Die Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts

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(b) Begriffseinheit

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Als weitere mögliche Konsequenz einer einheitlichen Rechtsordnung kommt eine einheitliche Begriffsverwendung in Betracht.[312] Stellt die Rechtsordnung sich als einheitliches – wenn auch unvollkommen nach außen getragenes – Gedankengebilde einer rechtssetzenden Instanz dar, so liegt der Gedanke nahe, dass ein und derselbe Begriff in verschiedenen Normen der Rechtsordnung immer dieselbe Bedeutung aufweist und insbesondere auch Legaldefinitionen sich so übertragen lassen.

(aa) Die grundsätzliche Relativität der Rechtsbegriffe

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Auf den zweiten Blick stellt diese vermutete Folgerung aus dem Einheitsgedanken sich jedoch als Irrtum heraus: In Bezug auf scheinbar identische Rechtsbegriffe gilt dasselbe, was im Rahmen der Klärung des Verhältnisses von Recht und Sprache bereits zur Beziehung zwischen Rechts- und Alltagsbegriffen ausgeführt wurde:[313] Ein Begriff und seine Bedeutung sind streng voneinander zu trennen; für die Ermittlung der Bedeutung eines Begriffs ist der Kontext zu berücksichtigen, in dem der Begriff verwendet wird. Verschiedene Rechtsnormen bieten ein und demselben (Rechts-)Begriff daher jeweils verschiedene Umgebungen, die auf seine Bedeutung rückwirken.[314] Dies gilt nicht nur, wenn ein Begriff in verschiedenen Gesetzen verwendet wird, sondern selbst dann, wenn ein Begriff im Rahmen eines Gesetzes an unterschiedlichen Stellen verwendet wird.[315] Dieses Phänomen wird als die sog. „Relativität der Rechtsbegriffe“[316] bezeichnet.

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Dagegen ließe sich einwenden, dass die Entscheidung des Normgebers, denselben Begriff an mehreren Stellen der Rechtsordnung zu verwenden, gerade darauf schließen lässt, dass er hier einen Gleichklang herbeiführen wollte, der Begriff also auf den telos der Norm einwirkt und nicht umgekehrt. Dieser Gedanke geht aber bereits deshalb fehl, weil dem Normgeber nur begrenzte sprachliche Möglichkeiten zu Verfügung stehen.[317] Der Wortschatz einer Sprache ist naturgemäß nicht unerschöpflich. Die Bildung von Neologismen hingegen ist für die Abfassung von Normen nur sehr begrenzt geeignet.[318]

Eine relative Begriffsverwendung ist demnach kein Widerspruch zu einer im hier verstandenen Sinne einheitlichen Rechtsordnung,[319] sondern gerade ein Zeichen derselben.[320]

(bb) Verfassungsrechtliche Begrenzung der Relativität der Rechtsbegriffe?

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Dem Phänomen der Relativität der Rechtsbegriffe könnten allerdings verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt sein. In Frage kommt ein Konflikt mit dem Rechtsstaatsprinzip sowie mit dem allgemeinen Gleichheitssatz in seiner Ausprägungsform des Willkürverbots.

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Zum Gewährleistungsgehalt des Rechtsstaatsprinzips gehört der Grundsatz der Rechtssicherheit, der wiederum mehrere Elemente in sich vereint.[321] In Betracht zu ziehen sind der allgemeine rechtsstaatliche Bestimmtheitsgrundsatz sowie das Vertrauensschutzprinzip. Letzteres schafft für den Bürger individuelle Erwartungssicherheit.[322] Diese kann sich allerdings nur auf etwa den Fortbestand der Rechtslage, die Wirkung begünstigender Verwaltungsakte oder die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen usw. erstrecken, nicht aber auf die normübergreifend identische Auslegung eines Rechtsbegriffs. Das Bestimmtheitsgebot hat zum Ziel, dem Bürger zu ermöglichen, sein Verhalten an den Erwartungen des Rechts auszurichten.[323] Auch hieraus folgt nicht verfassungsrechtlich verbindlich, dass ein und derselbe Rechtsbegriff in unterschiedlichen Normen identisch verstanden werden müsste.[324] Insgesamt scheidet damit das Rechtsstaatsprinzip zur Begründung einer verfassungsrechtlichen Begrenzung der Relativität der Rechtsbegriffe aus, wovon auch das Bundesverfassungsgericht wie selbstverständlich auszugehen scheint, wenn es ausführt, dass das Steuerrecht „wie jedes andere Rechtsgebiet“ seine eigenen Tatbestände (scil. Begriffsbedeutungen) präge.[325]

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Das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Willkürverbot erfasst nur Fälle, in denen die Rechtsfindung überhaupt nicht mehr nachvollziehbar ist und sich daher der Verdacht des Einflusses sachfremder Erwägungen aufdrängt; diese Schwelle wird laut dem Bundesverfassungsgericht durch eine relative Auslegung von Rechtsbegriffen aber nicht – jedenfalls nicht generell – überschritten, weil es „[i]n einer komplexen Rechtsordnung […] keineswegs ungewöhnlich [sei], daß Rechtsbegriffe […] in verschiedenen Rechtsgebieten unterschiedliche Bedeutung haben.“[326]

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Insgesamt steht daher die Verfassung der Relativität der Rechtsbegriffe nicht generell entgegen.

(cc) Tendenzen hinsichtlich einer einheitlichen Begriffsverwendung

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Nach dem Gesagten besteht eine Vermutung für die Relativität der Rechtsbegriffe;[327] diese ist jedoch im Einzelfall widerleglich. Auf diese Erkenntnis aufbauend bieten sich mehrere gedankliche Wege an, die tendenziell von einer vollständigen Relativität der Rechtsbegriffe hin zu einer zumindest teilweise vorhandenen begrifflichen Akzessorietät streben:

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Zum einen darf das Prinzip der Rechtssicherheit nicht aus den Augen verloren werden. Ein sich stark unterscheidendes Verständnis ein und desselben Begriffs in unterschiedlichen Teilen der Rechtsordnung beeinträchtigt – wenn auch nicht in verfassungswidriger Art und Weise – die Vorhersehbarkeit der Rechtspraxis. Der Normadressat schöpft überdies seine Rechtskenntnis regelmäßig nicht aus dem Gesetz selbst, sondern aus seiner Umsetzung in Exekutive und Judikative.[328] Hier kommt er detaillierter mit der Ausformung einzelner Rechtsbegriffe in Berührung. Dieses ihm so mitgeteilte Begriffsverständnis wird er in sein Normbewusstsein aufnehmen und auch seinem künftigen Verhalten zugrunde legen.

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Zum anderen ist Folgendes zu berücksichtigen: Auch wenn sich alltäglicher und juristischer Sprachgebrauch nicht zwangsläufig decken, ist regelmäßig – zumindest im Kern[329] – eine gewisse Vorprägung der Begriffe nicht zu leugnen. Der Gesetzgeber erfindet zumeist gerade nicht neue Begrifflichkeiten, sondern schöpft auch insoweit aus der Lebenswirklichkeit, die ihn zum Erlass einer bestimmten Norm veranlasst.[330] Dementsprechend lässt sich aus den historischen Umständen des Erlasses einer Norm und einem zu dieser Zeit alltäglichen Begriffsverständnis jedenfalls auf die vom Normgeber beabsichtigte Bedeutung des Begriffs schließen. Stammen aber mehrere Normen aus derselben Zeit oder sogar aus demselben Gesetzgebungsverfahren, liegt dementsprechend die Vermutung nahe, dass der Normgeber gleichlautenden Begriffen dieselbe Bedeutung beigemessen wissen wollte. Auf diese Weise ergibt sich zwar keine unmittelbare Beziehung zwischen gleichlautenden Begriffen verschiedener Normen; deren Bedeutungen lassen sich aber auf dieselbe Quelle zurückführen, wodurch eine Verbindung zwischen ihnen geschaffen wird.

(dd) Legaldefinitionen und ihre Rolle im Rechtsgefüge

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Durchbrochen werden kann daher die Relativität der Rechtsbegriffe nur durch das Recht selbst.[331] Dies geschieht durch sog. Legaldefinitionen. Hierbei wird ein Begriff gesetzlich definiert, der an anderer Stelle im Normgefüge Verwendung findet.[332] Liegt eine Legaldefinition vor, ist diese grundsätzlich für den Rechtsanwender verbindlich.[333] Eine Missachtung verletzt den rechtsstaatlichen Vorrang des Gesetzes und das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG. Das aus der Legaldefinition hervorgehende Begriffsverständnis gilt daher für alle Normen, in denen der entsprechende Rechtsbegriff auftaucht und ist damit nicht mehr relativ zum jeweiligen Normkontext.[334] Vielmehr sind sämtliche Normkontexte, in denen auf die Legaldefinition Bezug genommen wird, zu deren Auslegung heranzuziehen.[335]

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Die Reichweite einer Legaldefinition kann allerdings beschränkt sein. In Betracht kommen drei mögliche Begrenzungen der einheitsstiftenden Wirkung:

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Zum einen kann die Anwendbarkeit einer Legaldefinition unter einer „aufschiebenden Bedingung“ stehen. Dies ist etwa der Fall bei § 11 Abs. 3 StGB, der die Erweiterung des Verständnisses des Schriftenbegriffs auf Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen davon abhängig macht, dass die jeweilige Vorschrift auf diesen Absatz verweist.

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Existiert keine solche Bedingung oder ist diese erfüllt, kann die Anwendbarkeit einer Legaldefinition auch im Nachhinein noch ausgeschlossen werden. Dies kann zum einen gleichsam „von innen“ heraus geschehen, indem die Legaldefinition ihren Anwendungsbereich selbst beschränkt. Regelmäßig geschieht dies mit dem Zusatz „im Sinne dieses Gesetzes“ o.Ä. (vgl. z.B. § 3 Abs. 1 KrWG). In diesem Fall kann die Auslegung desselben Begriffs in einem anderen Gesetz (z.B. § 326 StGB)[336] grundsätzlich autonom erfolgen, ohne dass der Rechtsanwender sich damit dem Vorwurf aussetzt, sich über das Recht zu erheben oder willkürlich zu handeln. Das schließt allerdings nicht aus, den Inhalt der Legaldefinition zur Auslegung des Begriffs heranzuziehen.[337]

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Zudem kann eine Legaldefinition „von außen“ verdrängt werden, indem ein bestimmtes Gesetz oder Teilrechtsgebiet seinerseits eine speziellere Legaldefinition vorhält.[338] Dies geschieht etwa in § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB, wo gegenüber dem allgemeinen Rechtswidrigkeitsbegriff ein spezieller Sprachgebrauch nur für das Strafgesetzbuch (und grds. auch das Nebenstrafrecht,[339] vgl. Art. 1 EGStGB) geprägt wird.

 

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Über diese Begrenzungen hinaus gibt es hingegen keinen Grund, die Geltung einer Legaldefinition für die gesamte Rechtsordnung anzuzweifeln und sie nur auf das Gesetz, das sie enthält, oder ein bestimmtes Teilrechtsgebiet zu beschränken.[340] § 12 Abs. 1 StGB etwa weist keine der beiden erstgenannten Beschränkungen auf. Die darin enthaltende Definition des Begriffs „Verbrechen“ ist demnach – soweit nichts Spezielleres vorgeschrieben ist (wie z.B. im Kontext des Begriffs „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“) – der gesamten Rechtsordnung zugrunde zu legen. Sie findet etwa Anwendung in § 74 Abs. 1 S. 1 GVG[341], § 10 Abs. 1 Nr. 1 lit. a UZwG[342] und § 52 Abs. 1 SGB V[343].

(c) Wertungseinheit

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Schließlich verbleibt die Frage, ob einer einheitlichen Rechtsordnung auch einheitliche Wertungen zugrunde liegen (müssen), also auch über die Freiheit von „echten“ Widersprüchen hinaus eine innere Konsequenz der Rechtssätze besteht. So hat etwa das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, „daß das Verfassungsrecht nicht nur aus den einzelnen Sätzen der geschriebenen Verfassung besteht, sondern auch aus gewissen sie verbindenden, innerlich zusammenhaltenden allgemeinen Grundsätzen und Leitideen, die der Verfassungsgesetzgeber, weil sie das vorverfassungsmäßige Gesamtbild geprägt haben, von dem er ausgegangen ist, nicht in einem besonderen Rechtssatz konkretisiert hat.“[344] Dieser Gedanke könnte sich auch auf die Gesamtrechtsordnung erstrecken lassen.

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Eine sorgfältige Differenzierung der hier potenziell auftretenden Widersprüche hat Engisch herausgearbeitet. Er unterscheidet hierbei Wertungswidersprüche, teleologische Widersprüche und Prinzipienwidersprüche, wobei die Übergänge zwischen ihnen teilweise fließend sind.[345]

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Als Beispiele für Wertungswidersprüche nennt Engisch etwa Fälle, in denen ein schwereres Delikt früher verjährt als ein leichteres oder dass das Strafminimum bei früheren Kindsmordtatbestand gem. § 217 StGB a.F. höher lag als beim normalen Totschlag, demgegenüber der Kindsmord eigentlich eine Privilegierung darstellen sollte.[346] Diese Fälle sind von den „echten Normwidersprüchen“ zu unterscheiden,[347] bei denen der Text verschiedener Normen sich gar nicht vereinbaren lässt, auch wenn eine Abgrenzung im Einzelfall schwierig sein kann.[348] Vielmehr sind diese Konstellationen lediglich „verwirrend für das Rechtsgefühl“[349]. Das liegt daran, dass der Gesetzgeber den Zweck der jeweiligen Regelung nicht deutlich gemacht hat.[350] Soweit aber Art. 3 Abs. 1 GG nicht verletzt wird,[351] müssen diese Inkonsequenzen bestehen bleiben; der Rechtsanwender darf sich diesbezüglich nicht über den Gesetzgeber erheben.[352] Im Strafrecht hat allerdings das Gesetzlichkeitsprinzip Vorrang vor dem allgemeinen Gleichheitssatz, weshalb insoweit etwa eine Harmonisierung von Strafrahmen (zu Lasten des Betroffenen) nicht verfassungsrechtlich geboten, sondern gerade untersagt ist.[353]

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Unter teleologischen Widersprüchen versteht Engisch Konstellationen, in denen der Gesetzgeber zwar einen bestimmten Zweck verfolgt, aber nicht die hierfür notwendigen Maßnahmen ergreift.[354] Problematisch ist in diesem Kontext insbesondere das Phänomen der symbolischen Gesetzgebung. Ist ein in Grundrechte eingreifendes Gesetz nicht in der Lage, dem eigentlich mit seiner Einführung verfolgten Zweck zu dienen, bestehen Bedenken hinsichtlich seiner Verfassungsmäßigkeit im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Im Übrigen aber bestehen teleologische Widersprüche regelmäßig[355] fort, da sie sich nicht wie echte Normwidersprüche zwangsläufig auflösen.

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Die sog. Prinzipienwidersprüche bestehen laut Engisch darin, dass verschiedene Teile der Rechtsordnung „nach gegensätzlichen Grundgedanken gestaltet [sind], ohne daß die Verschiedenheit der Prinzipien in der Verschiedenheit der zu regelnden Lebensgebiete begründet ist.“[356] Auch diese sind weitestgehend hinzunehmen, ohne dass dies der Einheit der Rechtsordnung im hier verstandenen Sinne widerspräche. Es besteht gerade keine Selbstbindung des Gesetzgebers;[357] insbesondere existiert auch kein ungeschriebener Verfassungssatz, der eine Harmonisierung der Zielsetzungen der Teilrechtsordnungen gebietet.[358] Zum einen sind unterschiedliche Zielsetzungen verschiedener Teilbereiche innerhalb einer komplexen Rechtsordnung unvermeidlich;[359] umgekehrt ist dem Gesetzgeber durch Art. 3 Abs. 1 GG sogar eine Grenze hinsichtlich der vermeintlichen Herstellung einer falsch verstandenen Einheit der Rechtsordnung gezogen.[360] Zum anderen kommt hier regelmäßig das beschriebene Verhältnis von Recht und Politik zum Tragen: Stammen verschiedene Teile der Rechtsordnung aus verschiedenen politischen Phasen, so sind diese in ihrem jeweiligen Geiste auszulegen, solange der jüngere politische Gesetzgeber keine Normen erlassen hat, die den älteren Rechtskomplex mitgestalten. Dies betrifft auch die jeweils zugrunde gelegten Prinzipien. Dementsprechend ist es auch der Exekutive und der Gerichtsbarkeit gem. Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG verwehrt, entgegen dem positiven Recht eine vermeintliche Konsistenz zwischen den Teilrechtsordnungen herzustellen.[361]

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Ein davon abweichendes Modell hat Joachim Renzikowski entwickelt:[362] Danach sind Wertungswidersprüche grundsätzlich auch über die Grenze des Art. 3 GG hinaus aufzulösen – wenn möglich.[363] Dies folgert er aus der „innere[n] Ordnung und Einheit des Rechts“, die „in der Rechtsidee selbst“ wurzle.[364]

Damit erklären sich auch die Divergenzen zur hier dargelegten Auffassung. Renzikowski leitet den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung aus dem Rechtsbegriff selbst her und versteht ihn zudem als Postulat. Außerdem geht er von der Rechtsordnung als „Menschenwerk“ aus.[365] Insoweit kann auf die obigen Ausführungen[366] verwiesen werden.

Im Ergebnis beschränken sich die Unterschiede zwischen Renzikowskis Modell und dem hier vertretenen auf ein Minimum. Auch er gesteht zu, dass Wertungswidersprüche nicht immer vermeidbar sind, was in erster Linie durch den jeweiligen historischen Kontext verschiedener Normen sowie gewandelte Weltanschauungen bedingt ist.[367] Im Übrigen dürfe der Rechtsanwender sich nicht zur Beseitigung von Wertungswidersprüchen über den Gesetzgeber erheben.[368] Insoweit verläuft der Ansatz Renzikowskis parallel zum hiesigen.

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Eine generelle Wertungseinheit besteht demnach innerhalb einer Rechtsordnung nicht.

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Etwas anderes gilt im Mehrebenensystem: Aufgrund der Verpflichtung zur gegenseitigen Rücksichtnahme im Bundesstaat ist insoweit eine Wertungseinheit herzustellen; allerdings ist es selten, dass in solchen Fällen die Grenze zwischen Verfassungskonformität und Verfassungswidrigkeit in Frage steht.[369] In Bezug auf das Unionsrecht gilt gem. Art. 4 Abs. 3 EUV der Loyalitätsgrundsatz, wonach bei der Auslegung des Rechts der Mitgliedstaaten die Zielsetzungen des Unionsrechts zu berücksichtigen sind.[370]

c) Zwischenergebnis zur Akzessorietät des Rechts zum Recht

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Die Normen einer Rechtsordnung stehen nicht isoliert neben einander, sondern bilden ein komplexes System. Erst aus ihrem Zusammenspiel ergibt sich der Inhalt des Rechts, der gleichsam „hinter“ den Normen steht. Die Normen verhalten sich zum Recht wie Metallspäne auf einem Blatt Papier bei der Annäherung eines Magneten: Sie sind zwar nicht das Magnetfeld, bilden es aber – wenn auch nicht vollständig – ab. Die Systematik der Anordnung der Späne lässt aber auch für die Stellen, an denen sich kein Metall befindet, Rückschlüsse über den Verlauf des Magnetfelds zu.

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Diese Ordnung im Recht ist nicht erst vom Rechtsanwender herzustellen, sondern dem Recht immanent und dem Anwender somit vorgegeben. Dies folgt aus der notwendigen Einheit des Willens des hinter dem Recht stehenden Gesetzgebers. Daraus ergibt sich, dass die Beurteilung über rechtmäßig oder rechtswidrig nur einheitlich vor der ganzen Rechtsordnung erfolgen kann. Welche Konsequenzen die einzelnen Rechtsgebiete aus dieser Feststellung ziehen, ist ihnen jedoch jeweils nach Maßgabe der sie prägenden Prinzipien überlassen. Diese sind nicht notwendig miteinander in Einklang zu bringen.

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Keine Folge der Einheit der Rechtsordnung ist eine einheitliche Auslegung identischer Rechtsbegriffe in unterschiedlichen Normkontexten. Insoweit gilt als Grundsatz die Relativität der Rechtsbegriffe, sofern keine Legaldefinitionen existieren bzw. deren Anwendungsbereich beschränkt ist oder das Recht selbst eine speziellere Begriffsbildung vorgibt.

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Die Bezeichnung als „Akzessorietät des Rechts zum Recht“ ist insofern unrichtig, als der Akzessorietätsbegriff im hier verstandenen Sinne eine einseitige Abhängigkeitsbeziehung meint, die verschiedenen Rechtsnormen sich aber wechselseitig beeinflussen. Eine echte Akzessorietät besteht nur dort, wo das Recht selbst ein Abhängigkeitsverhältnis durch eine Verweisung etabliert oder sonst dem einen Rechtssatz den Vorrang gegenüber einem anderen einräumt.[371]

Terminologisch ebenfalls zweifelhaft ist die vielfach gebrauchte Formulierung der „Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“. Wie gezeigt, sind Widersprüche logisch nur im Gesetz, nicht aber im Recht denkbar. Um diese Erkenntnis nicht durch sprachliche Mittel zu konterkarieren, sollte von der „Einheit“ der Rechtsordnung gesprochen werden.

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Vor dem Hintergrund einer Wechselbezüglichkeit aller Normen einer Rechtsordnung und der daraus folgenden einheitlichen Rechtswidrigkeits- bzw. Rechtmäßigkeitsbeurteilung verliert auch die Differenzierung in verschiedene Teilrechtsgebiete weitestgehend ihre Relevanz. Bedeutung kommt ihr – rechtlich gesehen – nur zu, soweit sie einen gesetzlichen Niederschlag findet (z.B. in § 40 Abs. 1 VwGO). Unberührt bleibt natürlich die rein praktische Relevanz der Differenzierung in Bezug auf den Gegenstand von Prüfungen und die Bezeichnung von berufsspezifischen Spezialisierungen (etwa bei Fachanwälten etc.).