Die Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts

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(3) Der eingeschränkt auslegungsbezogen-subsidiäre Charakter des Strafrechts

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Jedenfalls nicht erneut für eine auslegungsbezogene Subsidiarität des Strafrechts ins Feld geführt werden kann, dass anderenfalls der jeweilige Fachgesetzgeber entmachtet würde: Denn ein solcher kann – wie gezeigt – nur relevant werden, wenn Normen derselben Rechtsebene kollidieren. Dann liegt aber nur ein einheitlicher Gesetzgeber vor, der sich nicht „selbst entmachten“ kann.[123] Umgekehrt kann aber demnach auch dem Subsidiaritätsgrundsatz nicht entgegengehalten werden, dass der Strafgesetzgeber seiner Kompetenzen beraubt würde.[124]

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Cornelius Prittwitz etwa führt an, dass die auf der Rechtssetzungsebene bestehende Subsidiarität über die Gesetzesbindung der rechtsanwendenden Staatsorgane auf die Auslegungsebene übertragen werden könne.[125] Dieses auf den ersten Blick einleuchtende Argument verliert allerdings beim näheren Hinsehen an Geltungskraft: Die Frage, ob eine Strafnorm erlassen werden darf oder nicht, hat zunächst einmal mit deren späterer Auslegung wenig zu tun. Probleme bei der Legitimation eines Straftatbestandes können zwar zur Notwendigkeit einer restriktiven Auslegung führen; allerdings ist auch damit nichts über das Verhältnis zu kollidierenden Normen ausgesagt.

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Als ergiebiger erweist sich hingegen das Verfassungsrecht: Bereits aus der Natur des Strafbarkeitsverdikts als tiefgehender Grundrechtseingriff ergibt sich, dass dieses nur bei Alternativlosigkeit und dringender Notwendigkeit Anwendung finden darf; der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt nämlich auch für den Einzelfall der Rechtsanwendung. Gegen ein derartiges Verständnis im Sinne eines Grundsatzes „in dubio pro libertate“ und einen daraus folgenden allgemeinen Subsidiaritätsgrundsatz wurde eingewandt, dass dadurch nicht die Präventionszuständigkeit auf das Opfer verlagert werden darf.[126] Zudem wird betont, dass das Strafrecht Freiheitsräume voneinander abgrenze und daher Entkriminalisierung immer auch selbst Grundrechtsbeschränkungen – nämlich bei den Inhabern der (nicht oder nur abgeschwächt) geschützten Rechtsgüter – zur Folge habe, weshalb dem „in dubio pro libertate“-Argument „demagogisches Potential“ zukomme.[127]

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Der Bestimmtheitsgrundsatz gem. Art. 103 Abs. 2 GG scheint nach dem von Lüderssen vorgetragenen Argument gegen eine auslegungsbezogene Subsidiarität und die daraus folgende Akzessorietät zu sprechen: Es besteht die Gefahr, dass außerstrafrechtliche Auslegungsschwierigkeiten in das Strafrecht hineingetragen werden. Der Einwand erweist sich allerdings als Trugschluss: Wie Lüderssen selbst dargelegt hat, dürfen solche Unsicherheiten sich niemals zu Lasten des Normadressaten auswirken. Das gilt aber für die hier interessierenden Normkollisionen insgesamt: Muss der Normadressat erst durch Auslegung ermitteln, ob die Strafnorm oder die außerstrafrechtliche Vorschrift Anwendung findet, leidet darunter die Vorhersehbarkeit von Strafbarkeit, die den Zweck des Gesetzlichkeitsprinzips darstellt. In Verbindung mit dem ultima ratio-Grundsatz als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips spricht daher viel für einen generellen Vorrang der außerstrafrechtlichen Norm.

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Problematisch ist hingegen, ob Art. 103 Abs. 2 GG auch auf die Frage nach der Anwendbarkeit einer Strafnorm im Hinblick auf die Kollision mit einer außerstrafrechtlichen Vorschrift anwendbar ist. Dagegen scheint auf den ersten Blick zweierlei zu sprechen: Zum einen stellt sich die Frage, ob überhaupt nur solche Normen erfasst werden, die unmittelbar Verhaltensanforderungen an den Normadressaten stellen. Und zum anderen muss sich die Frage stellen lassen, ob der Bestimmtheitsgrundsatz sich überhaupt an den Rechtsanwender richtet.

Lohnenswert erscheint zur Beantwortung dieser Frage der Blick auf den Umgang mit vergleichbaren Problemkonstellationen hinsichtlich des Anwendungsbereichs des Bestimmtheitsgrundsatzes, die bereits wissenschaftliche Durchdringung in Literatur und Rechtsprechung erfahren haben. Weitgehend Einigkeit besteht, dass Art. 103 Abs. 2 GG auch auf die Vorschriften des Strafanwendungsrechts Anwendung findet.[128] Denn da der Normadressat auch durch die Frage, ob eine Strafnorm überhaupt Anwendung findet, in seiner Freiheitssphäre betroffen wird, kann es vor dem Hintergrund des Zwecks des Bestimmtheitsgebots – nämlich der Vorhersehbarkeit, welches Verhalten strafbar ist und welches nicht – kein Rolle spielen, ob eine Norm unmittelbar inhaltlich eine Verhaltensregelung statuiert.[129] Dass der Bestimmtheitsgrundsatz sich (auch) an den Rechtsanwender richtet, hat vor kurzem das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Untreue-Tatbestandes klargestellt.[130] Diese Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Vorschrift ist zwingend, um ihren Zweck nicht zu unterlaufen.[131]

Sind damit sämtliche Zweifel ausgeräumt, den Bestimmtheitsgrundsatz auf Normkollisionen zwischen strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Vorschriften (derselben Rechtsebene) anwenden zu können, steht einer auslegungsbezogenen Subsidiarität des Strafrechts nichts mehr im Wege.

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Das Vorstehende lässt sich auch durch strafzwecktheoretische Erwägungen unterstreichen. Geht man mit der heute ganz überwiegenden Auffassung davon aus, dass dem Strafrecht – zumindest auch – eine präventive Funktion zukommt,[132] spricht auch dies für eine insgesamt restriktive Handhabung des Strafrechts, wie sie durch eine auslegungsbezogene Subsidiarität erreicht werden kann: Denn wird das Instrument der Strafe inflationär eingesetzt, verliert es seinen „sozialpsychologischen Schrecken“, der maßgeblich die Präventivwirkung der bestehenden Strafnormen gewährleistet.[133] Ein „angenehmer Nebeneffekt“ einer restriktiven Strafrechtshandhabung ist zudem die Entlastung der Strafjustiz.[134]

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Hervorzuheben ist aber, dass der Grundsatz der auslegungsbezogenen Subsidiarität des Strafrechts im Lichte seiner Herleitung verstanden werden muss. Geht es um Vorhersehbarkeit und Erwartungssicherung, muss die Anwendung des auslegungsbezogenen Subsidiaritätsgrundsatzes auf die Fälle beschränkt werden, in denen eben diese Gewährleistungen beeinträchtigt werden (können). Kein Anwendungsfall liegt daher in der oben dargestellten vierten Variante relevanter Normkollisionen: Ist die Strafnorm gleichzeitig spezieller als auch jünger als die außerstrafrechtliche kollidierende Norm und kommen daher beide in Rede stehenden Kollisionsregeln zum selben eindeutigen Ergebnis, ist die Vorhersehbarkeit strafbaren Verhaltens nicht beeinträchtigt. In diesem Fall ist die Strafnorm daher nicht gegenüber der außerstrafrechtlichen subsidiär. Dasselbe muss gelten, wenn im Rahmen der zweiten oder dritten Kollisionsvariante ausnahmsweise keinerlei Zweifel darüber bestehen, wie die Kollision aufzulösen ist.

cc) Auslegungsbezogene Subsidiarität, sekundärer Charakter und Akzessorietät des Strafrechts

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Nachdem bislang die Rangverhältnisse zwischen strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Normen geklärt wurden, bedarf es zur Begründung einer Akzessorietät des Strafrechts im Sinne einer inhaltlichen Anbindung eines letzten Schrittes. Dieser besteht in der Anerkennung des (zumindest teilweise) sekundären Charakters des Strafrechts – ein Grundsatz, der von demjenigen der Subsidiarität gedanklich zu trennen ist, auch wenn starke Überschneidungen zwischen beiden existieren.[135] Wie Lüderssen überzeugend dargelegt hat,[136] folgt der sekundäre Charakter des Strafrechts aus seiner historisch gewachsenen Funktion des Rechtsgüterschutzes. Auch wenn die Rechtsgutstheorie nicht frei von Kritik geblieben ist,[137] scheint sie jedenfalls im Grundsatz konsentiert zu sein.[138] In diesem Zusammenhang beansprucht das ursprüngliche Bindingsche Normenmodell weiterhin Geltung: Wie wichtig die Trennung von Verhaltensnorm einerseits und Sanktionsnorm andererseits ist, hat sich im Rahmen der rechtsebenenübergreifenden Normkollisionen gezeigt. Auch wenn sie innerhalb einer Rechtsebene keine praktischen Auswirkungen hat, weil sie nicht zu Kompetenzkonflikten führt, ist sie natürlich gedanklich auch dort vorzunehmen.

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Dass teilweise außerstrafrechtliche Normen umgekehrt an das Strafrecht anknüpfen, steht der Annahme eines sekundären und damit akzessorischen Charakters des Strafrechts nicht entgegen.[139] Denn in Wahrheit wird – wie etwa Deutsch für § 823 Abs. 2 BGB und Lüderssen für § 134 BGB dargelegt haben[140] – häufig gar nicht auf die Strafnorm als Sanktionsnorm Bezug genommen, sondern auf die dieser zugrunde liegende Verhaltensnorm, die dem außerstrafrechtlichen Bereich zuzuordnen ist. Häufig erfüllt der Rekurs auf das Strafrecht nur eine Filterfunktion: Aus der Summe aller möglichen Pflichtverletzungen sollen diejenigen herausgegriffen werden, die von der Rechtsordnung ganz besonders missbilligt werden, was durch eine flankierende Strafbewehrung des Verbots oder Gebots zum Ausdruck gebracht wird, was allerdings nichts daran ändert, dass die Pflicht als solche dem außerstrafrechtlichen Bereich entstammt. In diesem Sinne wird der Verweis auf das Strafrecht etwa in § 839 Abs. 2 S. 1 BGB und § 44 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG verwendet.

dd) Umfang der Akzessorietät

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Auch wenn sich dies eigentlich ganz selbstverständlich aus dem Vorstehenden ergibt, ist hinsichtlich des Umfangs der Akzessorietät zunächst klarzustellen, dass diese nicht zur Folge hat, dass alle außerstrafrechtlichen Verbote strafrechtlich flankiert werden sollen; eine solche Betrachtungsweise widerspräche dem ultima ratio-Prinzip als rechtssetzungsbezogene Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.[141]

 

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Der generellen Behauptung, nur das Neben-, nicht aber das Kernstrafrecht sei akzessorisch,[142] ist in dieser Verallgemeinerung zu widersprechen.[143] Das oben skizzierte strafrechtstheoretische Modell beansprucht zunächst einmal für alle Strafvorschriften unabhängig von deren gesetzestechnischer Verortung Geltung. Allerdings ist eine Abstufung der Intensität der akzessorischen Anbindung in Abhängigkeit vom jeweiligen Rechtsgut zu verzeichnen: Am strengsten muss die Akzessorietät der Strafnormen denklogisch dort sein, wo Werte geschützt werden, die überhaupt erst durch das einfache Recht geschaffen werden.[144] Bezieht der Schutz sich auf Werte, deren Schutzwürdigkeit und -bedürftigkeit sich bereits aus der Verfassung ergibt, hängt die Intensität der Abhängigkeit des Strafrechts naturgemäß davon ab, in welchem Umfang außerstrafrechtliche Regelungen vorhanden sind. Ist ein Bereich betroffen, in dem die Rechtsordnung noch (fast) überhaupt keine Regelungen vorsieht, kann das Strafrecht naturgemäß keine sekundäre Rolle einnehmen, sondern muss den Part des primären Rechtsgüterschutzes übernehmen.[145] Durch diese Feststellung darf aber nicht die gedankliche Trennung von Sanktions- und Verhaltensnorm aus dem Blick geraten; letztere ergibt sich dann als ungeschriebenes Recht im Umkehrschluss aus der Strafnorm. Eine solche ungeschriebene Verhaltensnorm ist dann aber dennoch Teil des Zivil- bzw. öffentlichen Rechts.[146] Aus diesem Grund ist ein derartiger originär strafrechtlicher Rechtsgüterschutz innerhalb des demokratischen Bundestaates nur auf derjenigen Rechtsebene zulässig, bei der die entsprechende Fachgesetzgebungskompetenz liegt.[147]

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Erneut ist außerdem die Frage nach einer möglichen Begriffsakzessorietät zu stellen. Hier ist dem Grundsatz nach auf die obigen Ausführungen zu verweisen:[148] Die Relativität der Rechtsbegriffe lässt sich in erster Linie nur mit Legaldefinitionen überwinden. Ob für das Strafrecht insoweit andere Regeln gelten, wird sogleich nochmals zu erörtern sein.

3. Die Akzessorietät des Strafrechts zur Wirklichkeit

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Die auf das Recht im Allgemeinen bezogenen Aussagen im Hinblick auf die Rezeption außerrechtlicher Sätze entfalten auch für das Strafrecht im Speziellen Geltung. Insbesondere stellt die Dogmatik nicht die „unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik“ dar,[149] sondern das Strafrecht „ist vielmehr die Form, in der kriminalpolitische Zielsetzungen in den Modus des rechtlichen Geltens überführt werden.“[150] Dabei erfährt das Strafrecht eine ganz besonders intensive Kulturprägung.[151] Aus diesem Grund ist auch im Strafrecht die sog. subjektive Auslegung in den oben dargestellten Grenzen[152] zulässig.[153] Auch besteht eine Vielzahl von Öffnungsklauseln gegenüber den verschiedensten Bereichen der Lebenswirklichkeit. So setzt etwa der Bußgeldtatbestand des § 4 Abs. 1 WiStG die „Ausnutzung einer wirtschaftlichen Machtstellung“ voraus und § 283 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 StGB nimmt auf die „Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft“ Bezug, während § 319 Abs. 1 StGB die „allgemein anerkannten Regeln der Technik“ rezipiert und die Einwilligung in eine Körperverletzung unbeachtlich ist, wenn die Tat „gegen die guten Sitten verstößt“ (§ 228 StGB).[154] Zu betonen ist auch, dass Öffnungsklauseln in außerstrafrechtlichen Normen natürlich auch auf die Strafnorm wirken, soweit diese nach den eben dargestellten Grundsätzen akzessorisch zu den betreffenden Primärnormen ist. Über das Phänomen der Öffnungsklauseln hinaus wird im Strafrecht zudem diskutiert, ob und ggf. welche Auswirkungen die sog. Sozialadäquanz eines tatbestandlichen Verhaltens haben kann.[155]

4. Akzessorietät des Strafrechts zum Strafrecht?

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Bislang als potenzielles Bezugsobjekt des Strafrechts ausgeblendet wurde das Strafrecht selbst. Freilich kann damit nicht eine Akzessorietät des Strafrechts „als Ganzes“ zum Strafrecht „als Ganzes“ gemeint sein. Vielmehr stellt sich die Frage, ob die zum Verhältnis zwischen Strafrecht und außerstrafrechtlichem Recht gewonnenen Erkenntnisse für Akzessorietätsverhältnisse fruchtbar gemacht werden können, die zwischen einzelnen Aspekten bestehen, die jeweils dem Strafrecht zugeordnet werden können.

Ruft man sich die allgemeine Definition des Akzessorietätsbegriffs als einseitiges Abhängigkeitsverhältnis ins Gedächtnis,[156] so findet sich innerhalb der Strafrechtsdogmatik eine Vielzahl von Phänomenen, auf die dieses Bild zu passen scheint. Dies gilt natürlich zuallererst für das bereits seinerseits (wenn auch mit dem einschränkenden Zusatz „limitierte“) als „Akzessorietät“ bezeichnete[157] Verhältnis zwischen Teilnahme und Haupttat. In Betracht kommen aber etwa auch das Verhältnis von Anschlussdelikt und Vortat, von Grunddelikt und (Erfolgs-)Qualifikation, der Bereich der Gesetzeskonkurrenzen sowie das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem Teil des Strafrechts.

Dass die genannten sowie andere strafrechtsinterne Beziehungen sich als Akzessorietätsverhältnisse im weitesten Sinne bezeichnen lassen können, hat aber noch nicht zur Folge, dass insoweit die bisher entwickelten Grundsätze gelten. Denn wie der bisherige Gang der Untersuchung deutlich macht, geht es bei der Akzessorietät im hiesigen Sinne um die Frage, wie eine Kollision zwischen Normen aufzulösen ist, die dem Grunde nach auf denselben Sachverhalt Anwendung finden, diesen aber – jedenfalls prima facie – unterschiedlich bewerten, aber keine einheitliche Regel existiert, die diesen Konflikt eindeutig auflöst. Nur soweit eine zumindest vergleichbare Situation gegeben ist, kann eine Anwendung der oben entwickelten Grundsätze erwogen werden.

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Bei den meisten „strafrechtsinternen“ Akzessorietätsverhältnissen sind diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt. Dies ist nicht etwa bereits deshalb der Fall, weil „strafrechtsinterne“ Fragen regelmäßig den Inhalt der Sanktionsnorm betreffen; nicht nur im Verhältnis zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm, sondern auch zwischen verschiedenen Normen, die gemeinsam die Sanktionsnorm konstituieren, können Normkonflikte auftreten. Allerdings betrifft das Problem bei derartigen Fragen in der Regel nur die Auslegung einer einzelnen Norm, nicht aber das Verhältnis zwischen mehreren Normen, oder es besteht kein Bedürfnis der Auflösung des Normkonfliktes nach allgemeinen Grundsätzen:

So ist etwa die Auflösung der Konkurrenz zwischen Grunddelikt und Qualifikationstatbestand eindeutig: Nach dem lex specialis-Grundsatz wird das Grunddelikt vom Qualifikationstatbestand verdrängt.[158] Zwar kann im Einzelfall problematisch sein, ob ein Deliktstatbestand einen anderen qualifiziert oder erfolgsqualifiziert; diese Frage ist dann aber kein Problem des Verhältnisses der beidenen Normen zueinander, sondern nur der Auslegung der jeweiligen einzelnen Normen.

Ebenfalls kein Akzessorietäts-Problem im Sinne des hiesigen Begriffsverständnisses ist die (limitierte) Akzessorietät der Teilnahme. Zum einen geht es insoweit nicht um ein und denselben Sachverhalt, sondern um zwei verschiedene Sachverhalte: nämlich die Haupttat einerseits und die Teilnahmehandlung andererseits. Die Akzessorietät besteht hier zunächst auf tatsächlicher Ebene. Ist unklar, ob eine vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat begangen wurde oder nicht, folgt die Straflosigkeit des Teilnehmers nicht etwa aus einer entsprechenden Anwendung des Grundsatzes der eingeschränkten auslegungsbezogenen Subsidiarität, sondern bereits aus dem in dubio pro reo-Grundsatz. Liegt eine teilnahmefähige Haupttat vor, ist dagegen klar, dass der auf den Teilnehmer anzuwendende Strafrahmen an denjenigen der Haupttat anknüpft; es besteht kein Normkonflikt, den es aufzulösen gilt. Etwas anderes gilt auch nicht im Falle der Durchbrechung der limitierten Akzessorietät der Teilnahme durch § 28 StGB: Die Vorschrift enthält eine eindeutige Regelung, wie der Strafrahmen des Teilnehmers zu bemessen ist. Ist – wie etwa im Verhältnis von Mord und Totschlag – problematisch, ob der erste oder der zweite Absatz des § 28 StGB anzuwenden ist,[159] geht es wiederum nur um das Verständnis und somit die Auslegung einer einzelnen Norm (nämlich § 211 StGB), nicht um die Auflösung eines Konflikts zwischen verschiedenen Normen.

Weiterhin gibt es Konstellationen, in denen zwar ein „strafrechtsinterner“ Normkonflikt vorliegt, aber zugleich kein Raum für die Anwendung von allgemeinen Akzessorietätserwägungen bleibt, weil der Normkonflikt eindeutig aufgelöst wird. Dies ist etwa der Fall, wenn das Gesetz selbst Subsidiarität anordnet, wie etwa bei §§ 145d Abs. 1, 246 Abs. 1, 265b Abs. 1 StGB.

Ebenfalls keine Akzessorietäts-Fragen wirft das Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem Teil des StGB auf. Die gesetzgeberische Technik, allgemeine Fragen für alle Delikte des Besonderen Teils gleichsam „vor die Klammer gezogen“ zu regeln, dient der Gesetzesökonomie, indem sie zahlreiche Wiederholungen vermeidet; das ändert jedoch nichts daran, dass die Deliktstatbestände des Besonderen Teils jeweils für sich zu verstehen sind.[160] Eine Akzessorietät im Sinne einseitiger Abhängigkeit besteht im Verhältnis des Besonderen Teils zum Allgemeinen Teil daher nicht, weil zum einen der Besondere Teil auch ohne einen Allgemeinen Teil existieren könnte, zum anderen der Allgemeine Teil den Gesetzgeber nicht selbst bindet, sondern es diesem unbenommen bleibt, im Besonderen Teil für einzelne Deliktstatbestände Besonderheiten zu regeln, die von den Bestimmungen des Allgemeinen Teils abweichen, wie z.B. die Irrtumsregelungen in § 113 Abs. 3 S. 2 und Abs. 4 StGB. Dies gilt freilich nicht nur für die Strafnormen im Besonderen Teil des StGB, sondern auch für diejenigen des Nebenstrafrechts (für die gem. Art. 1 EGStGB grds. auch der Allgemeine Teil des StGB gilt). Insoweit finden sich etwa in §§ 17 Abs. 7, 18 Abs. 10 AWG strafanwendungsrechtliche Regelungen, die von § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB abweichen. Insoweit liegt zwar ein Normkonflikt vor, der aber mittels des lex specialis- und des lex posterior-Grundsatzes eindeutig aufzulösen ist.

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Die genannten Beispiele machen deutlich, dass innerhalb des Strafrechts kein Raum oder zumindest kein Bedürfnis für allgemeine Akzessorietätserwägungen in dem Sinne besteht, wie sie im Rahmen dieser Untersuchung behandelt werden sollen. Regelmäßig stellen sich solche strafrechtlichen Probleme, die man mit dem Begriff der Akzessorietät in Verbindung bringen könnte, nicht als Probleme im Zusammenhang mit Konflikten zwischen mehreren Normen, sondern lediglich als Problem der Auslegung einzelner Normen dar; dort, wo tatsächlich Normkonflikte vorliegen, werden diese regelmäßig vom Gesetz selbst eindeutig aufgelöst.