Die Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts

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(c) Kombinationsansätze

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Mindestens ebenso häufig wie die Einordnung (ausschließlich) als Postulat findet sich die Auffassung, dass es sich bei der Einheit der Rechtsordnung – je nach Situation – sowohl um ein Axiom wie auch um ein Postulat handle:

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Während Savigny anfänglich von einer dem Recht „innewohnenden“ Einheit ausgegangen war, wandte er sich 1840 einem Kombinationsansatz zu, der axiologische und postularische Elemente verbindet: Nach Savigny bildet „[a]llein die Gesammtheit der […] Rechtsquellen […] ein Ganzes, welches zur Lösung jeder vorkommenden Aufgabe im Gebiete des Rechts bestimmt ist.“[167] Um diesem Zweck gerecht werden zu können, müssten zwei Anforderungen erfüllt sein: „Einheit und Vollständigkeit.“[168] Durch „die dem Stoff gegebene wissenschaftliche Form, welche seine innewohnende Einheit zu enthüllen und zu vollenden strebt“, entstehe „ein neues organisches Leben, welches bildend auf den Stoff selbst zurückwirkt, so daß auch aus der Wissenschaft als solcher eine neue Art der Rechtserzeugung unaufhaltsam hervorgeht.“[169] Fehle es an der Einheit, so sei „ein[] Widerspruch zu entfernen“, mangle es hingegen an Vollständigkeit, so gebe es „eine Lücke auszufüllen“.[170]

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Ähnlich stellt sich das Verständnis Philipp Hecks dar: Das Gesetz sei „eine Vielheit von Konfliktentscheidungen, die untereinander zusammenhängen, ein Gefüge von Geboten, kausalen Werturteilen und Wertideen.“[171] „Da alle Gebote zugleich gelten“,[172] sei zwar „eine Einheit im Sinne einer Widerspruchsfreiheit ohne weiteres gegeben“; widersprüchliche Sätze höben sich wechselseitig auf.[173] In einem solchen Falle sei aber die Einheit „durch normative Arbeit herzustellen.“[174]

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Einen Kombinationsansatz vertritt auch Karl Engisch. Zwar führt er aus, dass die Einheit der Rechtsordnung bereits „auf der Gegenstandsseite liegt“[175]. Auch er geht aber davon aus, dass Widersprüche im Gesetz möglich seien, weil der Gesetzgeber nicht immer bewusst handle.[176] Daher erscheine die Einheit der Rechtsordnung „[b]ald […] als Axiom, bald als Postulat juristischer Arbeit.“[177] Der Position Engischs haben sich einige Stimmen in der Literatur angeschlossen.[178]

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Auch Claus-Wilhelm Canaris geht gleichermaßen zwar einerseits davon aus, dass der Systemgedanke „immer auch schon Voraussetzung allen Rechts und allen juristischen Denkens ist“, konstatiert aber auch, dass Einheit und Folgerichtigkeit des Rechts nur „bruchstückhaft […] verwirklicht“ seien.[179] Daher seien Einheit und Folgerichtigkeit des Rechts „nicht nur vorgegeben, sondern immer auch erst aufgegeben, also nicht nur Voraussetzung, sondern auch Postulat“[180]. Dem schließt sich Hans-Ludwig Günther an, der zudem auch auf Engisch und andere Bezug nimmt.[181]

(d) Ablehnende Positionen

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Nur selten wird die Annahme einer Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer Widerspruchslosigkeit nicht nur als vorfindlicher Zustand, sondern auch als Postulat angezweifelt. In diesem Sinne äußert sich Julius Hermann von Kirchmann: Es bilde sich „der Stoff des Sittlichen aus zufälligen, unzusammenhängenden, zerstückelten, oft dunklen Geboten verschiedener Autoritäten […]“; „in den sittlichen Gestalten“ träten „diese Lücken und diese Gegensätze der wirkenden Mächte überall hervor[]“. Die Wissenschaft vermöge „deshalb hier trotz aller Mühe und Anstrengung diese Mängel des Stoffes nicht zu überwinden“, anders als in den Naturwissenschaften fehlten „der Zusammenhang und die Einheit“.[182]

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Vor dem Hintergrund einer rein verfassungsrechtlichen Perspektive fordert Dagmar Felix „den Verzicht auf die Argumentationsfigur der Einheit der Rechtsordnung“, weil ihr die notwendige verfassungsrechtliche Relevanz fehle.[183] Bedeutung komme ihr lediglich im Umweltstrafrecht zu.[184] Ebenfalls gänzlich verworfen wird die Einheit der Rechtsordnung von Friedrich Müller[185] auf Grundlage seiner Ablehnung einer Einheit der Verfassung.[186]

(2) Herleitung

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Ebenfalls nicht einheitlich beantwortet wird die Frage, worin der Geltungsgrund der Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer Widerspruchslosigkeit besteht.

(a) Herleitung aus der Rechtsidee bzw. dem Rechtsbegriff

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Zum Teil wird die Einheit der Rechtsordnung aus der Idee des Rechts selbst abgeleitet:[187]

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Laut Rudolf Stammler stehen „[d]ie reinen Formen der Rechtsgedanken […] in einem unbedingt einheitlichen Zusammenhange […].“[188] Diese Einheit werde „unter dem Begriffe des Rechts überhaupt“ gebildet,[189] auf den alle Einheitsbemühungen in letzter Konsequenz zurückzuführen seien.[190] Stammler versteht seine Einheitsvorstellung dabei als „Einheit des Verfahrens“,[191] geht also von einem Postulat aus, dem mit wissenschaftlichen Methoden nachzukommen ist. Damit versuchte Stammler, den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz zu begründen.[192] Ein ähnliches Modell findet sich bei Joachim Renzikowski.[193]

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Auch nach Somló – der die Einheit der Rechtsordnung als Axiom versteht – folgt „aus dem Begriffe des Rechts“, dass „sämtliche Äußerungen einer höchsten Macht zu einem widerspruchslosen System von Rechtsnormen zu deuten sind“[194]. Denn einzelne Rechtsnormen haben keine isolierte Bedeutung, sondern erlangten Relevanz überhaupt erst aus der Beziehung zu anderen Rechtsnormen.[195]

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Aus einem etwas anderen Ansatz leitet Canaris sein Kombinationsmodell her. Der Systemgedanke wurzle „mittelbar in der Rechtsidee (als dem Inbegriff der obersten Rechtswerte).“[196] Unter letzteren versteht Canaris insbesondere das Gerechtigkeitsgebot, insbesondere in seiner Gestalt des Gleichheitssatzes,[197] sowie die Rechtssicherheit.[198] Aus diesen beiden Prinzipien, die unmittelbar dem Rechtsbegriff entspringen, folge die Aufgabe, „die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit der Rechtsordnung darzustellen und zu verwirklichen“.[199]

(b) Herleitung aus dem Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz

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Vielfach wird der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung mit dem Wissenschaftscharakter der juristischen Arbeit in Verbindung gebracht.[200] Eine Herleitung daraus aber würde sich als zirkelschlüssig darstellen. Der Systemcharakter des Rechts kann sich nur als Voraussetzung des Wissenschaftscharakters der Rechtslehre darstellen, nicht hingegen als dessen Folge.[201] Aus diesem Grund wird – soweit ersichtlich – die entsprechende Position wohl auch nicht vertreten. Vielmehr sprechen einige Stimmen in der Literatur aufgrund der Behauptung mangelnder Systemhaftigkeit des Rechts der juristischen Arbeit den Charakter der Wissenschaftlichkeit ab.[202]

(c) Herleitung aus dem Geltungswillen der Normsetzer

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Clemens Höpfner leitet das Postulat[203] der systemkonformen Auslegung – neben verfassungsrechtlichen Prinzipien[204] – auch aus dem Geltungswillen der Normsetzer ab.[205] Es sei nicht mit dem Anspruch auf soziale Verhaltenssteuerung vereinbar, bewusst widersprüchliche Anordnungen zu treffen.[206] Da Höpfner jedoch von einer „Vielzahl von Normsetzern“ ausgeht, also die verschiedenen Repräsentanten (die vom jeweils vorherrschenden Zeitgeist geprägt sind) logisch voneinander trennt,[207] schließt er nicht aus, dass es zu unbewussten Widersprüchen kommen kann.[208] Es sei Aufgabe der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung, diese im Wege des „denkenden Gehorsam[s]“ aufzulösen.[209]

(d) Herleitung aus Verfassungsprinzipien

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Vielfach wird die Einheit der Rechtsordnung aus dem Verfassungsrecht abgeleitet. Teilweise wird sogar behauptet, nur dann könnte der Rechtsfigur überhaupt eine ernsthafte Bedeutung zukommen.[210] Dass das Grundgesetz den Begriff der „Einheit der Rechtsordnung“ nicht kennt,[211] hat hierfür keine Relevanz.[212]

(aa) Demokratieprinzip

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Den ersten denkbaren Anknüpfungspunkt bildet das Demokratieprinzip. Gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG geht alle Staatsgewalt von Volke aus. Dieses Volk ist ausweislich der Präambel sowie Art. 1 Abs. 2 GG, Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 146 GG nur ein Volk, das dementsprechend auch nur einen Willen bilden kann.[213] Aus diesem einheitlichen Willen folge die Einheit der Rechtsordnung.[214]

(bb) Rechtsstaatsprinzip

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Als weitere Quelle wird das Rechtsstaatsprinzip genannt. Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung diene der Rechtssicherheit, die wiederum Teil des Rechtsstaatsprinzips sei, insbesondere in ihrer Ausprägungsform des Gebots der Normenklarheit.[215] Zudem würde die Begründung einer Einheit der Rechtsordnung aus dem Demokratieprinzip durch den ebenfalls dem Rechtsstaatsprinzip entspringenden Grundsatz der Gewaltenteilung untermauert, denn einerseits würde der einheitliche Wille des Volkes durch die Verfassungs- und Gesetzesbindung der Rechtsprechung und der Exekutive im Rahmen der horizontalen Gewaltenteilung weitergetragen, zum anderen in vertikaler Hinsicht durch die hierarchische Struktur der Rechtssetzung gewährleistet.[216] Auch das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass „[d]as Rechtsstaatsprinzip und die bundesstaatliche Kompetenzordnung […] alle rechtsetzenden Organe [verpflichten], ihre Regelungen jeweils so aufeinander abzustimmen, daß den Normadressaten nicht gegenläufige Vorschriften erreichen, die Rechtsordnung also nicht aufgrund unterschiedlicher Anordnungen widersprüchlich wird […].“[217]

 

(cc) Bundesstaatsprinzip

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Wie bereits die soeben zitierte Äußerung des Bundesverfassungsberichts deutlich macht, werden auch das Bundesstaatsprinzip und die föderale Kompetenzverteilung zur Begründung der Einheit der Rechtsordnung herangezogen. Einen Hinweis hierauf gibt Art. 72 Abs. 2 GG, der die Zuständigkeitszuweisung an den Bund in bestimmten Bereichen davon abhängig macht, ob eine bundeseinheitliche Regelung zur „Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit“ notwendig ist.[218] Zudem werden die harmonisierenden Vorschriften gem. Art. 28 Abs. 1, 31 und 142 GG angeführt, die für ein einheitliches Recht im Bundesgebiet sprechen sollen.[219]

(dd) Gleichheitssatz

88

Ebenfalls mehrfach als Geltungsgrund der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung wird der Gleichheitssatz genannt,[220] der seinen positiv-rechtlichen Niederschlag in Art. 3 Abs. 1 GG findet. Ihn beschreibt etwa Canaris als eines der Grundprinzipien, die aus der Rechtsidee folgen und unmittelbar die Einheit der Rechtsordnung zur Folge haben.[221] Dagegen wird eingewandt, „daß das System zur Rechtsquelle erhoben, die Rechtswissenschaft dem politischen Gesetzgeber übergeordnet würde.“[222] Das Bundesverfassungsgericht hat den Systemgedanken mehrfach mit dem Gleichheitssatz in Verbindung gebracht, einer Systemwidrigkeit allerdings nur indizielle Wirkung für die Annahme eines Verfassungsverbots beigemessen;[223] darüber hinaus stelle „[d]er Gedanke der „Systemgerechtigkeit“ und organisatorischen Reinheit […] keinen selbständigen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab“ dar.[224]

(3) Adressierung

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Soweit die Einheit der Rechtsordnung als Postulat verstanden wird, wird nur selten hinreichend bezeichnet, wer Adressat dieses Postulats sein soll. Dabei sind denklogisch drei Modelle möglich: die Adressierung (nur) des Rechtssetzers, (nur) des Rechtsanwenders sowie die Adressierung beider.

(a) Adressierung (nur) des Rechtssetzers

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Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen beiden Entscheidungen vom 7.5.1998[225] unter Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip ein Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung an die rechtssetzenden Instanzen formuliert: „Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet alle rechtsetzenden Organe des Bundes und der Länder, die Regelungen jeweils so aufeinander abzustimmen, daß den Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen.“[226]

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Dass hieraus allerdings eine allgemeine Forderung zur Abstimmung von Rechtsnormen auch innerhalb einer Rechtssetzungsinstanz abgeleitet werden kann, scheint mehr als zweifelhaft: Zwar hatte das Gericht bereits einmal die Rechtsstaatswidrigkeit eines Gesetzes (unter anderem) aufgrund von die Normklarheit beseitigenden Normwidersprüchen innerhalb dieses Gesetzes angenommen,[227] diese Entscheidung aber in den genannten Urteilen offenbar bewusst nicht rezipiert. Zudem machen die Entscheidungen deutlich, dass das Widerspruchsfreiheitspostulat sich gerade nur auf den Bereich der föderalen Mehrebenenproblematik beziehen soll.[228] Doch selbst in diesem Bereich hat der entscheidende Senat es vermieden, seine eigene Rechtsprechung zu rezipieren.[229] Nicht zuletzt entstünde durch ein solches Verständnis der Entscheidungen eine mit demokratischen Grundsätzen nicht zu vereinbarende Selbstbindung des Gesetzgebers,[230] die das Bundesverfassungsgericht wohl kaum etablieren wollte.

Auch im Übrigen wurde eine genellere Adressierung der rechtssetzenden Instanzen durch eine als Postulat verstandene Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung bislang – soweit ersichtlich – nicht vertreten.

(b) Adressierung (nur) des Rechtsanwenders

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Vielmehr wird die Forderung nach einer Harmonisierung der Rechtssätze innerhalb einer Normordnung von den Vertretern der Postulatsthese oder eines kombinierenden Ansatzes an den Rechtsanwender adressiert.

(c) Adressierung sowohl des Rechtssetzers wie auch des Rechtsanwenders

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Entsprechend dem oben Gesagten wurde bislang auch noch nicht die These vertreten, die als Postulat verstandene Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung richte sich sowohl an den Rechtssetzer wie auch an den Rechtsanwender. Ein solcher Ansatz müsste sich zudem einen inneren Widerspruch vorwerfen lassen: Hat bereits der Rechtssetzer für die Widerspruchslosigkeit der Normen zu sorgen, dürfte für dieselbe Aufgabe auf der Ebene der Rechtsanwendung kein Raum mehr verbleiben. Falls doch, so ließe es sich vor dem Hintergrund des Gewaltenteilungsgrundsatzes nur schwer und nur in extremen Ausnahmefällen rechtfertigen, dem Rechtsanwender die Aufgabe der ihm vorgelagerten Instanz zu übertragen.

(4) Zusammenfassung

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Ein einheitliches Verständnis einer „Einheit der Rechtsordnung“ im Sinne ihrer Widerspruchsfreiheit existiert innerhalb von Rechtsprechung und Literatur nicht; nur schwer lassen sich gewisse Strömungen ausmachen. Teilweise wird der Grundsatz vollständig abgelehnt, teilweise als vorfindlicher Zustand der Rechtsordnung und teilweise als Postulat an den Rechtsanwender verstanden. Dabei wird er aus der Rechtsidee als solcher oder aus verschiedenen Staatsstrukturprinzipien abgeleitet, wobei zwischen der Einordnung als Axiom oder Postulat und dem behaupteten Ursprung nur selten ein Zusammenhang hergestellt wird.

bb) Kritik und eigener Ansatz

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Der Hauptkritikpunkt an den literarischen und judikarischen Äußerungen zur Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer Widerspruchsfreiheit ist derjenige, dass die verschiedenen sich diesbezüglich stellenden Fragen nicht hinreichend differenziert und nur zum Teil oder widersprüchlich beantwortet werden:

Zunächst muss sich die Frage stellen, worin die Quelle eines solchen Einheitsprinzips bestehen kann; damit lässt sich zugleich auch beantworten, ob es ein solches überhaupt gibt. Lässt sich eine Quelle finden, muss sich hieraus ergeben, welcher Charakter dem Grundsatz zukommt, ob es sich also um ein Postulat oder etwas Vorgegebenes handelt. Nur wenn man zum Ergebnis kommt, dass eine Forderung vorliegt, ist die Folgefrage zu erörtern, an wen diese sich richtet. Zuletzt ist konsequent aufbauend auf die bisherigen Ergebnisse herauszustellen, welche Folgen sich daraus ergeben.

In einem föderalen und zunehmend internationalisierten Rechtssystem sind all diese Fragen mehrfach zu stellen. Bereits die Bezeichnung als Einheit „der“ Rechtsordnung impliziert, dass auf (nur) eine Rechtsordnung Bezug genommen wird. Hinzukommen müssen aber Überlegungen, wie sich die verschiedenen (einheitlichen?) Rechtsordnungen zueinander verhalten und welche Rückwirkungen das Verhältnis auf eine einzelne Rechtsordnung hat. Auch diese Fragenkomplexe wurden nur bei wenigen Autoren hinreichend differenziert betrachtet.

(1) Die Einheit der Rechtsordnung innerhalb einer Ebene

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Fragt man nach der Einheit einer Rechtsordnung im Sinne ihrer Widerspruchslosigkeit, setzt dies zunächst einmal Klarheit darüber voraus, welches überhaupt die Bestandteile dieser Rechtsordnung sind. Maßgebliches Abschichtungskriterium ist hierbei die rechtssetzende Instanz: Eine Rechtsordnung wird aus all denjenigen Normen gebildet, die auf denselben Rechtssetzer zurückzuführen sind.[231]

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Ist die Identität der rechtssetzenden Instanz aber das prägende Kriterium zur Begründung einer bestimmten Rechtsordnung, so muss dieser Aspekt zugleich den Ausgangspunkt für Erwägungen hinsichtlich ihrer Einheit darstellen:

Gehen alle Normen eines Systems von ein und derselben rechtssetzenden Instanz aus, sind – grds. zunächst unabhängig vom konkreten politischen System – alle diese Normen dessen Willen zuzurechnen. Da es sich aber beim Normgeber um eine Einzelerscheinung handelt, muss dieser Wille notwendig einheitlich sein. Dies gilt jedenfalls insoweit, als der Wille in Form von Rechtssetzung geäußert wird. Durch ein Gesetz oder einen anderen Akt der Rechtssetzung bringt der dazu Berufene seinen (aktuellen) Willen bzgl. einer oder mehreren bestimmten inhaltlichen Frage(n) zum Ausdruck.

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Ändert der Rechtssetzer seine Auffassung und möchte diese Veränderung auch mit Außenwirkung versehen, muss er dies erneut durch einen Rechtsakt deutlich machen. Dabei ist er jedoch nicht darauf angewiesen, zwangsläufig die betroffene Norm zu ändern. Hatte er beispielsweise eine bestimmte Summe gewisser Verhaltensweisen mittels einer sehr allgemein gehaltenen Formulierung umschrieben und diese für rechtswidrig erklärt, muss er, um einen bestimmten Teilausschnitt dieser Verhaltensweisen wieder vom Stigma der Rechtswidrigkeit zu befreien, nicht unbedingt den Anwendungsbereich der früheren Norm einschränken, sondern kann das betreffende Verhalten an anderer Stelle explizit für rechtmäßig erklären. Der Gesamtheit der Normen liegt damit der eine – nun aktuelle – Wille des Rechtssetzers zugrunde und ist Maßstab der Rechtsanwendung.

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Damit ist bereits die zentrale These dieses Teilabschnitts formuliert: Aufgrund dem einer Rechtsebene zugrunde liegenden einheitlichen Willen der rechtssetzenden Instanz folgt, dass Widersprüche innerhalb einer Rechtsordnung gar nicht möglich sind; Widersprüche sind – wenn überhaupt – nur im Gesetz möglich.[232]

Wird der Rechtssetzer aktiv, um eine bestimmte Gestaltung des Rechts vorzunehmen, steht ihm dazu nur das Gesetz (bzw. welche Form von Rechtsakt auch immer) zur Verfügung. Häufig wird er dabei eine konkrete Einzelfrage im Sinn haben; das ändert aber nichts daran, dass sich möglicherweise ein grundlegender Wandel seiner Wertevorstellungen vollzogen hat. Bringt er diesen zum Ausdruck, liegt er aber der gesamten Rechtsordnung zugrunde und nicht nur dem einzelnen Gesetz, weil die gesamte Rechtsordnung als Abbild seines Willens verstanden wird;[233] einzelne Vorschriften stellen nur Symptome des dahinterstehenden Gedankens dar.[234]

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Die logische Unmöglichkeit von Widersprüchen innerhalb einer Rechtsordnung mag folgendes – zugegebenermaßen „kauzig[e]“[235] – Beispiel[236] verdeutlichen:

Beispiel:

Ein chinesisches Gesetz enthält folgende Vorschriften:

§ 1: Jedermann ist verpflichtet, beim Besuch von Maos Grab seinen Hut abzunehmen.

§ 2: Wer bei einem Besuch von Maos Grab den Hut abnimmt, handelt rechtswidrig.

§ 3: Wer bei einem Besuch von Maos Grab den Hut nicht abnimmt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren bestraft.

§ 4: Wer bei einem Besuch von Maos Grab den Hut abnimmt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft.

Wären jeweils die §§ 1 und 3 und die §§ 2 und 4 von unterschiedlichen Normgebern erlassen worden, würde man keinen Normwiderspruch proklamieren, sondern sich lediglich fragen, welcher der beiden Normgeber die konkrete Regelungskompetenz besitzt. Der Verdacht eines inneren Widerspruchs ergibt erst aus der Erkenntnis heraus, dass ein und derselbe Normgeber nicht zur selben Zeit ein bestimmtes Verhalten gleichzeitig gewollt und nicht gewollt zu haben scheint.

 

Auf den ersten Blick mögen die Vorschriften widersprüchlich erscheinen, auf den zweiten Blick jedoch nur unglücklich[237] formuliert: Der Gesetzgeber bringt seinen Willen zum Ausdruck, dass man keine Kopfbedeckungen zu Maos Grab mitbringen darf.[238] Auch das Abnehmen des Hutes beseitigt den Verstoß nicht (§ 2), allerdings wird diese reuige Geste strafmildernd berücksichtigt (§ 4).

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Innerhalb eines Gesetzes – im Sinne eines erlassenen Rechtsakts, nicht im Sinne eines Gesetzbuches, dass durch mehrere historische Rechtsakte geändert wurde – ist der Rechtsinhalt der Normen vergleichsweise einfach freizulegen. Schwieriger kann die Rechtsfindung sich gestalten, wenn (vermeintliche) Widersprüche zwischen verschiedenen Normengebilden auftreten. Konsequent zu der obigen Darstellung muss hier – jedenfalls dem Grundsatz nach – zwangsläufig die zeitliche Reihenfolge der Rechtsakte ausschlaggebend sein: „Ältere Normen sind an den Wertungen heutiger Normen auszurichten.“[239] Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kann etwa bestehen, wenn zwar eine Grundregel geändert wird, eine diesbezügliche schon vorher bestehende Ausnahme aber bestehen bleiben soll. In diesem Falle sind die neuen Vorschriften genau daraufhin zu untersuchen, in welche Richtung der Wille des rechtssetzenden Organs gezielt hat. Es zeigt sich also, dass die Grundsätze lex posterior derogat legi anteriori und lex specialis derogat legi generali auch dann Anwendung finden, wenn man von einer im Recht vorfindlichen Einheit ausgeht. Sie stellen sich dann aber nicht mehr als Rechtsschöpfungsmethoden, sondern als Auslegungsmethoden dar, die in erkennender Weise – den Naturwissenschaften nicht unähnlich – dem Rechtsanwender ermöglichen, den Schritt, den das Recht von selbst beschreitet, nachzuvollziehen und somit eine Subsumtionsgrundlage herzustellen.

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Überträgt man diese rechtstheoretischen Gedanken auf die Bundesrepublik Deutschland – konkreter: auf die Bundesrechtsordnung in Gestalt der formellen Bundesgesetze – ergibt sich folgendes Bild: Im demokratischen Staat (Art. 20 Abs. 1 GG) geht alle Staatsgewalt und damit auch die gesetzgebende Gewalt vom Volke aus (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). Dies erfolgt durch regelmäßige Übertragung für einen begrenzten Zeitraum an die dafür vorgesehenen Organe; es handelt sich um das System parlamentarischer Demokratie.

Damit stellen sich für die Übertragbarkeit des oben dargelegten Modells mehrere Probleme: Zum einen wird nicht der Wille des gesamten Volkes abgebildet, weil die politische Linie der Organe lediglich die Mehrheit abbildet. Dass ein wirklich einheitlicher Wille über alle bestehenden sozialen und kulturellen Unterschiede hinaus besteht, ist zudem zu bezweifeln. Zum anderen handelt es sich bei den Organwaltern auch um Menschen, die psychologisch gesehen ihren eigenen Willen bilden, der zudem regelmäßig nicht von der Absicht der Vereinheitlichung des Rechts, sondern von politischen Opportunitäten getragen ist.[240] Diese Punkte wurden bereits von Hans Kelsen als Kritik an der Lehre Georg Jellineks,[241] der soziologische Einwand ebenfalls von Eugen Ehrlich[242] vorgetragen. Hinzu kommt unter der Ägide des Grundgesetzes, dass gem. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG jedenfalls die Abgeordneten des Bundestages nicht an einen tatsächlich festgestellten Volkswillen gebunden, sondern nur ihrem Gewissen unterworfen sind;[243] diese Wertung kann auch auf die übrigen Staatsorgane übertragen werden.[244]

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Doch selbst diese kritischen Literaturstimmen räumen die Richtigkeit des Grundgedankens einer die Einheit des Rechts bildenden Einheit des Rechtssetzers auch in der repräsentativen Demokratie ein: Handelt es sich für den Rechtssoziologen Eugen Ehrlich zwar nur um ein anzustrebendes Ideal,[245] weist Kelsen darauf hin, dass es nicht auf einen sozialpsychologischen Willensbegriff ankommen könne, sondern nur auf einen juristisch-normativen:[246] Die Handlungen der Staatsorgane stellen sich gerade nicht als ihre eigenen Willensäußerungen dar, sondern werden dem Staat – bzw. dem Träger der Staatsgewalt – zugerechnet, soweit Normen dies vorsehen. Dies ist der Fall, wenn sie in Handlungsformen des Staates tätig werden, z.B. durch Rechtssetzung. Aus dem Ergebnis dieses Zurechnungsvorgangs bildet sich dann aber ein (nicht-psychologischer) „Staatswille“. In der repräsentativen Demokratie ist dieser Staatswille der Volkswille. Das kommt auch in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG zum Ausdruck, wonach die Abgeordneten des Bundestages als „Vertreter des Volkes“ fungieren. Das Grundgesetz sieht nur die Existenz eines Volkes vor, wie die Präambel sowie Art. 1 Abs. 2 GG, 20 Abs. 2 S. 1, 146 GG deutlich machen,[247] weshalb das Ergebnis der Zurechnung eine Einheit bilden muss, da der eine Volkswille auf eine Frage nur eine Antwort geben kann.

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Da das Volk als Träger der Staatsgewalt und damit auch der Rechtssetzung „zeitlos“[248] ist, wird die Einheitlichkeit der Rechtssetzung auch nicht durch eine Diskontinuität der Repräsentanten des Volkes durchbrochen. Ein „neuer“ Gesetzgeber kann die bereits bestehenden Normen abändern oder aufheben,[249] da die Zurechnung an die dieselbe Instanz erfolgt, stellt die neue Rechtslage sich nur als aktualisierter Wille desselben Rechtssetzers und nicht als neuer Wille eines anderer Rechtssetzers dar. Soweit die neuen Repräsentanten sich zu einem bestimmten Sachgebiet noch nicht im Wege der Rechtsordnung geäußert haben, bleiben die bisherigen Normen samt der ihnen inne wohnenden politischen Überzeugungen bestehen, selbst wenn diese nicht von den neuen Repräsentanten geteilt werden. Wird aber eine Wertung im Normgefüge verändert, durchdringt diese Änderung auch das bislang vorfindliche Normensystem.