Die Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

(2) Die Einheit der Rechtsordnungen im Mehrebenensystem

105

Auf dieselben Grundsätze lässt sich auch im Mehrebenensystem zwischen Ländern, Bund und Europäischer Union zurückgreifen, soweit der Träger der einen Rechtsordnung Bestandteil des Trägers der anderen Rechtsordnung ist. So ist etwa jeder Bundesbürger auch Bürger eines Bundeslandes. Das sich so bildende Landesvolk als Träger der Landesrechtsordnung ist demnach auch Bestandteil des Bundesvolks. Für den Fall einer Kollision der beiden Rechtsordnungen bestehen rechtsimmanente Regelungen, die dem Bundesrecht den Vorrang einräumen, also mithin anordnen, dass die Eigenschaft eines Bürgers als Teil des Landesvolkes hinter derjenigen als Teil des Bundesvolkes zurücktreten muss: Gem. Art. 31 GG etwa „bricht“ das Bundesrecht das Landesrecht. Allerdings hält das Verfassungsrecht auch Instrumente bereit, die weitestgehend gewährleisten, dass es überhaupt nicht zu Kollisionen kommen kann: Hinsichtlich der Staatsstrukturprinzipien sowie der Grundrechte schaffen die Art. 28 Abs. 1, Abs. 3 GG und Art. 142 GG Homogenität.[250] Im Übrigen sorgt die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern dafür, dass die inhaltlichen Überschneidungen möglichst gering gehalten werden. Hervorzuheben ist dabei, dass Art. 72 Abs. 2 GG die Zuweisung bestimmter Kompetenzbereiche an den Bund gerade davon abhängig macht, dass dies zur Wahrung der Rechtseinheit erforderlich ist. Zudem sind sowohl der Bund wie auch die Länder wechselseitig zur Bundestreue verpflichtet.[251]

Ähnliches gilt im Verhältnis zwischen dem nationalen Recht und dem supranationalen Recht der Europäischen Union.[252] Auch hier hat die nationale Rechtsordnung gegenüber dem vorrangig anzuwendenden[253] Unionsrecht zurückzutreten.[254] Im Übrigen besteht auch im Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten eine strikte Kompetenzverteilung, die durch den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung und das Subsidiaritätsprinzip bestimmt wird (vgl. Art. 5 Abs. 1 bis 3 EUV).[255] Kollisionen werden darüber hinaus durch den Grundsatz der gegenseitigen Loyalität vermieden (Art. 4 Abs. 3 EUV); für Einheitlichkeit sorgt außerdem die Möglichkeit (bzw. teilweise sogar Pflicht), ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH durchzuführen (Art. 267 AEUV).[256]

(3) Auseinandersetzung mit naheliegender Kritik

106

Das hier skizzierte Modell wirft eine Vielzahl von Fragen auf, die im Rahmen dieser Untersuchung nicht beantwortet werden können. Damit setzt es sich zugleich einiger Kritik aus, der es im Folgenden vorgreiflich zu begegnen gilt.

(a) Idealisierung des Gesetzgebers

107

Erstens sieht die hier vertretene Auffassung sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie idealisiere den Gesetzgeber als fiktive Gestalt und verkenne die Praxis der Gesetzgebung und den damit verbundenen politischen Aspekt. Diese Kritik war bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von soziologischer Seite vorgetragen worden.[257]

Wie bereits Hans Kelsen ausgeführt hat, wird damit aber das Verhältnis des Volkes als wahrem Gesetzgeber zu seinen Repräsentanten verkannt. Verstünde man die rechtssetzende Instanz des Staates lediglich als Gruppe fehlbarer Menschen, die aufgrund aktueller politischer Opportunität handelt, wäre die allgemeine Geltung aller staatlichen Normen in Frage zu stellen. Mit Blick auf die Gesetzgebungspraxis handelt es sich bei dieser Betrachtungsweise freilich um eine Idealisierung; diese ist allerdings im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Demokratiesystem gefordert.[258]

(b) Verzerrung der Rolle des Bundesverfassungsgerichts

108

Zudem könnte man dem Missverständnis unterliegen anzunehmen, durch die hier vertretene Ansicht würde das Bundesverfassungsgericht zu einer „Super-Revisionsinstanz“, was nicht seiner verfassungsgemäßen Rolle entspricht.[259] Denn wenn der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung sich als ein vorfindlicher Zustand im Demokratieprinzip gründet, so könnte das Bundesverfassungsgericht auf diesem Wege die systemwidrige Anwendung einfachen Rechts als Verfassungsverstoß werten und auf diesem Wege seiner Kontrolle unterwerfen.

109

Ungeachtet der Frage, ob das Bundesverfassungsgericht sich nicht bereits längst selbst – etwa durch seine Untreue-Entscheidung[260] – selbst zur „Super-Revisionsinstanz (jedenfalls im Bereich des Strafrechts) erhoben hat,[261] trägt dieser Kritikpunkt nicht: Zum einen folgt der Grundsatz nicht unmittelbar aus dem Demokratieprinzip selbst, sondern lediglich aus rechtstheoretischen Gedanken heraus, die sich ihrerseits im Demokratieprinzip verwirklichen. Zum anderen wurde ein parallel gelagertes Problem in der Vergangenheit bereits gelöst: so läge grundsätzlich auch in jedem Verstoß gegen einfaches Recht ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip; nichtsdestotrotz besteht insoweit keine pauschale Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts.[262]

(c) Verstoß gegen Art. 97 GG

110

Ein weiterer verfassungsrechtlicher Einwand könnte sich im Hinblick auf Art. 97 Abs. 1 GG ergeben, wonach die Richter als Träger der rechtsprechenden Gewalt (Art. 92 Hs. 1 GG) „nur dem Gesetze unterworfen“ sind. Aber auch nach der hier vertretenen Auffassung muss sich jeder Rechtssatz aus dem Gesetz deduzieren lassen, weshalb sich kein Widerspruch ergibt. Zudem stellt Art. 20 Abs. 3 GG klar, dass die Rechtsprechung „an Gesetz und Recht gebunden“ ist; diese Differenzierung wird durch die Formulierung des Art. 97 GG nicht in Frage gestellt.[263]

(d) Reduktion der Funktion des Richters auf einen „Subsumtionsautomaten“

111

Die Vorstellung Montesquieus vom Richter als bloßem „Subsumtionsautomaten“[264] wird gemeinhin als überholt angesehen.[265] Ebenso wird die Darstellung Phillip Hecks, der das Bild des Richters als Diener des Gesetzgebers zeichnete,[266] als nicht mehr der Verfassungswirklichkeit entsprechend verworfen.[267] Daher könnte sich Kritik aus dieser Richtung ergeben, die einen „Rückfall“ in diese Betrachtungsweise und somit eine Schwächung des grundlegenden Verständnisses des Richterstandes befürchtet, weil der Richter nach der vorgetragenen Auffassung nicht mehr rechtsfortbildend tätig werden kann, da das sich aus dem Gesetz ergebende Recht für jede Frage eine Antwort bereit hält.

112

Auch diesem Einwand wird bei näherem Hinsehen der Boden entzogen: Nur weil die Klassifizierung bestimmter Methoden als „Rechtsfortbildung“ unzutreffend ist, bedeutet das nicht, dass sie nach der hier vertretenen Auffassung dem Richter nicht mehr zur Verfügung stehen. Vielmehr handelt es sich danach z.B. beim Analogieschluss und der teleologischen Reduktion um Auslegungsmethoden. Sie sind immer noch notwendig, um den Inhalt der Rechtssätze aus dem Gesetz abzuleiten. Dieser Vorgang ist allerdings ausschließlich ein erkennender und kein schaffender.

113

Dem steht nicht entgegen, dass das Bundesverfassungsgericht mehrfach der Rechtsprechung die Befugnis zur „schöpferischen Rechtsfindung“[268] eingeräumt hat. In Bezug auf die Differenzierung von Recht und Gesetz in Art. 20 Abs. 3 GG führt es in diesem Zusammenhang aus, es könne „[g]egenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt […] unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag.“[269] Aufgabe der Rechtsprechung sei, dieses „zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen“, es „in einem Akt des bewertenden Erkennens […] ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren“[270]. Es zeigt sich, dass das Bundesverfassungsgericht ebenfalls davon ausgeht, dass die Rechtsordnung als zusammenhängendes Gesamtkonstrukt Rechtssätze bereitstellt, die sich nicht nur aus einer geschriebenen Rechtsnorm unmittelbar ergeben. Zudem hebt es mehrfach hervor, dass es dabei um einen Akt des Erkennens geht, auch wenn es die Methode als „schöpferisch“ bezeichnet.

Um die eingangs erwähnten zu erwartenden Befürchtungen vollends zu entkräften, sei darauf hingewiesen, dass durch die hier vertretene Auffassung die Rolle der Gerichte nicht geschwächt, sondern vielmehr gestärkt wird: Ordnet man die in Rede stehenden Methoden als Rechtsfortbildung ein, sind ihre Ergebnisse einer revisionsgerichtlichen Überprüfung teilweise entzogen. Handelt es sich hingegen um Methoden der Auslegung, so hat ein methodischer Fehler eine Verletzung des materiellen Rechts zur Folge, welche eine Revision begründen kann.

114

Auf der Grundlage der dargelegten Auffassung wird die schwierige – oder gar unmögliche[271] – Ziehung der Grenze zwischen Auslegung einerseits und Rechtsfortbildung andererseits[272] hinfällig. Damit wird auch keineswegs der Primat des Gesetzgebers in Frage gestellt: Verkennen die Gerichte die Rechtslage, weil die Gesetzeslage eine so intensive Auslegung erfordert, dass die Auffassung des Gesetzgebers nur schwer erkennbar ist, behält der Gesetzgeber jederzeit die Möglichkeit, seine bisherige Auffassung im Gesetz klarzustellen oder eine neue zum Ausdruck zu bringen.[273]

(4) Folgerungen aus der Einheit der Rechtsordnung

115

 

Hat die zu erwartende Kritik gegen die hier vertretene Auffassung sich demnach als haltlos erwiesen, darf die Darstellung jedoch an dieser Stelle nicht stehen bleiben. Um das Phänomen der Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer Widerspruchslosigkeit für die weitere Untersuchung nutzbar zu machen, muss erst noch ermittelt werden, welche Folgen es für die Auslegungspraxis hat. Gefordert werden insbesondere ein einheitliches Rechtswidrigkeitsurteil, eine einheitliche Begriffsverwendung sowie die Abstimmung der Wertungen zwischen Normen bzw. Teilrechtsgebieten.[274]

(a) Einheitliches Rechtswidrigkeitsurteil

116

Die erste sich aufdrängende Konsequenz der Annahme einer wie hier verstandenen einheitlichen Rechtsordnung ist ein alle Teilrechtsgebiete übergreifendes Rechtswidrigkeitsurteil.[275] Ob ein solches besteht oder überhaupt bestehen kann, ist bislang nicht geklärt.[276] Die Diskussion hierüber wird im Wesentlichen nur noch von Strafrechtlern geführt, weshalb im Folgenden sogleich die typischen damit verbundenen strafrechtlichen Fragestellungen angesprochen werden.

Eng mit dem Problem verknüpft ist etwa die Frage, inwiefern außerstrafrechtliche Normen im Strafrecht als Rechtfertigungsgründe fungieren können.[277] Dies wird sowohl in Bezug auf zivilrechtliche Normen[278] wie auch im Bereich des öffentlichen Rechts diskutiert, wobei die Diskussion sich dort insbesondere um die rechtfertigende Wirkung von verwaltungsrechtlichen Genehmigungen[279] und behördlichen Duldungen[280] dreht. Umgekehrt wird vielfach erwogen, die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe des StGB als Ermächtigungsgrundlage insbesondere für polizeiliches Handeln heranzuziehen.[281] Schließlich trifft man in der Diskussion immer wieder auf die weiterhin ungeklärte[282] Frage, wie Straftatbestand und Rechtswidrigkeit sich zueinander verhalten.

Einigkeit besteht nur dahingehend, dass einerseits straftatbestandliches Verhalten jedenfalls dann gerechtfertigt ist, wenn Normen des Zivilrechts oder der öffentlichen Rechts es explizit erlauben oder gebieten, andererseits das zivil- oder öffentlich-rechtliche Verbot nicht ausreicht, um strafrechtliches Verhaltensunrecht zu begründen.[283]

Darüber hinaus besteht kein Konsens. Insbesondere wird zum Teil die Relativität der Rechtswidrigkeit propagiert, eine besondere „Strafrechtswidrigkeit“ gefordert oder eine dritte Kategorie neben „rechtmäßig“ und „rechtswidrig“ begründet.

(aa) Relativität der Rechtswidrigkeit

117

Für eine Relativität der Rechtswidrigkeit wird vor allem angeführt, dass die einzelnen Teilbereiche der Rechtsordnung unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen hätten[284] und deshalb auch an die Feststellung der Rechtswidrigkeit unterschiedliche Folgen knüpften.[285] Dafür spreche auch, dass der Gegenstand einer Rechtswidrigkeitsfeststellung nicht immer gleicher Art sei: Während etwa im Strafrecht das Verdikt der Rechtswidrigkeit in Bezug auf ein bestimmtes Verhalten ausgesprochen werde, bezögen sich andere Rechtsgebiete auch auf nicht von Menschen herbeigeführte Zustände.[286] Des Weiteren könne die Rechtswidrigkeit eines bestimmten rechtlich zu bewertenden Sachverhalts oftmals nur in Bezug auf einen bestimmten zugrunde liegenden Tatbestand[287] bestimmt werden, weshalb eine Verallgemeinerung des Rechtswidrigkeitsverdikts sich verbiete.[288]

(bb) Strafrechtswidrigkeit

118

Speziell auf das Strafrecht gemünzt ist die These Günthers von der Existenz einer spezifischen Strafrechtswidrigkeit:[289] Demnach existiere eine von der „allgemeinen“ Rechtswidrigkeit losgelöste Strafrechtswidrigkeit,[290] die diejenigen Verhaltensweisen erfasse, die von der Rechtsordnung nicht „nur“ als rechtswidrig, sondern als zudem strafwürdig erachten werden.[291] Diese Differenzierung werde nicht nur durch die Straftatbestände erfüllt, sondern auch durch spezifische sog. Strafunrechtausschließungsgründe.[292] Dabei sei zwischen „unechten“ Strafunrechtausschließungsgründen, die das in Frage stehende Verhalten für die gesamte Rechtsordnung für rechtmäßig erklären, und den „echten“ Strafunrechtsausschließungsgründen, die lediglich die Kriminalisierung, nicht aber das allgemeine Rechtswidrigkeitsverdikt entfallen lassen, zu unterscheiden.[293] Zu den letzteren zählt Günther etwa die Einwilligung.[294]

119

Ein ähnlicher Ansatz findet sich bereits deutlich früher bei Stooß; nach ihm wird (anders als bei der Notwehr) etwa durch den Notstand nur die Kriminalisierung aufgehoben, während die Frage nach der Rechtswidrigkeit des Verhaltens in Bezug auf andere Rechtsgebiete hiervon unberührt bleibt.[295] Umgekehrt erkennt er aber an, dass sonstige Normen, die ein Verhalten für rechtmäßig erklären, jedenfalls auch die Strafbarkeit ausschließen.[296]

(cc) Lehre vom rechtsfreien Raum

120

Nach einer weiteren Ansicht kann tatbestandliches Verhalten nicht nur als „rechtmäßig“ oder „rechtswidrig“ qualifiziert werden; es gebe auch noch die Möglichkeit der Einordnung als „unverboten“.[297] In einem solchen Falle werde das betroffene Verhalten von der Rechtsordnung nur hingenommen, nicht aber gebilligt.[298] Eine Bewertung des Verhaltens finde gerade nicht statt, weshalb nicht vom „rechtsfreien“, sondern vom „rechtswertungsfreien“ Raum zu sprechen sei.[299] Relevanz entfalte diese Differenzierung insbesondere in Bezug auf das Notwehrrecht des Betroffenen, das diesem in vollem Umfang erhalten bleibe.[300] Dabei gehe es um tragische Fälle, in denen eine klare Kategorisierung als gerechtfertigt oder entschuldigt sich verbiete; es solle allein der moralischen Entscheidung des Einzelnen überlassen bleiben, wie er sich verhalte.[301] Von der herrschenden Ansicht hingegen werden diese Fälle regelmäßig durch den entschuldigenden Notstand oder die Pflichtenkollision erfasst.[302]

(dd) Eigener Ansatz

121

Nach der hier vertretenen Auffassung muss das Rechtswidrigkeitsurteil für die gesamte Rechtsordnung einheitlich gefällt werden: Der einheitliche Volkswille, der gleichermaßen hinter den abstrakt-generellen Normen des Gesetzgebers und den konkret-individuellen Entscheidungen der Rechtsprechung steht, kann ein bestimmtes Verhalten oder einen bestimmten Zustand nur entweder billigen oder nicht billigen; Zwischenstufen (wie ein „rechtswertungsfreier Raum“) sind nicht denkbar. Unterschiede können in den verschiedenen Teilen der Rechtsordnung nur in Bezug auf die Konsequenzen bestehen, die das Recht an das Verdikt der Rechtswidrigkeit knüpft. Wie bereits dargestellt, muss beispielsweise nicht zwangsläufig jedes rechtswidrige Verhalten auch strafrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Umgekehrt ist es aber unzulässig, Sanktionen für ein Verhalten auszusprechen, das von der Rechtsordnung an anderer Stelle gebilligt wird. Damit befindet sich die vorliegende Darstellung im Einklang mit der wohl herrschenden Literatur[303] und Rechtsprechung[304].

122

Auch widerspricht dieses Vorgehen nicht dem oben dargestellten Verständnis einer einheitlichen Rechtsordnung. Einheit bedeutet danach nicht ein verkrampftes Streben nach Gleichbehandlung möglichst vieler Sachverhalte, sondern eine angemessene Berücksichtigung der jeweiligen Unterschiede. Insoweit ist es nur konsequent, dass zwar das Rechtswidrigkeitsverdikt einheitlich zu fällen ist, die verschiedenen Rechtsgebiete jedoch auf den Sachverhalt angepasst unterschiedlich darauf reagieren können.[305] Damit streiten die Bemühungen nach einer angemessenen Differenzierung nicht zwangsläufig für eine Relativität der Rechtswidrigkeiten.[306]

123

Wesentlich gewichtiger scheint auf den ersten Blick der Einwand, dass der Gegenstand des Rechtswidrigkeitsverdikts je nach Rechtsgebiet ein unterschiedlicher ist. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass dieses Argument vielmehr für die hier favorisierte einheitliche Bestimmung der Rechtswidrigkeit streitet: Es ist unproblematisch, dass bestimmte Sachverhalte nicht von allen Teilrechtsgebieten erfasst werden. Steht etwa ausschließlich ein Zustand, der nicht durch menschliches Verhalten verursacht wurde, auf dem Prüfstand der Rechtsordnung, trifft jedenfalls das Strafrecht hierüber keine Aussage, solange nicht im Raum steht, dass einzelne Personen verpflichtet wären, diesen Zustand zu beseitigen, was wiederum ein menschliches Verhalten und somit einen anderen Prüfungsgegenstand bedeuten würde. Dementsprechend kann es aber insoweit auch nicht zu vermeintlichen Widersprüchen hinsichtlich der Rechtswidrigkeitsfrage kommen. Ein einheitliches Rechtswidrigkeitsverdikt kann natürlich nur von den Bereichen der Rechtsordnung erwartet werden, die sich überhaupt mit einem bestimmten Sachverhaltstypus befassen.

124

Damit sei nicht verschwiegen, dass es nicht immer trivial ist, den Gegenstand der Rechtswidrigkeitsprüfung genau zu bestimmen. Geht es um ein menschliches Verhalten, kann es etwa darauf ankommen, welche Umstände des Verhaltens in die Betrachtung mit einzubeziehen sind. Schießt etwa eine Person in Notwehr auf eine andere, stellt sich die Frage, inwiefern zu berücksichtigen ist, ob diese Person die Waffe legal besitzt. Da die Benutzung der Waffe quasi eine speziellere Form des Besitzes darstellt, wird man insoweit nur auf den Schuss als Verhalten abstellen können mit der Folge, dass der Besitz der Waffe im Zeitpunkt der Abgabe des Schusses ebenfalls durch die Notwehr gerechtfertigt ist; im Übrigen ist der Zustand des illegalen Waffenbesitzes aber (auch) nach waffenrechtlichen Maßstäben zu beurteilen, der außerhalb des Schusses selbst wohl als rechtswidrig anzusehen sein wird.[307] Ebenso muss bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Teilnahme einer Person am Straßenverkehr mitberücksichtigt werden, ob diese eine Fahrerlaubnis besitzt, sie fahrtauglich ist, das Fahrzeug die straßenverkehrsrechtlichen Anforderungen erfüllt und ob ein Versicherungsschutz besteht.

125

Nicht zu leugnen ist weiterhin, dass die Frage der Rechtswidrigkeit immer ausgehend von einem speziellen Tatbestand[308] gestellt wird. Das ändert aber nichts daran, dass die letztendliche Feststellung, ob der Gegenstand des Tatbestandes rechtmäßig oder rechtswidrig ist, vor dem Hintergrund der gesamten Rechtsordnung zu treffen ist. Der Tatbestand bestimmt die Fragestellung und ihren Gegenstand. Im Falle eines Straftatbestandes etwa bezeichnet er das Verhalten, das auf seine Rechtswidrigkeit untersucht werden soll. Zudem gibt der Tatbestand vor, wie weit die Wirkung der Rechtswidrigkeit reichen wird, wenn sie vor dem Hintergrund der Gesamtrechtsordnung bejaht wird. Die Rechtswidrigkeit eines straftatbestandsmäßigen Verhaltens etwa wirkt immer in Bezug auf die gesamte Gesellschaft, während eine schlichte Vertragsverletzung im Regelfall (es sei denn, die Rechtsordnung bekundet – wie z.B. im Falle des Betrugstatbestandes –, dass sie eine Vertragsverletzung zur öffentlichen Angelegenheit erhebt) nur inter partes als rechtswidriges Verhalten relevant wird. Zwar ist das betreffende Verhalten generell als rechtswidrig anzusehen; aufgrund der tatbestandlichen Begrenzung kann aber nur der betroffene Vertragspartner hieraus Rechte ableiten. Damit ist wieder der Punkt angesprochen, dass die einzelnen Rechtsgebiete regeln, welche Konsequenzen sie aus dem Rechtswidrigkeitsverdikt ziehen.

126

Aufgrund dieser weitreichenden Funktionen des Tatbestandes ist auch nicht einzusehen, weshalb es einer spezifischen Strafrechtswidrigkeit bedürfen sollte. Die Abschichtung, wann Unrecht kriminalisiert werden sollte und wann nicht, kann ohne weiteres vom Tatbestand geleistet werden. Das Gesetz bietet auch keinerlei Anhaltspunkte für eine Unterscheidung der Rechtfertigungsgründe; weitere problematische Konstellationen können auf der Ebene der Schuldhaftigkeit befriedigend gelöst werden.[309]

127

Hervorzuheben ist noch, dass diese Ausführungen sich auf die allgemeine Rechtswidrigkeitsfeststellung beziehen, die als Stufe der Straftatprüfung anerkannt ist.[310] Damit ist aufgrund der – sogleich noch näher zu behandelnden – Relativität der Rechtsbegriffe allerdings noch nicht ausgesagt, dass das Gesetz, wenn es den Begriff „rechtswidrig“ verwendet, auf diese Rechtswidrigkeitsfeststellung rekurriert.[311] So bringt etwa § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB zum Ausdruck, dass unter einer „rechtswidrigen Tat“ im Sinne des Strafgesetzbuchs nur solche rechtswidrigen Verhaltensweisen zu verstehen sind, die zudem einen Straftatbestand erfüllen.