine Geschichte verrät nie ihre Geheimnisse zu Beginn. Oder wie Carlyle gesagt hat: Kein gutes Buch oder irgendetwas Gutes zeigt seine gute Seite zuerst.“ Eine kleine Pause folgte, dann wechselte er scheinbar das Thema. „Es wäre ein herber Verlust, wenn ein bedeutsames Buch aus dem Buchland einfach so verschwinden würde. Ein Auktoral würde alle Hebel in Bewegung setzen, um die Lücke zu schließen.“

„Ich bin kein Auktoral“, erwiderte Bea leise. Irgendwie wurde sie schon wieder zu diesem Punkt gelenkt. „Ich habe nur das Buchland-Buch geschrieben. … wie es von mir verlangt wurde.“

Markus schnaubte. „Verlangt? Ich glaube, du hättest es so oder so geschrieben. Aber da kann ich mich irren.“

„Du bist der Buchbinder! Warum machst du nicht einfach ein neues Pippi-Buch?“

„Wie sollte ich? Denkst du, ich kenne alle Manuskripte auswendig? Nein. Bücher hierher bringen, das können nur die Autoren.“

„Tja, dann weiß ich auch nicht, wie ich helfen soll.“

„Hmm. Vielleicht solltest du, wenn du oben an Herrn Planas Sekretär sitzt, nochmals darüber nachdenken. Vielleicht fällt dir dann ein, wie du helfen kannst. Vielleicht beweist du so, ob du irgendwann mal das Zeug zum Auktoral hast.“

Beatrice verdrehte die Augen und ärgerte sich sofort, dass ihre Geste des Unmuts abermals unbemerkt blieb. „Ich will doch gar nicht Auktoral werden.“

„Genauso wie du keine Schriftstellerin werden wolltest“, stellte Markus fest. Die Worte trieften vor Ironie.

„Ich soll mich also gleich an den Sekretär setzen? Toller Tipp.“ Beatrice hatte inzwischen einen ihrer jähen Stimmungswechsel vollbracht. Ihre Stimme klang nicht mehr ängstlich oder verunsichert. Sie klang schnippisch. „Ich mache mich gleich mal auf den Weg. Wo geht es lang?“

„Zur Treppe geht es da lang“, sagte Markus. Offensichtlich deutete er mit dem Zeigefinger in eine Richtung.

Beatrice vergaß ihren Kloß im Hals. Sie wurde jetzt richtig sauer. „Am lustigen Stein gelutscht, oder was?“

Die Geräusche neben Beatrice ließen darauf schließen, dass sich der Buchbinder erhob. Kurz danach griff er ihr zielsicher unter den Arm und zog sie auf die Beine.

„Pssst! Sei ganz leise.“

Bea war ganz leise.

„Hör genau hin!“

Sie hörte genau hin.

„Da ist etwas.“

Da war etwas.

„Vor dir.“ Zwei bernsteinfarbene Punkte glommen in undefinierbarer Ferne auf. Kaum zu sehen. Aber sie waren eindeutig da. „Da kennt sich jemand besser aus als du“, sagte Markus. „Lauf einfach hinterher. Die Treppe wartet auf dich.“

Die Treppe! Beatrice dachte an das Horror-Outfit, dass sich die Stufen und die Wände angelegt hatten. „Wissen Sie, was mit der Treppe passiert ist?“

„Ja.“

Beatrice starrte weiter in die Richtung, in der sie die blassen Lichter sah. Sie wollte sie nicht aus den Augen verlieren. Erwartungsvolle Stille. Dann: „Und … was ist mit der Treppe passiert?“

„Das, was mit allem hier unten geschieht.“ Der Blinde Buchbinder flüsterte. Seine Lippen berührten fast Beas Ohr. „Das Buchland verändert sich. Es passt sich an. So wie ein Buch sich seinem Leser anpasst, passt sich das Buchland seinen Besuchern an. Jeder bringt was Anderes mit herein. Deshalb nimmt auch jeder etwas Anderes mit heraus.“

„Warum passt sich das Buchland an?“

„Es ist ein Konstrukt der Phantasie. Jeder Mensch begegnet einer Geschichte anders. Eine Geschichte ist das, was man in sie hineindenkt. Nicht der Schreiber vollendet die Geschichte. Der Leser gibt ihr die endgültige Gestalt. Seine Erfahrungen, Sehnsüchte, Erwartungen färben, formen, kneten erst das geschriebene Wort des Schreibenden.“ Markus holte tief Luft. „Mit Plana an deiner Seite war das Buchland geheimnisvoll und gleichzeitig faszinierend. Als der Buchhalter es durchschritt, war es kalt und bedrohlich für dich. Als du mich besuchtest, war es wandelbar und kreativ. Erinnerst du dich? Für Plana gab es Treppen. Für mich gab es eine Rutsche. Und der Buchhalter benötigte weder das eine noch brauchte er das andere.

Da Plana ein Teil von dir war, siehst du das Buchland heute noch immer so, wie es sich damals auf ihn eingestellt hatte. Aber nun ändert sich etwas. Du spürst es, oder?“

Der Atem des Buchbinders streifte kalt ihren Nacken. Eine Gänsehaut ließ sie schaudern. „Alles wird angsteinflößend und gefährlich.“ Ja, alles. Sogar dieser Mann hinter ihr.

„Das ist ein eindeutiges Zeichen, dass ein neuer Besucher das Buchland durchstreift.“ Markus’ leise Stimme wurde langsam zu einem Zischen.

Beatrice kniff die Augen zusammen. Die beiden Punkte, die ihr den Weg zum Ausgang versprachen, verschwammen zusehends mit dem undurchdringlichen Schwarz. „Wer?“

„Eine Macht, die beinahe so groß ist wie der Tod. Sie ist so alt wie die erste Geschichte, die einst in einer Höhle erzählt worden ist. Sie ist allgegenwärtig.“

„Scheint kein angenehmer Mensch zu sein“, sagte Beatrice unsicher.

Markus’ Stimme bewegte sich fort. „Habe ich von einem Menschen gesprochen?“

„Wovon“, stieß Beatrice hervor, „sprechen Sie denn sonst?“ Keine Antwort. „Theatralischer Auftritt. Theatralischer Abgang. Wie passend.“

Beatrice ging ein paar Schritte. Die leuchtenden Punkte, die sie immer noch anvisierte, verschwanden kurz, nur um dann etwas weiter entfernt wieder aufzutauchen. Dabei konnte Beatrice das leise Schwingen von Flügeln vernehmen.

Beatrice verfolgte, so schnell es eben in dieser Finsternis möglich war, die Punkte, die mal hier, mal da vor ihr aufleuchteten, um dabei von Zeit zu Zeit regungslos wartend zu verharren, mal ungeduldig auf und ab zu wippen. „Nicht so schnell“, keuchte Bea manchmal. Die Punkte schienen sie dann zu verstehen, verlangsamten ihr Tempo. Doch wenn die Bibliothekarin zu nahekam, gab es ein kraftvolles Flattern, gefolgt von einem Rauschen und ein gutes Stück weiter vorne leuchteten jäh wieder braune Flämmchen, die geduldig warteten.

„Was bist du?“, fragte Bea.

Die Erwiderung war unverständlich, aber überaus aussagekräftig: „Schuhuhu.“

Irgendwann empfing sie das matte Licht der Treppe. Die Büchereule setzte sich auf das Bord der aktuellen Charts. Dort begann sie damit, sich ausgiebig zu putzen. Ein paar beigefarbene Federn schwebten sanft zu Boden.

Beatrice ging vorsichtig zu ihr hin, strich sachte mit dem Daumen über den Rücken. „Danke.“ Die Bernsteinaugen, umrahmt von kreisrunden kleinen Tellern, begegneten Beas Blick, zwinkerten weise und ruckten dann wieder hin und her.

„Ohne dich wäre ich echt aufgeschmissen gewesen. Kann ich dir etwas Gutes tun? So als Bezahlung für deine Mühen?“

Der große Eulenkopf nickte eifrig. Ein Satz mit angelegten Flügeln beförderte sie an den Anfang des Regalbretts. Dort griffen die Vogelkrallen sich Platz eins und Platz zwei der Belletristik-Hitparade.

„Die willst du haben?“

Kopf hoch. Kopf runter.

„Nur zu.“

Die Schwingen des Nachtvogels breiteten sich aus, schlugen in ihrer ganzen imposanten Spannbreite majestätisch ein paar Mal und dann … war Bea wieder allein.

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