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Z serii: Dein Leben
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Auf den Prüfstand müssen notgedrungen als Erstes die Dinge kommen, die eine langfristige finanzielle Planung erfordern und uns binden: Hausbau, Familiengründung, größere Anschaffungen etc. Beispiel Hausbau: Immer noch inszenieren Banken und interessierte Finanzdienstleister Kampagnen, um dem Einzelnen einen Hausbau schmackhaft zu machen. Weil ein Haus ja angeblich »eine Investition in die Zukunft« sei, die sich irgendwann rechne. Doch Fakt ist: Wenn Sie ein Haus bauen oder kaufen, ist das zunächst nur für die Bank eine Investition (die Ihnen einen Kredit gibt und dafür Sicherheiten verlangt). Für Sie ist das 20 oder 30 Jahre lang eine Verbindlichkeit. Das ist ein enormer Unterschied. Die Bank gewinnt immer: Entweder Sie zahlen den Kredit mit Zinsen zurück oder die Bank kassiert die Sicherheit. Sie dagegen sitzen auf einem Schuldenberg von ca. 250 000 Euro + X, den Sie über die nächsten 25 Jahre langsam abbauen. Dieses Geschäftsmodell harmoniert sehr gut mit einer Wirtschaftswundergesellschaft im Vollzeitstellen-Modus. Dort war auch das Ausfallrisiko für Sie als Kreditnehmer überschaubar. In der Gegenwart jedoch ist nur eines sicher: die Unsicherheit. Daher steigt das Risiko eines Kreditausfalls (weil Sie Ihren Job verlieren) überproportional zum Risiko der Bank. Eigentlich macht ein solches Geschäft heutzutage für die meisten Häuslebauer ökonomisch keinen Sinn, sondern bringt ihnen schlaflose Nächte – was eine völlig normale Reaktion ist. Nur wird man indoktriniert von der Werbung und vom Mainstream, weil »man« sich eben ein Haus baut und damit immer noch gesellschaftlichen Erfolg und Status verbindet.

Hausbau oder -kauf ist nur ein Beispiel dafür, dass wir früher selbstverständliche Denk- und Handlungsweisen überprüfen müssen, wenn sich die ökonomischen Rahmenbedingungen ändern. Der Einzelne muss sich künftig sehr genau überlegen, welchen Betrag er angesichts der neuen Arbeitsmarktdynamik und dem Risiko eines Jobverlusts wie investiert. Das geht über den rein finanziellen Bereich hinaus. Egal, ob es um Familienplanung, Haus, Karriere oder Wohnort geht: In der Zukunft werden wir sehr bewusst über die Bestandteile unseres Lebens entscheiden müssen. Nicht um permanent die Kontrolle zu behalten (ständige Kontrolle ist eine Illusion), sondern um die neue Unsicherheit möglichst gering zu halten. Dies erfordert mehr als die Prüfung der Frage, was die beste Krankenversicherung ist. Wir müssen uns auch fragen nach unseren Träumen und Wünschen, nach unseren Ressourcen und Möglichkeiten.

Die andere – positive – Seite der Medaille liegt in der Chance, im Leben sehr viele, sehr verschiedene Erfahrungen zu machen. Wir haben mehr Freiheit in unseren Lebensentwürfen und können, wenn wir wollen, die neue ökonomische Dynamik für uns nutzen. Die neue Unsicherheit gibt uns Gelegenheit, uns aktiv mit unserem Leben und unserer Zukunft auseinanderzusetzen. Flexibilität ist nicht unbedingt etwas Schlechtes. Wenn wir im Job keine Sicherheit mehr erwarten können, müssen wir uns andere Fixpunkte schaffen: tragfähige Beziehungen, einen Sinn im Leben, eine positive Lebenseinstellung, die Fähigkeit zu bewusstem Genuss und die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen.

Durch lebenslanges Lernen der neuen Unsicherheit begegnen

Das lebenslange Lernen ist künftig vielleicht der Schlüssel zu einer erfolgreichen Lebensgestaltung. In Zeiten, in denen sich »die Welt in zehn Jahren mehr ändert als sonst in hundert« (Giovannino Guareschi), müssen wir uns anstrengen, um nicht abgehängt zu werden. Noch nie war unsere Fähigkeit zur Anpassung und zum Lernen so gefragt wie heute. Lernen und Bildung werden zur wichtigsten Ressource sowohl für den eigenen ökonomischen Erfolg als auch für die Gesellschaft insgesamt. Denn der nächste Quantensprung in unserer Entwicklung wird ein geistiger sein. Das ist die Essenz der Dritten Transformation.

Die Frage ist, ob Institutionen, Arbeitgeber und der Staat in dieser Flexibilität mithalten können und wo wir als Gesellschaft die Grenze zwischen möglicher Flexibilität und Selbstaufgabe ziehen. Die zentrale Frage lautet: Wofür übernimmt der Einzelne die Verantwortung? Und wofür der Staat? Was ist der Verantwortungsbereich der Wirtschaft? Das sind keine leichten Fragen, und sie lassen sich auch nicht von heute auf morgen beantworten. Doch diese Diskussionen müssen wir führen, weil uns die neue Unsicherheit dazu zwingt. Noch haben wir die Möglichkeit, den Wandel zu gestalten. Denn die Karten werden neu gemischt: Arbeitskräfte werden nach Deutschland einwandern, Arbeitsanforderungen verändern sich oder verschwinden ganz, die Bedeutung von Arbeit für das eigene Leben kommt auf den Prüfstand.

Auch die Familie der Zukunft wird in ihrer Berufswahl, -planung und -gestaltung sehr viel flexibler sein müssen als heute. Dies ist in zweifacher Hinsicht eine Herausforderung. Zum einen gilt es, räumlich und zeitlich das Zusammenleben besser zu koordinieren, allein schon deshalb, weil die Familienmitglieder immer seltener an einem Ort wohnen und arbeiten werden. Gleichzeitig schafft dieses Auseinanderreißen eine Sehnsucht nach Heimat, nach der »Herde«, nach dem gefühlten Ursprung seiner selbst. Das kündigt sich bereits an. Der Normalfall ist schon lange nicht mehr die Drei-Generationen-Familie auf dem Dorf, sondern der entwurzelte, alleinlebende Großstadtmensch. So lebten 2011 ca. 16 Millionen Menschen allein, in Großstädten über 500 000 Einwohnern sind das 29 Prozent der Bevölkerung (aller Altersstufen). In Gemeinden unter 5000 Einwohnern stellen Alleinlebende dagegen nur 14 Prozent.42 Diese Zahlen umfassen nicht nur »Singles« im herkömmlichen Sinn, sondern auch Menschen, die sehr wohl einen Partner haben, der jedoch (aus welchen Gründen auch immer) räumlich getrennt lebt. Vor allem der Trend in den Großstädten dürfte sich weiter verstärken:

Ist der Mensch der Zukunft ein Großstadt-Single?

So gehen Zukunftsforscher davon aus, dass die Weltbevölkerung sich noch mehr als heute in den Städten ballen wird. Nach deren Meinung werden 2050 mehr als zwei Drittel aller Menschen in Städten wohnen. Oder wie es die ZEIT formulierte: »Die Menschheit hat sich entschieden: gegen das Leben auf dem Land und für das in der City.«43

Das alles bedeutet eine größere Dynamik, auch innerhalb einer Familie: Arbeits- und Wohnort driften auseinander, das Zusammenleben einer Familie muss teilweise neu definiert werden. Auf diese Art dringt die neue Unsicherheit auch in die eigenen vier Wände vor, bestimmt Lebens- und Karriereplanung, finanzielle Vorsorge und wichtige Entscheidungen. Damit zurechtzukommen, ist eine der großen Herausforderungen der Dritten Transformation.

Die neuen Kranken: Stress, Burnout und Co.

Was lässt uns in Stress geraten?

Wirft man einen Blick in die Presse der letzten Jahre, in Fachpublikationen, Gesundheitsforen, Blogs und Seminarkataloge zur betrieblichen Weiterbildung, so scheint das Phänomen Stress eines der drängendsten Probleme der modernen Arbeitsgesellschaft zu sein. Der »Stressreport 2012« der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAA) kommt zu dem Ergebnis, dass von 20 000 Befragten 43 Prozent eine Zunahme der Stressbelastung beklagen. Diese Zunahme sagt freilich nichts über die absolute Höhe der individuellen Stressbelastung aus, doch immerhin 19 Prozent der Studienteilnehmer fühlen sich permanent quantitativ, d. h. von der Arbeitsmenge her überfordert (nur 5 Prozent fühlen sich qualitativ, also fachlich überfordert).44 Auch zum ständigen Zeit- und Termindruck als eine der wichtigsten Stressquellen stellt das BAA fest: »Arbeiten unter Termin- und Leistungsdruck gehört zur zentralen Belastung in der heutigen Arbeitswelt. […] Von den befragten Beschäftigten geben ca. 52 Prozent an, häufig unter ›starkem Termin- oder Leistungsdruck‹ arbeiten zu müssen. Besonders der Anteil der Befragten, der sich dadurch belastet fühlt, hat in den letzten Jahren zugenommen.«45

Woher kommt diese massive Stresszunahme? Die Ursache allein in einer sensiblen Seele zu suchen, greift augenscheinlich zu kurz. Vielmehr wirken hier Rahmenbedingungen, die über die letzten Jahre in unserer Arbeitswelt immer einflussreicher wurden:

Kontrollverlust im Zusammenhang mit einer konkreten Aufgabe: Immer mehr Aufgaben erfordern beispielsweise Computerkenntnisse, die weit über die Fähigkeiten älterer Arbeitnehmer hinausgehen. Außerdem trägt die zunehmende Spezialisierung und Aufteilung von Tätigkeiten zu immer größerer Komplexität bei. Der menschliche Geist kann jedoch nur ein begrenztes Maß an Komplexität handhaben. Dieses Problem kennt man aus der Entscheidungsforschung: Ab einer gewissen Komplexität fühlen wir uns überfordert, entscheiden eher »aus dem Bauch heraus« und verlassen die Pfade rationaler Überlegung.

Kontrollverlust im Hinblick auf die allgemeine berufliche Entwicklung: Der Arbeitsmarkt wird zusehends vielfältiger. Es gibt nicht mehr nur unbefristete Arbeitsverhältnisse, sondern auch Leiharbeit, immer mehr Solo-Selbstständige, Teilzeitkräfte etc. Sogar Werkverträge werden in jüngster Zeit wieder aus der Kiste der möglichen Arbeitsverhältnisse geholt. Diese Entwicklungen gehen alle zulasten der Beschäftigten; sie müssen trotz eines Arbeitsplatzes immer mehr auf Sicherheit und Planbarkeit des beruflichen Werdegangs verzichten. Dies schürt natürlich Ängste, welche die Medien wiederum sensibel aufnehmen und publikumswirksam verstärken.

 

Arbeitsverdichtung: Die mantraartige Wiederholung des Effizienz-Dogmas führt dazu, dass die Leistung des Beschäftigten immer und überall gemessen bzw. »gebenchmarked« wird. Pausen sind verpönt, die »fungible [austauschbare, A. d. R.] Ressource« Mensch soll immer und überall funktionieren. Dies führt beim Einzelnen nicht selten zu vorauseilendem Gehorsam: Irgendwann passen Pausen und Erholung nicht mehr zum Selbstkonzept eines erfolgreichen, leistungsbereiten Menschen. An dieser Stelle haben Wirtschaft und Gesellschaft, indem sie den Einzelnen dergestalt indoktriniert und manipuliert haben, tatsächlich »ganze Arbeit geleistet«.

Arbeitstrichter: Wir haben nicht nur Arbeitsmethoden perfektioniert, sondern auch die ständige Zunahme von Arbeit und Aufgaben. Sobald wir eine Aufgabe erledigt haben, rutscht wie in einem Trichter die nächste Aufgabe nach, sodass wir das Gefühl haben, nie fertig zu werden. Wie ein klassisches »Perpetuum mobile«, also eine Maschine, die sich selbst antreibt, sorgen wir selbst ständig für unseren Arbeitsdruck, können nachts nicht mehr schlafen, weil abends wieder so viel liegengeblieben ist. Aber morgen wird es ja auch nicht besser!

Belohnungscharakter: Stress wird möglicherweise als Trophäe verstanden, als Preis, den man für gesellschaftlichen Erfolg und berufliche Karriere bezahlen muss. In einer Welt, in der sich ein Mehr an Geld und ein Weniger an Zeit als gültige Erfolgsnorm festgeschrieben hat, ist es leicht, Stress für sich und andere als positive Auszeichnung für die eigenen Bemühungen umzudeuten. Im Extremfall verleiht sich der Betroffene, der zum Belohnungscharakter neigt, die »Stress- und Burnout-Medaille« und deutet so sein Leiden zum Heldentum der Arbeitswelt um.

Soziale Selbstauflösung: Der Mensch definiert sich unter anderem durch die sozialen Rollen, die er einnimmt. Erst im Abgleich dieser Rollen (Projektleiter, Mutter, Vater, Fußballspieler im Verein etc.) konstruieren wir unsere Identität. Doch weil heutzutage die arbeitsame Rolle so dominant ist, leiden die anderen möglichen sozialen Rollen und verkümmern. Daher setzt uns eine Gefährdung der einzig verbliebenen wirksamen sozialen Rolle (durch Verlust von Job, Status, Geld etc.) extrem unter Druck. Dass diese Konstruktion wie ein Kartenhaus zusammenfallen kann, spüren manche von uns instinktiv und versuchen mit einer neuen materiellen oder spirituellen Sinnsuche gegenzusteuern.

Organisationelle Fehlentwicklungen: Hier sei beispielsweise an die Einführung von Matrix-Strukturen in Konzernen gedacht, die die Gefahr in sich bergen, mit Überkomplexität und Kompetenzgerangel dem Mitarbeiter jede Orientierung zu nehmen und die Organisation zu lähmen. Bis keiner mehr weiß, »was wer an wen berichten soll«. Auch die manchmal wenig durchdachte Wegrationalisierung von Führungsschichten gehört in diese Kategorie. Denn diese manchmal als »Lehmschicht« geschmähten Führungskräfte sollten ursprünglich ein wertvolles Scharnier bilden, eine Art Transmissionsriemen zwischen der strategischen Ebene und der operativen Umsetzung an der Basis.

Überkommunikation: Während es früher hieß, der Mensch organisiert seinen Job, gilt heute: Der Job organisiert den Menschen. Früher gab es im typischen Arbeitsalltag Telefon, Faxgerät, Post. Heute gibt es: Smartphones, iPads, geteilte Meeting-Kalender, flexible Vertrauensarbeitszeit. Der Mensch ertrinkt im Datenmüll und einer flächendeckenden Informationsflut. Der eigentliche Sinn von Kommunikation, nämlich Verständigung durch gemeinsame Zeichen und die Fähigkeit, Wichtiges herauszufiltern, ist dadurch in Teilen der Unternehmenswelt verlorengegangen. Denn Kommunikation ist zumindest im Wirtschaftsbereich eben kein Selbstzweck, sondern zweckgebunden. Nicht das Medium ist die Botschaft (um mit Marshall McLuhan zu sprechen), sondern die Botschaft ist nun mal die Botschaft.

Diese Aufzählung zeigt einige Entwicklungen der letzten Jahre. Nicht alles ist per se schlecht. So haben gerade kommunikative Entwicklungen oder auch Experimente in der Organisation grundsätzlich das Zeug, die Situation zu verbessern und Menschen die Arbeit leichter zu machen. Doch was machen die oben beschriebenen Dynamiken momentan mit dem arbeitenden Menschen? Fühlen sie sich tatsächlich freier, unabhängiger, glücklicher? Oder werden sie nicht vielmehr von der neuen Freiheit gestresst oder, was schwerer wiegt, genötigt, zusätzliche Energie aufzubringen, um zu dokumentieren und abzugleichen, Rundmails zur Kenntnis zu nehmen?

Die Sache wird auch dadurch nicht einfacher, dass Stresserleben etwas Subjektives ist. Was für den einen unüberwindlich scheint, ist für den anderen entspannende Sonntagnachmittagsroutine. Einem Mathematikprofessor sollte es leichter fallen, ein Referat über Einsteins Relativitätstheorie zu halten, als einem Verkäufer. Und einem Verkäufer sollte es leichter fallen, ein kompetentes und einfühlendes Verkaufsgespräch zu leiten, als einem Mathematikprofessor. So hat jeder sein Gebiet, in dem er geübt ist und in welchem er oder sie »Eustress«, also guten anregenden Stress erlebt. Wird man dagegen in ein Arbeitsgebiet versetzt, von dem man inhaltlich keine Ahnung hat, werden psychologische und physiologische Alarmsysteme aktiviert. Die Herausforderung kippt um in eine Überforderung, die mit Besorgnis oder Angst gekoppelt ist.

Stress regt auf, Eustress regt uns an

Stress als Reaktion auf Umweltreize ist ein uralter Mechanismus der Natur. Er war zunächst als Alarmanlage gegenüber lebensbedrohlichen Gefahren gedacht: Raubtiere, giftige Nahrung, Kampf, Naturgewalten. Nun haben wir durch zivilisatorische Fortschritte physische, tatsächlich lebensbedrohende Gefahren wie den Säbelzahntiger gebannt. Und unser Verstand weiß das auch. Unser neurophysiologisches System jedoch nicht. Für unser Kleinhirn durchstreifen wir immer noch die Savanne, mit einem Lendenschurz bekleidet. Das bedeutet: Wir reagieren auf Stress mit einer heftigen körperlichen Überschussreaktion und setzen mehr körperliche Alarmstoffe ein, als wir brauchen. Das Ergebnis: Schwitzen, Herzrasen, trockener Mund. Blut wird aus dem Gehirn abgezogen und in Muskeln und lebenswichtige Organe gepumpt. Flieh oder kämpfe.

Beim Eustress, dem guten Stress, werden wir nur punktuell in diesen Alarmzustand versetzt. Er ist eher leicht und anregend. Und bald kommen wir davon wieder runter. Der Eustress kommt und geht also, ohne dass wir bemerken, dass wir trotzdem »gerade Stress hatten« – physiologisch jedenfalls. Wir haben also oft Stress, selbst wenn wir das nicht mitkriegen, und dieser Stress ist sogar noch gut für uns. Er hält unseren Organismus auf Trab, regt uns an und erhöht unsere Leistungsfähigkeit. Doch im normalen Sprachgebrauch hat sich der Disstress – der negative Stress – als »Stress« etabliert. Und er ist es ja, der uns im Alltag zu schaffen macht – im Extremfall bis zum Burnout.

Am wohlsten fühlen sich Menschen also, wenn sie von Zeit zu Zeit in Eustress kommen, der sie herausfordert und an dem sie wachsen können. Disstress dagegen ist nicht nur wenig produktiv, sondern wirkt auf lange Sicht selbstzerstörerisch, weil Stresshormone langfristig die Immunabwehr absenken und uns anfällig machen erst für leichte Beschwerden und schließlich für schwere Krankheiten. Wann wir uns nun gestresst fühlen, ist neben bestimmten äußeren Faktoren auch von ganz persönlichen Dingen abhängig:

Frühere Referenz-Situationen: Habe ich so etwas schon einmal erlebt? Welche Strategie hat sich damals als erfolgreich erwiesen – oder nicht?

Genetische Prägung: Welche neuronalen Netze sind bei mir besonders ausgeprägt: die für Flucht, Angriff oder Schockstarre? Dementsprechend schnell feuern auch die dafür zuständigen Botenstoffe.

Training: Beispielsweise in Risikoberufen wie Polizei, Feuerwehr oder Personenschutz werden Reaktionen auf plötzliche Gefahrensituation bzw. »Stress«-Situationen so lange geübt, bis sie »in Fleisch und Blut übergegangen« und damit automatisiert sind. So können sie schnell und instinktiv ablaufen.

Ausmaß der Steuerbarkeit: Habe ich Zeit, die Situation intellektuell einzuschätzen? (Das Strafrecht kennt zum Beispiel die Tat »im Affekt«, bei der die Steuerbarkeit und damit die Schuldfähigkeit des Täters eingeschränkt sein kann. Der Volksmund sagt dazu: »Bei ihm sind in dem Moment die Sicherungen durchgebrannt.«)

Stresserleben wirkt wie ein Katalysator, wie ein Verstärker für unser geistiges Wohlbefinden, im guten wie im schlechten Sinne. Fühlen wir uns ohnehin belastet, verstärkt Stress diese Reaktion. Stress hat hier eine Ampelfunktion: Achtung Rot, nicht weitergehen! Wir können diese Ampel einige Zeit ignorieren, doch nicht permanent. Irgendwann wird der Organismus geschädigt; zahlreiche geistige und körperliche Leiden sind die Folgen: Schlaflosigkeit, Mattigkeit, Unkonzentriertheit, Magenschmerzen, Kopfschmerzen, Tinnitus etc.

Natürlich ist Stress bei der Ausbildung von Krankheiten wie Burnout nur ein Puzzleteil, aber ein sehr wichtiges. Er wirkt wie ein Brandbeschleuniger – bis das Haus in Flammen steht. Und weil die Dritte Transformation vor allem in einer digitalen bzw. virtuellen Vernetzung der Menschen besteht, belastet gerade sie unsere geistigen Kapazitäten: komplexes Denken, Planungsfähigkeit, den Versuch des Multitaskings, Zeitmanagement, Konzentration, Regeneration. Weil uns diese geistigen Anstrengungen (noch) überfordern, schießen seelische Leiden wie Pilze aus dem Boden:

Nach dem Stressreport Deutschland 2012 können 27 Prozent der Arbeitnehmer nachts schlecht schlafen. 47 Prozent leiden unter Rückenschmerzen und 35 Prozent beklagen stressbedingte Kopfschmerzen.46

Eine Studie der BKK enthüllt, dass von 2004 bis 2011 die Krankheitstage aufgrund von Burnout um das 18-fache zugelegt haben. Seien es 2004 noch rund 6 Krankheitstage pro 1000 Versicherte gewesen, sei diese Zahl bis 2011 auf 110 Krankheitstage pro 1000 Versicherte hochgeschnellt.47

Zum selben Ergebnis kommt die AOK. Dort sind die Krankheitstage wegen Burnout pro 1000 Versicherte von 8 um das 11-fache auf 94 Tage explodiert.48

Auch Depressionen sind auf dem Vormarsch. So haben die Frühverrentungen aufgrund von Depression von 1998 bis 2009 um 124 Prozent zugenommen.49

Es wäre zu einfach, diese Zahlen unkritisch als reine Zunahme psychischer Leiden zu werten. Denn hinzukommen noch gewisse begleitende Faktoren: So hat sicherlich die Bereitschaft des Einzelnen zugenommen, mit seinem Leiden aus dem Dunkel herauszutreten und sich Hilfe zu suchen. Das betrifft das Thema Burnout, aber auch das sensiblere Gebiet der depressiven Störungen. Die Deutsche Depressionshilfe bemerkt: »Hinter der Zunahme in den Statistiken dürfte jedoch eher die sehr wünschenswerte Entwicklung stehen, dass sich mehr Erkrankte professionelle Hilfe holen, Ärzte Depressionen besser erkennen und behandeln, und, vermutlich am wichtigsten, Depressionen auch Depressionen genannt und nicht hinter weniger negativ besetzten Ausweichdiagnosen wie chronischer Rückenschmerz, Tinnitus, Fibromyalgie, Kopfschmerz, Chronic Fatigue etc. versteckt werden.«50

Was Stresserleben, psychische Leiden wie Burnout oder Depression und andere verbindet, ist das Gehirn als zentrales »Leidensorgan«. In einer Welt, in der Muskelkraft zur Erzeugung von wirtschaftlicher Wertschöpfung immer unwichtiger und Gehirnaktivität in Form von Kommunikation, Kreativität, Planung und Koordination immer wichtiger wird, ist es nur natürlich, dass unser Gehirn irgendwann an seine Verarbeitungsgrenzen stößt. Es muss sich neuen Aufgaben stellen, die seiner evolutionären Konstruktion zuwiderlaufen bzw. sehr anstrengend sind.

 

Kommunikation, Kreativität, Planung und Koordination werden immer wichtiger

Bei dem Versuch, diese neuen Aufgaben zu bewältigen, spielt Multitasking eine herausgehobene, wenn auch fatale Rolle. Man kann die wissenschaftlichen Ergebnisse in dieser Frage eindeutig zusammenfassen: Es funktioniert nicht, senkt die Produktivität des Einzelnen und beeinträchtigt sein Wohlbefinden. So »zeigt sich auf der Ebene der neurophysiologischen Verarbeitung im Gehirn, dass zwei aufmerksamkeitsintensive Prozesse nicht zeitgleich ablaufen können. […] Das Gehirn besitzt nicht die Kapazität, während der ablaufenden Fehlerverarbeitung einen weiteren aufmerksamkeitsintensiven Prozess auszuführen.« Als Schlussfolgerung stelle sich klar heraus, »dass die simultane Ausführung aufmerksamkeitsintensiver Prozesse auf neurophysiologischer Ebene nicht möglich ist. […] Eine adäquate Gestaltung der Arbeitsumgebung, die auf eine Vermeidung von Multitasking-Anforderungen orientiert ist, hat damit oberste Priorität.«51

Auch die Konzentrationsfähigkeit des Menschen leidet unter den modernen Arbeitsbedingungen. Von allem gibt es zu viel: zu viel Kommunikation, zu viele Kontakte, zu viele Aufgaben. Nur von einem gibt es zu wenig: Zeit. Die vier Punkte (Kommunikation, Kontakte, Aufgaben, Zeiteinteilung) sind im Übrigen die zentralen Schaltstellen eines erfolgreichen Selbstmanagements, der Fähigkeit, dem stets präsenten Stress und Druck standzuhalten. Schon die französische Wortwurzel »concentrer« (»in einem Mittelpunkt vereinigen«) steht im Gegensatz zur Situation der modernen Arbeitswelt: Wir wählen nicht mehr einen Mittelpunkt aus, auf den wir zusteuern. Vielmehr versuchen wir, gleichzeitig mehrere »Mittelpunkte« zu berücksichtigen. Das muss scheitern. Erst gelungene Konzentration erlaubt Wahlfreiheit. Und diese wiederum ermöglicht bewusstes Ab- und Verarbeiten. Nur wenn wir unser Handeln steuern können, erleben wir Sinnhaftigkeit und Kohärenz.

Burnout indessen ist eine klassische »Transformationskrankheit« und in ihrem aktuellen epidemischen Ausmaß nur mit der Dritten Transformation zu erklären. Der Begriff »Burnout« wurde 1974 vom deutschstämmigen Psychoanalytiker Herbert Freudenberger geprägt, zuerst in den USA publiziert und ist mit der Zeit in unseren allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Dass sich die psychologische Forschung des Themas annehmen und es als ihre ureigene Domäne betrachten würde, war ein logischer Schluss.

Burnout wird seit der Jahrtausendwende zum Massenphänomen

Freudenberger hatte zunächst eine kluge Beobachtung gemacht, indem er das Phänomen Burnout zu greifen suchte. Doch er konnte das Gesamtbild nicht vollenden, da die Dritte Transformation mit all ihren Begleiterscheinungen noch nicht eingetreten war. Erst seit Beginn des neuen Jahrtausends erkennen wir, dass die Fälle von individuellem Burnout in eine Massenkrankheit übergehen und epidemische Ausmaße annehmen.

Nun hat man zwei Möglichkeiten: Entweder man legt das Konzept Burnout ad acta: Freudenberger hat sich geirrt, es gibt keinen Burnout. Burnout ist ein Platzhalter für andere Krankheiten, die nur nicht genau genug diagnostiziert wurden: Depression, individualisierte Stressreaktion, generalisierte Angststörung etc. Oder man gibt das Konzept von Burnout als rein individuelles Syndrom auf und erweitert es um eine soziologische Komponente. Das Ergebnis ist die Idee des »strukturellen Burnout«: eine Kombination aus persönlichen Faktoren, Umweltfaktoren und individueller Stressdynamik (Resilienz), die man nur in diesem Zusammenhang betrachten kann. Im Moment erleben wir genau diese Bewegung: Der individuelle Burnout als Betrachtung von Einzelfällen geht in eine Massenbewegung, den strukturellen Burnout über. Warum passiert das gerade jetzt? Aktuell erleben wir, was eine potenzielle massenhafte Burnout-Belastung betrifft, den »perfekten Sturm«:

Durch die Dritte Transformation verstärken sich die belastenden Umweltfaktoren, vor allem im Arbeitsleben (Arbeitsverdichtung, Zeit- und Termindruck, unsichere Arbeitsverhältnisse, massive Kommunikationszunahme). Auf der einen Seite bieten sich uns dadurch enorme technische Möglichkeiten, auf der anderen Seite können wir noch nicht adäquat mit ihnen umgehen.

In einem größeren gesellschaftlichen Kontext erleben wir eine hochdynamische, krisengeschüttelte Welt: Bankenkrise und Eurokrise spielen darin eine Rolle, aber auch die – gefühlte – Bedrohung durch den Terror oder die Unruhen in vielen Teilen der Welt. Wir werden täglich mit Schreckensmeldungen und pessimistischen Prognosen in einer Menge konfrontiert, bei der unsere psychischen Schutzmechanismen irgendwann kapitulieren. Die Folge ist nicht selten eine negativ gefärbte Weltsicht und ein sorgenvolles Gemüt.

Die Schnelligkeit wirtschaftlicher und technologischer Veränderung überfordert uns als Gesellschaft und verstärkt in der Summe die Anfälligkeit für seelische Leiden. Beispielhaft für diese technologischen Quantensprünge ist das »Moore’sche Gesetz«: Der Mitgründer der Firma Intel, Gordon Moore, proklamierte bereits 1965, dass sich die Leistungsfähigkeit integrierter Schaltkreise ca. alle 18 Monate verdoppeln werde. Dieses Gesetz ist heute noch gültig und soll das auch noch bis zum Jahre 2029 bleiben.52

Leistung und Erfolg scheinen für viele Menschen die bestimmenden Werte im Leben zu sein. Und das klassische Feld zur Verwirklichung dieser Werte ist das Arbeitsleben. Dort verbringen Menschen einen Großteil ihrer Zeit und investieren ihre Energie. Das ist grundsätzlich in Ordnung. Bedenklich wird es, wenn individueller Leistungsanspruch und Erfolgsstreben übermächtig werden und andere Ziele im Leben verdrängen. Dann kann die Selbstwert-Falle zuschnappen: Hat man einmal Leistung und Erfolg als ausschließliche Quelle des Selbstwerts für sich entdeckt, wird es schwer, darauf zu verzichten. Man ordnet sein Leben diesen Werten unter, da man ansonsten Gefahr läuft, sein Selbstbewusstsein zu verlieren.

Interessanterweise gab es lange vor der Definition von Freudenberger eine Diskussion über »Burnout«. Der amerikanische Neurologe George Miller Beard veröffentlichte 1869 in New York einen Aufsatz zu einem Krankheitsbild, das er »Neurasthenie« nannte – eine »nervöse Überreizung«, die vor allem geistig anspruchsvolle Berufe und die Oberschicht betraf und die starke Ähnlichkeiten mit heutigen Burnout-Symptomen hatte: Kraftlosigkeit, Appetitmangel, Schlafstörungen, Kopf und Gliederschmerzen etc. Neurasthenie ist übrigens als »Neurotische Störung« unter der Kennziffer F48.0 immer noch in der International Classification of Diseases (ICD) enthalten: »Im Erscheinungsbild zeigen sich beträchtliche kulturelle Unterschiede.

Burnout in der Definition des ICD-10, dem international gültigen Diagnoseschlüssel

Zwei Hauptformen überschneiden sich beträchtlich. Bei einer Form ist das Hauptcharakteristikum die Klage über vermehrte Müdigkeit nach geistigen Anstrengungen, häufig verbunden mit abnehmender Arbeitsleistung oder Effektivität bei der Bewältigung täglicher Aufgaben. Die geistige Ermüdbarkeit wird typischerweise als unangenehmes Eindringen ablenkender Assoziationen oder Erinnerungen beschrieben, als Konzentrationsschwäche und allgemein ineffektives Denken. Bei der anderen Form liegt das Schwergewicht auf Gefühlen körperlicher Schwäche und Erschöpfung nach nur geringer Anstrengung, begleitet von muskulären und anderen Schmerzen und der Unfähigkeit, sich zu entspannen. Bei beiden Formen finden sich eine ganze Reihe von anderen unangenehmen körperlichen Empfindungen wie Schwindelgefühl, Spannungskopfschmerz und allgemeine Unsicherheit. Sorge über abnehmendes geistiges und körperliches Wohlbefinden, Reizbarkeit, Freudlosigkeit, Depression und Angst sind häufig. Der Schlaf ist oft in der ersten und mittleren Phase gestört, es kann aber auch Hypersomnie im Vordergrund stehen.«53

Das hat wahrscheinlich historische Gründe; außerhalb Chinas und Japans wird der Begriff praktisch nicht mehr verwendet. Der Begriff »Burnout« hingegen findet sich lediglich fast am Ende des Verzeichnisses, in der Kategorie Z73 (»Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung«). Burnout ist somit eine sogenannte »Ausschlussdiagnose«. Diese Diagnosen werden bevorzugt verwendet, wenn in den Augen des diagnostizierenden Arztes keine andere Diagnose greift. Auch dieser Umstand macht deutlich, dass eine rein psychologisch-psychiatrische Betrachtung von Burnout zu kurz greift. Erst eine Erweiterung des Konzepts um seine soziologische Facette erschließt das ganze Bild.

Bis zu Beards Tod im Jahr 1883 legte die Neurasthenie als medizinische Diagnose eine erstaunliche Karriere hin. Nachdem Beard das Entstehen der Neurasthenie mit der beginnenden Industrialisierung inklusive Presse, Telegrafentechnik und der aufkeimenden Frauenbewegung in Zusammenhang gebracht hatte, galt es in bestimmten Kreisen fast als schick, an Neurasthenie zu leiden. Zeigte man doch dadurch, dass man sich bewusst an Industrialisierung und Modernisierung beteiligte (sonst würde man ja nicht darunter leiden): »Beard saw neurasthenia as created by the hectic, fast-paced life in American cities – he even called it ›American nervousness‹. The nation’s leaders in business, government, and the arts were made ill by the stress and strain of modern life. The only cure was withdrawal from the pressures of urban life, rest, and a simpler, healthy lifestyle. […] Also, the condition gradually spread to more and more groups of society, not merely the elite. Neurasthenia was almost a badge of social status. Further, anxious, and depressed patients were reassured that their symptoms were caused by a physical disease (exhausted nerves) and not by psychological weakness.«54

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