Die Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts

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c) Teilweise Akzessorietät des Strafrechts

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Verschiedene Autoren gehen von einer eingeschränkten Akzessorietät des Strafrechts aus:

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So ist nach Maurach/Zipf das Strafrecht in seinen Rechtsfolgen grundsätzlich selbständig, hinsichtlich seiner Voraussetzungen aber abhängig.[65] Das Strafrecht spreche keine Verbote, sondern lediglich Sanktionen aus.[66] In welchen Fällen das der Fall ist, wird durch die Straftatbestände konturiert;[67] welche Rechtsfolgen die anderen Teile der Rechtsordnung an dasselbe Unrecht knüpfen und inwiefern diese prozedural umgesetzt werden oder nicht, hat für das Strafrecht regelmäßig keine Bedeutung.[68]

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Dagegen soll nach Jescheck/Weigend „[d]ie Abhängigkeit des Strafrechts von anderen Rechtsgebieten und deren Begriffsbildung […] nicht als Regel gelten“.[69] Da das Strafrecht „die geschichtlich älteste Form [sei], in der das Recht überhaupt erscheint“, sei das Bindingsche Verständnis eines an außerstrafrechtliche Güter sowie Ge- und Verbote anknüpfenden Strafrechts als allgemeiner Grundsatz abzulehnen.[70] Nur teilweise müsse das Strafrecht sich an anderen Regelungskomplexen orientieren; so etwa bei Blanketttatbeständen im Nebenstrafrecht.[71]

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Auch der Ansatz Günthers von der Strafrechtswidrigkeit[72] ist an dieser Stelle zu nennen. Danach ist Rechtswidrigkeit eines straftatbestandlichen Verhaltens teilweise von außerstrafrechtlichen Wertungen abhängig, im Übrigen aber rein strafrechtsautonom zu bestimmen.[73]

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Streng zwischen Akzessorietät und Sekundarität des Strafrechts will Schünemann unterscheiden: Akzessorietät meine lediglich eine begriffliche Anbindung, die er – unter Berufung auf das Konzept Bruns“, das er 1971 als herrschende Meinung bezeichnete (!) – nur für wenige Ausnahmefälle annehmen will.[74] Aus der Sekundarität des Strafrechts folge hingegen, dass eine Pönalisierung dort nicht möglich sei, wo ein Verhalten nach einer vorstrafrechtlichen Ordnung erlaubt ist, aus der Summe der vorstrafrechtlich als rechtswidrig eingestuften Verhaltensweisen allerdings nur die strafwürdigen und strafbedürftigen pönalisiert werden dürften.[75]

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Klaus Tiedemann bezieht in seiner Habilitationsschrift keine Position zum grundsätzlichen Streit um die Akzessorietät des Strafrechts.[76] Er verweist jedoch auf Adolf Wach, der in seiner Rezension der Normentheorie Bindings davon ausgegangen war, dass es zum einen akzessorische, zum anderen aber auch autonome Straftatbestände gebe.[77] Diese Betrachtungsweise finde sich laut Tiedemann im deutschen wie im ausländischen Strafrecht.[78] Jedenfalls für „weite Bereiche des Nebenstrafrechts“ könne aber ein akzessorischer Charakter „nicht geleugnet werden“.[79] Zwar erwägt Tiedemann, dass das Sekundaritäts- und das Subsidiaritätsprinzip sich nicht nur auf die Rechtssetzung, sondern auch auf die Rechtsanwendung erstrecken könnten,[80] was eine weitergehende Akzessorietät des Strafrechts zur Folge hätte, verwirft dies jedoch an späterer Stelle mit der Begründung, dass keine generelle Pflicht zur restriktiven Auslegung bestehe.[81]

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Michael Heghmanns geht von einer teilweise sekundären Natur des Strafrechts aus.[82] Bestehe die Aufgabe des Strafrechts im Schutz von Rechtsgütern, könne das Strafrecht diese Güter grundsätzlich nicht selbst definieren, sondern müsse auf das übrige Recht zurückgreifen.[83] Es selbst bestimme nur, welche Ausschnitte des bestehenden Rechtsgüterschutzes es flankiere und in welchem Umfang. Allerdings entfalte das Strafrecht auch „wertverstärkende“[84] Wirkungen, weil der Strafrechtsschutz deutlich mache, dass die Rechtsordnung einem bestimmten Rechtsgut wohl eine höhere Bedeutung bemisst;[85] damit sei aber keine Neuschaffung von Werten im Sinne einer gestaltenden[86] oder „sittenbildenden“[87] Kraft verbunden.[88] Es sei aber dort eine originär strafrechtliche Wertentscheidung möglich, wo keine außerstrafrechtlichen Wertungen existieren.[89] Letztlich würden aber auch in diesen Fällen nur gesellschaftliche oder politische Wertentscheidungen nachvollzogen,[90] die noch keinen Niederschlag im außerstrafrechtlichen Recht gefunden hätten.

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Kamila Matthies schließt sich zum Teil den Ausführungen Heghmanns“ an.[91] Die Akzessorietät des Strafrechts folge aus dem Subsidiaritätsgrundsatz als dessen spezielle Ausformung;[92] dieser erfasse nicht nur das „Ob“ der Strafandrohung im Rechtssetzungsverfahren, sondern auch das „Wie“.[93] Soweit aber keine außerstrafrechtlichen Vorwertungen vorhanden seien, könne das Strafrecht selbständig Wertungen treffen, solange es damit den Regelungen anderer Teilgebiete nicht widerspricht.[94] Ähnlich äußert sich Udo Ebert, der zwar von der grundsätzlichen Akzessorietät des Strafrechts ausgeht, aber andererseits betont, dass Bereiche existieren, die das Strafrecht mangels außerstrafrechtlich vorweggenommener Wertung eigenständig regelt.[95]

d) Wechselseitige Akzessorietät

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Ein weiterer literarischer Ansatz, der sich nicht recht in die bisher genannten Strömungen einsortieren lässt, liegt in einer Stellungnahme zum Problem der behördlichen Duldung im Umweltstrafrecht.[96] Ulrike Hopf stellt darin dem häufig verwendeten programmatischen Argument „was verwaltungsrechtlich erlaubt ist, kann nicht strafbar sein“ die These „was strafbar ist, kann verwaltungsrechtlich nicht erlaubt sein“ gegenüber und „deute[t] damit an, daß die Akzessorietät keine einseitige Angelegenheit ist.“[97] Sie fordert, dass das nicht genehmigte Betreiben einer Anlage i.S.d. BImSchG, das den Tatbestand des § 327 Abs. 2 StGB erfüllt, das Ermessen der zuständigen Behörde im Hinblick auf eine Beseitigung bzw. Stilllegung der Anlage gem. § 20 Abs. 2 BImSchG auf null reduziert wird, anstatt der Duldung seitens der Behörde rechtfertigende Wirkung hinsichtlich des § 327 StGB beizumessen.[98]

Damit leugnet Hopf nicht grundsätzlich eine Akzessorietät des Strafrechts. Allerdings will sie den Einfluss außerstrafrechtlichen Rechts wohl auf diejenigen Fälle beschränken, in denen sich der Wortlaut der Strafnorm eindeutig von anderen Normen abhängig macht und im Übrigen umgekehrt der Strafnorm Wirkungen hinsichtlich anderer Rechtsgebiete beimessen. Es handelt sich um eine Art wechselseitiger Akzessorietät, die sich so nur bei stark positivistischer Anlehnung an den Wortlaut der jeweiligen Vorschriften durchführen lassen kann.

e) Stellungnahme

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Unbestritten ist, dass das Strafrecht hinsichtlich seiner Rechtsfolgen von den übrigen Teilen der Rechtsordnung unabhängig ist.[99] Problematisch ist hingegen, inwieweit das Strafrecht hinsichtlich seiner Voraussetzungen autonom ist.

aa) Akzessorietät und Einheit der Rechtsordnung

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Grundbedingung für eine solche Akzessorietät ist, dass die (sog.) Rechtsgebiete nicht beziehungslos nebeneinander stehen. Dass dies auch nicht der Fall ist, wurde bereits unter dem Gesichtspunkt einer Einheit der Rechtsordnung dargestellt.[100] Allein schon deshalb ist – neben den zutreffenden Einwänden Lüderssens in Bezug auf den Vorwurf nationalsozialistischen Strafrechtsdenkens und der veränderten Aufgabe des Strafrechts in der staatlichen Ordnung – die Behauptung der vollständigen Autonomie des Strafrechts abzulehnen.

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Diese Grundsatzentscheidung für Wechselwirkungen zwischen den Normen unterschiedlicher Teile der Rechtsordnung ist aber allein für die Annahme einer Akzessorietät im Sinne einer einseitigen Abhängigkeit nicht ausreichend. Wie gezeigt, ist vielmehr ein rechtlicher Grund erforderlich, wenn im Konfliktfall der außerstrafrechtlichen Vorschrift der Vorrang gegenüber der Strafnorm eingeräumt werden soll.[101] Solange ein solcher Rechtsgrund nicht vorliegt, ist auch ein Vorrang der Strafnorm im Einzelfall jedenfalls im Grundsatz denkbar.[102] Das hätte beispielsweise die absurde Konsequenz, dass man hinsichtlich der Festnahme eines Verdächtigen durch einen Polizisten nicht automatisch eine Rechtfertigung der Freiheitsberaubung kraft strafprozessualer Eingriffsbefugnisse annehmen dürfte, sondern auch in Betracht ziehen müsste, dass die Eingriffsmaßnahme gerade deswegen rechtswidrig ist, weil durch dasselbe Verhalten ein Straftatbestand verwirklicht wird.

bb) Subsidiaritätsgrundsatz

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Als ein solcher Rechtsgrund drängt sich die Annahme einer generellen Subsidiarität des Strafrechts auf.

(1) Allgemeines

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In diesem Zusammenhang spielen verschiedene Begrifflichkeiten eine Rolle, die nicht einheitlich gebraucht werden.[103] Die Rede ist vom ultima ratio-Grundsatz, von der Subsidiarität des Strafrechts sowie vom sekundären und vom fragmentarischen Charakter des Strafrechts. Eine gewisse Systematisierung lässt sich folgendermaßen vornehmen:

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Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass die Androhung von Strafe durch einen Straftatbestand bzw. die Verhängung einer Strafe aufgrund desselben einen Grundrechtseingriff darstellt.[104] Dieser muss sich einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterziehen, gleichgültig, ob man diesen aus dem Rechtsstaatsprinzip oder unmittelbar aus dem jeweiligen Grundrecht ableitet.[105] Auf diesem Wege findet auch das Prinzip des Rechtsgüterschutzes Eingang in die Problematik. Denn wenn als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – gleich unter welcher Bezeichnung – verlangt wird, dass das Strafrecht nur das äußerste denkbare Mittel sein darf, muss eine Bezugsgröße vorhanden sein, an der die zulässige Eingriffstiefe zu messen ist.[106]

 

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Strafrechtlicher Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist der Subsidiaritätsgrundsatz.[107] Danach ist der Einsatz des Strafrechts nur dort zulässig, wo der Schutz des jeweiligen Rechtsguts nicht durch weniger einschneidende Mittel gleich wirksam gewährleistet werden kann.[108] Diese „negative“ Seite des Subsidiaritätsprinzips wird mit der Bezeichnung als ultima ratio nochmals unterstrichen.[109] Darüber hinaus soll dem Subsidiaritätsgrundsatz aber noch eine „positive“ Komponente zu entnehmen sein, die insoweit nicht Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist: Das Strafrecht sei nicht nur zu begrenzen, sondern den Staat könne auch unter Umständen aus dem Aspekt sozialer Gerechtigkeit heraus eine Hilfspflicht treffen, die auch den Einsatz des Strafrechts umfassen kann, wo keine (milderen) Alternativen zur Verfügung stehen.[110] Aus der negativen Seite des Subsidiaritätsgrundsatzes folgt faktisch, dass es in jedem Teilbereich der Rechtsordnung Ge- und Verbote gibt, die nicht strafrechtlich flankiert werden müssen und somit auch nicht dürfen; ein lückenloser Strafrechtsschutz ist der Rechtsordnung fremd. Dieses Phänomen wird als fragmentarischer Charakter des Strafrechts bezeichnet.

(2) Reichweite des Subsidiaritätsgrundsatzes

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Zur Begründung einer allgemeinen Akzessorietät des Strafrechts sind diese Erwägungen wenig dienlich, weil sie sich letztlich allesamt auf die Ebene der Rechtssetzung beziehen. Damit ist allerdings noch nichts für die Rechtsanwendung ausgesagt.

(a) Grundsätzliche Möglichkeit der Erstreckung des Subsidiaritätsgrundsatzes auf die Rechtsanwendungsebene

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Eine Übertragung des Subsidiaritätsgrundsatzes auf die Rechtsanwendungsebene denkt Tiedemann an.[111] Er verwirft diesen Gedanken aber, weil es „nicht als eine methodisch gesicherte Erkenntnis angesehen werden [könne], daß die als Fragmente einer beschränkten Strafgewalt zu begreifenden Straftatbestände generell mit Rücksicht auf ihre punktuelle Natur restriktiv zu verstehen sein sollen“.[112]

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In dieser Allgemeinheit mag die Aussage zwar zutreffen; allerdings ist damit keine Aussage darüber getroffen, dass eine Rechtsordnung sich nicht für eine restriktiv-subsidiäre Auslegung entscheiden könnte. Gerade ein solches Subsidiaritätsprinzip normiert nämlich beispielsweise das Schweizer Strafrecht. Art. 14 des Schweizer Strafgesetzbuchs lautet:

„Wer handelt, wie es das Gesetz gebietet oder erlaubt, verhält sich rechtmäßig, auch wenn die Tat nach diesem oder einem andern Gesetz mit Strafe bedroht ist.“

Danach wird ein Normkonflikt immer zugunsten der nicht-strafrechtlichen Vorschrift aufgelöst. Die Behauptung, die Vorschrift würde lediglich klarstellen, was der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung gebiete,[113] ist nach dem oben Gesagten unzutreffend.

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Eine derartige Bestimmung ist im deutschen Strafgesetz nicht enthalten. Daraus lässt sich aber nicht folgern, dass schon allein aus diesem Grund der Akzessorietätsgrundsatz zu verwerfen wäre; eine Verpflichtung zur subsidiären Auslegung von Strafnormen kann sich auch aus allgemeinen ungeschriebenen Grundsätzen ergeben. Auch kann nicht argumentiert werden, dass man sich bei der Schaffung des (R)StGB bewusst gegen eine Regelung nach dem Schweizer Vorbild entschieden habe, weil Art. 14 des Schweizer Strafgesetzbuchs erst wesentlich später in Kraft trat als das (R)StGB.

(b) Notwendigkeit der Erstreckung des Subsidiaritätsgrundsatzes auf die Rechtsanwendungsebene

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Ist danach jedenfalls grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet, dass auch auf Rechtsanwendungsebene ein Grundsatz der strafrechtlichen Subsidiarität existiert, ist es hilfreich, zunächst den Anwendungsbereich eines solchen Grundsatzes abzustecken. Denn viele der problematischen Normkollisionen lassen sich bereits mit Hilfe der gängigen Auslegungsmethoden eindeutig lösen.

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Auf den ersten Blick einfach gelagert scheinen diejenigen Fälle zu sein, in denen die konfligierenden Normen aus unterschiedlichen Rechtsebenen stammen. Hier gilt der lex superior-Grundsatz.[114] Der lex posterior-Grundsatz findet auf Normen verschiedener Ränge keine Anwendung.[115] Dass der lex specialis-Grundsatz hinter dem lex superior-Grundsatz zurückzustehen hat, scheint ebenfalls unbestritten zu sein.[116]

Ist die außerstrafrechtliche Konfliktnorm gegenüber der Strafvorschrift höherrangig,[117] wird letztere bereits kraft herkömmlicher Methodik verdrängt, soweit die höherrangige Vorschrift keine Ausnahme vorsieht. Ein strafrechtlicher Subsidiaritätsgrundsatz ist insoweit nicht erforderlich.

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Umgekehrt geht zwar auch grundsätzlich die Strafnorm vor, wenn ihr im Verhältnis zur außerstrafrechtlichen Konfliktnorm ein höherer Rang zukommt. Eine solch unbefangene Anwendung des lex superior-Grundsatzes wirft aber Probleme auf; sie beeinträchtigt nämlich die verfassungsstaatliche Kompetenzordnung. So würde die schlichte Annahme der Höherrangigkeit der §§ 239, 240 StGB bedeuten, dass Polizisten sich im präventiven Bereich nicht strafbefreiend auf ihre landesrechtlichen Befugnisse stützen könnten und somit der Bundesgesetzgeber verfassungswidrig in den Zuständigkeitsbereich der Länder eingreifen würde. Die Auslegung muss sich daher nach der bundesstaatlichen Kompetenzordnung richten: Besteht ein Normkonflikt zwischen einer bundesrechtlichen Strafnorm und einer landesrechtlichen Vorschrift, die dem ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der Länder angehört, so muss die Kollision zugunsten des Landesrechts aufgelöst werden.[118] Bei einer Materie aus dem Bereich der konkurrierenden Bundesgesetzgebung ist zu differenzieren: Kann der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz (hinsichtlich der außerstrafrechtlichen Materie) Gebrauch machen, so verdrängt er damit das jeweilige Landesrecht mit seiner eigenen Regelung, sodass überhaupt kein Kollisionsfall zwischen Normen unterschiedlicher Ränge mehr vorliegt, soweit kein Vorbehalt zugunsten des Landesrechts vorgesehen ist. Ob der Bund aber wirklich von einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz außerhalb des Strafrechts Gebrauch machen will, kann im Einzelfall schwierig zu beurteilen sein. Erlässt der Bund nur eine Strafnorm, regelt aber sonst den betreffenden Lebensbereich nicht weiter, spricht viel dafür, dass er lediglich seine Strafgesetzgebungskompetenz nutzt; dann muss aber im Regelfall entsprechend den Ausführungen zu Fällen der ausschließlichen Landesgesetzgebungskompetenz die Strafnorm hinter der landesrechtlichen Regelung zurückstehen. Dies gilt jedenfalls, solange es sich um einen sehr weit gefassten Tatbestand handelt; ist die Strafnorm hingegen sehr detailliert und ausdifferenziert, kann dies erkennen lassen, dass der Gesetzgeber insoweit (mittelbar) die Sachmaterie regeln möchte und nicht nur das Strafrecht.

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Schwierig ist auch die Behandlung von Konfliktkonstellationen, die sich auf derselben Normebene abspielen. Hier gelten als allgemeine Kollisionsregeln die Grundsätze „lex specialis derogat legi generali“ und „lex posterior derogat legi anteriori“. Daraus ergeben sich vier denkbare mögliche Konstellationen, die getrennt voneinander zu betrachten sind:


(1) Die Strafnorm ist älter und allgemeiner als die außerstrafrechtliche Kollisionsnorm.
(2) Die Strafnorm ist älter und spezieller als die außerstrafrechtliche Kollisionsnorm.
(3) Die Strafnorm ist jünger und allgemeiner als die außerstrafrechtliche Kollisionsnorm.
(4) Die Strafnorm ist jünger und spezieller als die außerstrafrechtliche Kollisionsnorm.


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Unproblematisch ist die erste Variante: Existiert ein sehr allgemein gehaltenes Strafgesetz und wird auf derselben Rechtsebene zu einem späteren Zeitpunkt ein speziell gehaltenes Gesetz erlassen, dass ein Verhalten, das in den Anwendungsbereich des Straftatbestandes fallen würde, legitimiert, so geht die außerstrafrechtliche Norm sowohl nach dem lex specialis- wie auch nach dem lex posterior-Grundsatz vor.

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Dasselbe gilt umgekehrt für die vierte Variante: Ist die Strafnorm gleichzeitig jünger und spezieller, so ist sie nach beiden Kollisionsregeln vorrangig.[119]

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Schwierigkeiten bereiten dagegen die zweite und dritte Konstellation. Sie unterscheiden sich nur, wenn man die Perspektive der Strafnorm einnimmt; geht man gedanklich von der außerstrafrechtlichen Vorschrift aus, liegt jeweils der umgekehrte Fall vor. Die sich stellende Frage des Vorrangs ist also letztlich für „beide“ Varianten dieselbe. Hierfür existiert keine pauschale Antwort. Zwar wird weithin von einem Vorrang der lex specialis-Regel gegenüber dem lex posterior-Grundsatz ausgegangen;[120] in derartigen Konstellationen aber lässt sich nur durch Auslegung im Einzelfall ermitteln, ob die bestehenden Spezialregelungen auch gegenüber der neuen Grundregel als Ausnahmen fungieren sollen oder nicht;[121] denn dass die älteren Spezialvorschriften nicht gleichzeitig aufgehoben werden, spricht noch nicht automatisch dafür, dass sie auch aufrecht erhalten werden sollten.[122]

Für die Ausgangsfragestellung ergibt sich damit Folgendes: Die Kompetenzordnung der unterschiedlichen rechtssetzenden Instanzen könnte durch ein weiter gefasstes strafrechtliches Subsidiaritätsprinzip nicht beeinträchtigt werden; ein solches würde nur in Bezug auf Normkollisionen innerhalb einer Rechtsebene Anwendung finden. Hier könnte es zu einer Vereinfachung der Auflösung der zweiten und dritten Problemkonstellation beitragen; zudem würde es zu einem anderen Ergebnis hinsichtlich der Auflösung der vierten Variante führen, als dies bei Anwendung der allgemeinen Kollisionsregeln der Fall ist.