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Z serii: Dein Leben
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Was bedeutet die massenhafte digitale Vernetzung und die rasant gestiegene Kommunikation eigentlich für die Qualität von Information? Subjektiv kann durch die massenhafte Kommunikation das Gefühl entstehen, die Qualität von Information nehme ab. Anders formuliert: Man kann sich nicht nur über Philosophie unterhalten. Das RTL-Dschungelcamp braucht auch seinen Platz. Kommunikation im Alltag ist selbstverständlich dadurch gekennzeichnet, dass viele Informationen weder wahr noch gehaltvoll oder notwendig sind. Trotzdem sollte man sein eigenes Kommunikationsverhalten daraufhin prüfen, es durch verschiedene »Siebe« rinnen lassen, bevor man damit seine Umwelt beglückt. Das Modell der »drei Siebe« wird – fälschlicherweise – dem griechischen Philosophen Sokrates zugeschrieben. Obwohl es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht von ihm stammt, macht das Modell ausschließlich unter dem Titel »Die drei Siebe des Sokrates« die Runde: Durch die drei Siebe (Fragen, die man sich selbst stellt) sollte ein Gedanke erst hindurchfallen, bevor man ihn ausspricht. Ein lohnenswerter Impuls – egal, aus welcher Quelle er nun stammt:

Das erste Sieb: Ist es wahr? Grundsätzlich darf man nur wahre Dinge sagen. Klingt hart, oder? Psychologen haben festgestellt, dass Menschen Dutzende Male am Tag lügen. Oft sind das keine großen Lügen. Manchmal lügt man aus Höflichkeit, aus Takt. Vielleicht hat die Lüge sogar ihre Berechtigung. Man will den anderen nicht verletzen. Aber es gibt auch niedere Motive: den eigenen Vorteil, Intrigen, Hass. Die Alltäglichkeit der Lüge hat sich sogar im Sprachgebrauch festgebrannt. Politiker bezichtigen sich gegenseitig nicht der »Lüge«, sondern der »Unwahrheit«. Folgt man der Regel des Modells, darf man nie lügen. Unwahrscheinlich schwer, doch es gibt ja noch die beiden anderen Siebe. Will sagen: Bevor ich lüge, habe ich nicht nur die Option, die manchmal schwere Wahrheit zu sagen, sondern – überhaupt nichts.

Das zweite Sieb: Hat es Güte? Wir sind über das erste Sieb hinaus. Das, was wir sagen wollen, stimmt. Jedenfalls in unserer Weltsicht. Wirkt es sich aber auch positiv aus, wenn ich es sage? Ist es konstruktiv, im besten Sinne gehaltvoll? Ist es von Respekt und Liebe dem anderen gegenüber getragen? Oder dient meine Aussage nur dazu, mich auf Kosten meines Gesprächspartners besser zu fühlen, ihn zu erniedrigen, während ich mich erhöhe? Das zweite Sieb fordert, meine Haltung gegenüber anderen Menschen zu erforschen und ehrlich zu mir selbst zu sein. Wenn ich mit meinen Aussagen Zwietracht säe, ist es nach dem Modell besser, zu schweigen – auch wenn sie wahr sind.

Das dritte Sieb: Ist es notwendig? Hier bedeutet »notwendig« buchstäblich »die Not wenden«. Ist meine Aussage sinnvoll für eine Verbesserung der Lage? Hilft sie dem anderen weiter? Schafft sie eine tragfähigere, positivere Beziehung zwischen dem anderen und mir? Man beachte, dass das, was ich sagen will, bereits durch das Sieb der Güte gefallen ist. Einen kritischen Punkt haben Sie bereits gemeistert. Jetzt kommt es auf Ihre Beurteilung an. Auch wenn ich jemanden respektiere, ja liebe, und ich ihm auch etwas Wahres sagen will: Kann er das im Moment brauchen? Oder stülpe ich ihm vielleicht meine Weltsicht über? Dies muss man entscheiden.

Selbstverständlich beschreibt das Modell einen Idealzustand – von dem wir in aller Regel weit entfernt sind. Viele Menschen haben heute das Gefühl, weniger zu sagen, obwohl sie mehr kommunizieren. Auch das ist eine Folge der gefühlt gesunkenen Informationsqualität. Wichtig ist der Gedanke der Informations- und Kommunikationsqualität vor allem im Bereich der Arbeit. Dort reden und verhalten wir uns zielgerichtet. Wir wollen Aufgaben lösen, zusammenarbeiten etc.

Wir müssen fragen: Welche Qualität hat Information?

Auch wenn wir im Privatbereich durchaus »schlechte« oder »gehaltlose« Informationen konsumieren können und daher die Frage nach einer entsprechenden Qualität unnötig oder theoretisch erscheint, spielt Informationsqualität im Berufsleben eine große Rolle.

Die Frage lautet: Kann man Kommunikationsqualität überhaupt messen? Ist Kommunikation nicht zu vielfältig, zu individuell? Eine berechtigte Frage, zu der das Fraunhofer-Institut für Informationsund Datenverarbeitung IITB in Karlsruhe ein interessantes Papier veröffentlicht hat. Unter dem Titel »Messbarkeit der Kommunikationsqualität – Ein neues Paradigma?« entwirft Professor Hartwig Steusloff Kriterien für das Messen von »Qualitätskommunikation«.23 So sind beispielsweise qualitative informationsgebende Mitteilungen Aussagen, »bei denen der jeweilige Sprecher eindeutig kennzeichnet, dass es sich bei seiner Mitteilung um seine individuelle Meinung, seinen Wunsch, seine Gefühle, seine Einstellung etc. handelt. […] Individualisierte informationsgebende Mitteilungen hoher Qualität sollen begründet sein. Der Mitteilende fördert durch Hintergrundinformation das Verstehen seiner Mitteilung, erhöht die Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz seiner Mitteilung und minimiert Missverständnisse auf Grund abweichender Interpretationen durch den / die Zuhörenden. […] Individualisierte informationsgebende Mitteilungen hoher Qualität sollen präzise Zeitangaben, eindeutige Mengenangaben und gegebenenfalls die Angabe von Fremdquellen enthalten.«24 Auch wenn das Papier noch sehr in Theorie und Abstraktion wurzelt, macht es einen Versuch, an Kommunikation objektivierbare Maßstäbe anzulegen. In fünfzehn Jahren wird es vielleicht Textprogramme geben, die E-Mails oder Artikel auf genau diese Art filtern, Informationen zusammenfassen, andere weglassen und so dem Leser entsprechend Zeit sparen.

Wo Steusloff sich der Qualität von Kommunikation widmet, hat der Kommunikationswissenschaftler Rudolf Stöber die sogenannte »Redundanz«, die Überflüssigkeit im Blick.25

Ein Ziel von Kommunikation ist es, Redundanz zu reduzieren. Irgendwann sollen die Kommunikationspartner gleiche Informationen haben, auf dem gleichen Wissensstand sein. Das ist oft genug nicht der Fall, wie man beispielsweise aus der Meeting-Praxis oder aus Projektverläufen weiß. Stöber schreibt dazu: »Redundante Mitteilungen werden […] dysfunktional, wenn sie als Geschwätzigkeit die Kommunikation aufblähen, erschweren und den mit dem Geschwätz Traktierten dazu bewegen, die langweilig werdende Kommunikation ganz abzubrechen. […] Die Redundanz (3. Ordnung) liefert keinen Neuigkeitswert, beseitigt kein Unwissen und stillt keine Neugier; sie ist daher keine Information im kommunikationswissenschaftlichen Sinn.«26

Dennoch hat für Stöber auch die Redundanz ihren – begrenzten – Platz in der Kommunikation: »Redundanzen sind mithin nicht überflüssig, sie erfüllen einen wichtigen Zweck: Aktualisierungen, symbolische Kommunikationen, Rituale, Habitualisierung der Nutzung, Routinen der Mediengestaltung, Erinnerung(en) und vieles andere wäre ohne Redundanz, ohne Wiederholungen zur Überbrückung der Zeit, undenkbar. […] Information und Redundanz bedingen sich wechselseitig und ermöglichen die Kommunikation.«27 Was lernen wir daraus im Hinblick auf die Informationsflut? Ein Mechanismus der professionellen Kommunikation in unserem Arbeitsleben sollte darauf achten, qualitativ hochwertige Informationen zu produzieren – und ebenso hochwertige Informationen an uns heranzulassen.

Kommuniziert man im Job, sollten wir Redundanzen reduzieren, schnell zum Punkt kommen und unser Wissen abgleichen. Denn Informationen sind – wie Zeit – kostbar.

Weg mit dem Überflüssigen – konzentrieren wir uns auf das Wesentliche

Was passiert, wenn wir Dingen wie Redundanz und Qualität in der Kommunikation keine Beachtung schenken? Wir verlieren das Gefühl dafür, was wichtig ist. Und wenn wir nicht mehr entscheiden können, was relevant ist, können wir unser Verhalten nicht steuern. Überforderung ist das Ergebnis. Deswegen ist es wichtig, diese fatale Kettenreaktion schon am Anfang zu unterbrechen. Wir müssen wachsam bleiben, unseren Blick schärfen, damit wir stets die Informationen um uns herum bewerten können.

So gibt es beispielsweise immer noch Menschen, die eine innere Verpflichtung fühlen, eine Zeitung von vorne bis hinten zu lesen. Oder die ein Buch nicht einfach weglegen können, obwohl sie längst das Interesse daran verloren haben. Denn ein Buch »liest man fertig«. Eine solche Haltung ist vielleicht nobel, vom Informationsmanagement her jedoch eine Katastrophe. Das kann man sich vielleicht noch im Urlaub leisten, aber nicht mehr im Arbeitsleben mit seiner Informationsdichte und dem Arbeitstrichter, durch den ständig Anforderungen nachrutschen. Ein guter Informationsmanager ist jemand, der gekonnt auf den Wellen der Informationen surft und von Zeit zu Zeit gewollt in einzelne Wellen hinabtaucht – nachdem er sich bewusst dafür entschieden hat. Diese Wellen werden an ihn durch die unterschiedlichsten Kanäle herangetragen: E-Mails, Telefonate, Dokumente etc. Das Meer der Informationen umgibt uns ständig. Deshalb müssen wir »Wellenbrecher« errichten, damit Information und Kommunikation eine Freude bleibt – und keine Last, unter der man zusammenbricht.

Die neue Unsicherheit: Vielfältige Arbeitsformen und -biografien

Menschen müssen arbeiten. Mit Arbeit verdient man Geld, und mit Geld kann man sich und seine Familie (hoffentlich) ernähren. Egal, ob Einzel- oder Doppelverdiener, Voll- oder Teilzeit: Arbeit ist immer noch die beste, ja einzige Sicherheit gegen Armut.

 

Menschen wollen auch arbeiten. Arbeit gibt ihrem Leben Sinn, Struktur, soziale Kontakte. Viele Menschen erleben Arbeit als strukturierend, man »weiß, wofür man morgens aufsteht«. Im besten Fall ist Arbeit daher bereichernd, eine wichtige Facette im Leben des Einzelnen.

Die Rolle, der Stellenwert der Arbeit für das Leben des Einzelnen war daher so gut wie nie umstritten. Ihre Form hingegen hat sich durch die Jahrhunderte gewandelt. Aus der Leibeigenschaft der mittelalterlichen Bauern und dem selbstständigen Handwerker wurde der Fabrikarbeiter der Industrialisierung. Flankiert von Errungenschaften des modernen Staates, zum Beispiel den Bismarck’schen Sozial- und Rentengesetzen, wandelte sich die Form der Arbeit einmal mehr. Das Heer der Angestellten entstand. Der Deutsche wurde Angestellter der Deutschland AG, dem mächtigen Verbund aus Bosch, Siemens oder SAP, der nach dem Zweiten Weltkrieg seine Netze über das Land auswarf und es während der nächsten 40 Jahre zu einem der wirtschaftlich stärksten Länder der Erde machte.

Während der Jahre von 1950 bis 1990 dominierte in Deutschland genau ein Arbeitsverhältnis: die unbefristete Vollzeitstelle. Egal, ob Öffentlicher Dienst oder Privatwirtschaft: Man wurde eingestellt, oft nach Tarif, ausgehandelt von einer starken Gewerkschaft, und blieb lange, manchmal ein ganzes Arbeitsleben, bei einem einzigen Arbeitgeber.

Diese Dauerhaftigkeit kommt dem menschlichen Sicherheitsdenken selbstverständlich entgegen. Warum etwas ändern, sich bewegen, wenn es auch so funktioniert? Das ist nicht einmal störrische Verbohrtheit, sondern ökonomische Klugheit.

Arbeiten in der Deutschland AG: Vollzeit und ein Leben lang

Doch jetzt ändern sich die Zeiten. Das Standardmodell der unbefristeten Vollzeitstelle ist ein Auslaufmodell, ein Relikt des 20. Jahrhunderts. Globalisierung, dynamische Märkte und überschnelle Kommunikation zwingen den Menschen eine Flexibilität auf, die diese oft nicht wollen und die verständlicherweise Widerstand auslöst. Es wäre Aufgabe der Politik, hier nicht zu mauern und die Illusion der unbefristeten Vollzeitstelle aufrechtzuerhalten, sondern die Bürger auf die neue Wirklichkeit vorzubereiten. Doch das geschieht oftmals nicht. Die »neue Unsicherheit« sollte begleitet sein von einer »neuen Ehrlichkeit«, damit wir uns als Gesellschaft darauf vorbereiten können und bestimmte Dinge offen diskutieren, bevor uns die Dritte Transformation mit ihren neuen Anforderungen vollends überrollt.

Der Blogger Sascha Lobo findet dafür ein drastisches Bild: »Der Angestelltenstaat Deutschland hat sein System so eingerichtet, dass es implodieren würde, wenn es zu viele Selbstständige gäbe. So arbeiten die mit der Arbeit befassten Institutionen realitätsunbeeindruckt daran, dass die großen Strukturen bleiben, wie sie sind. Aber vor der Tür steht die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit ist wie eine wütende Elefantenkuh, man kann sie nur eine begrenzte Zeit ignorieren, dann trampelt sie alles nieder. Die Wirklichkeit ist: Die allgemeine Fixierung auf das Normalarbeitsverhältnis war eine Notlösung des 20. Jahrhunderts. Es ging halt offenbar nicht anders, die meisten haben das irgendwie eingesehen und so getan, als käme das nächtliche Zähneknirschen von irgendetwas anderem als ihrem Job. Aber das Normalarbeitsverhältnis war nur ein Waffenstillstand, bei dem Existenzangstminderung und Karriereversprechen eingetauscht wurden für acht Stunden Lebenszeit am Tag.«28

Lobo plädiert für die Notwendigkeit einer neuen Flexibilität in der Arbeitsgesellschaft, nicht schrankenlos oder neoliberal, sondern mit einer breiten gesellschaftlichen Debatte als Grundlage.

Flexibilität kann auch zu neuen Freiheiten führen – vorausgesetzt, es gibt einen gesellschaftlichen Konsens darüber

So sollte man in seinen Augen ein bedingungsloses Grundeinkommen ebenso diskutieren wie ein flexibles Renteneintrittsalter oder die Vereinbarung von Selbstständigkeit mit Festanstellung. Warum zum Beispiel ist es in heutigen Arbeitsverträgen immer noch üblich, dem Angestellten eine selbstständige Nebentätigkeit faktisch zu verbieten? Dass ein Arbeitgeber die volle Arbeitskraft eines Angestellten fordert, ist normal und sein Recht. Oft würde eine Nebentätigkeit jedoch das eigentliche Betätigungsfeld des Angestellten gar nicht berühren. Und warum sollte beispielsweise ein in Teilzeit Beschäftigter die restliche Arbeitszeit nicht nutzen, um anderweitig Geld zu verdienen oder sich selbst zu verwirklichen?

Dass man auf der anderen Seite Flexibilität als Wert überhöhen und damit Schindluder treiben kann, zeigen die USA. Dort ist der Arbeitsmarkt auf maximale Verfügbarkeit und Flexibilität des Arbeitnehmers ausgerichtet, in seiner schlechten Ausprägung als hire and fire bekannt und berüchtigt. Befürworter dieser Taktik führen manchmal an, in den USA verlöre man zwar schnell seinen Job, würde dafür jedoch auch schneller wieder eingestellt als in anderen Ländern mit einem starreren Arbeitsmarkt. Die nackten Zahlen jedoch stützen diese These eher nicht. So war 2011 ein Arbeitsloser in Deutschland im Schnitt knapp 37 Wochen ohne Beschäftigung29, in den USA dagegen über 41 Wochen (2010: 35 Wochen)30. Auch wenn man bedenkt, dass sich die USA momentan in einer wirtschaftlich angespannten Situation befinden, sollten die Beschäftigten in einer derart deregulierten, flexiblen Arbeitswelt doch deutlich schneller einen neuen Job finden als in Ländern wie Deutschland. Daher sollte diese Statistik auch den Befürwortern der reinen Flexibilitätslehre zu denken geben. Auch wenn uns die Wirklichkeit dynamischer Märkte zu mehr Flexibilisierung zwingen mag, reicht es nicht, einfach den Kündigungsschutz zu lockern oder nur von Arbeitnehmern größere Anpassungsbereitschaft und das Akzeptieren von Unsicherheit zu fordern. Die neue Unsicherheit trifft alle – Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Deswegen sollten auch die Lasten fair verteilt sein.

In den letzten 60 Jahren ist der Welthandel um das 30-fache gestiegen

Auch die Arbeitgeber haben das Ausmaß der tektonischen Plattenverschiebung innerhalb der Dritten Transformation noch nicht erfasst. Die unbefristete Vollzeitstelle war als Phänomen des Wirtschaftswunders – ideal für die eher langsamen, unflexiblen Märkte, die bis Ende der 90er-Jahre das Bild beherrschten. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) hat diese Entwicklung 2012 in einem Papier zur Entwicklung des Welthandels skizziert: »In den letzten 60 Jahren ist der Welthandel enorm gewachsen. Das Volumen globaler Warenexporte ist zwischen 1950 und 2008 real nahezu kontinuierlich um mehr als das 30-fache gestiegen […]. 2009 war im Zuge der globalen Finanzkrise ein Ausnahmejahr, die globalen Exporte sanken um 12 Prozent. 2010 konnte dieser Rückgang dann wieder kompensiert werden.«31

Vor allem die Schwellen- und Entwicklungsländer hätten während der letzten 20 Jahre die Märkte durch ihren Export enorm dynamisiert: »Im Zeitraum 1995 – 2010 erreichten die Entwicklungsländer im Durchschnitt ein jährliches reales BIP-Wachstum von 5,5 Prozent, die Industriestaaten lediglich 2,2 Prozent. Der Anteil der Entwicklungsländer am Welt-BIP hat sich damit fast verdoppelt (von 18 auf 34 Prozent).«32 Auf diese Dynamisierung müssen auch etablierte Industrieländer wie Deutschland reagieren. Das Auf und Ab wirtschaftlicher Entwicklung erfolgt nicht nur potenziell immer extremer, sondern auch schneller. Der Wunsch der Wirtschaft nach einer »atmenden« Arbeitsmarktpolitik ist daher durchaus verständlich. Doch das bislang dominante Modell der unbefristeten Vollzeitstelle einfach aufzugeben und die Regulierung und Gestaltung schlicht unter das Dach maximaler Flexibilität zu stellen in der Hoffnung, »der Markt« werde es schon richten, ist fantasielos, naiv und für das soziale Gefüge in Deutschland gefährlich. Denn »die Märkte« regeln grundsätzlich nichts. Menschen innerhalb der Märkte regeln etwas. Und wir sollten uns schleunigst überlegen, wie wir die sozialen Ängste kanalisieren und in moderne Arbeitsformen überführen. Denn ein Zurück zur guten, alten Zeit gibt es nicht mehr.

In die Fußstapfen der unbefristeten Vollzeitstelle treten ab der Jahrhundertwende allmählich neue Arbeitsformen: Befristungen, Selbstständigkeit, Projektarbeit, Mini-Jobs und Zeitarbeit. Bereits 2007 kommt der Soziologe Ulrich Beck in seinem Buch »Schöne neue Arbeitswelt« zu dem Schluss, dass wir uns, global gesehen, mitten im Sprung von der »ersten Moderne« in die »zweite Moderne« befinden.33 Für Beck ist die erste Moderne gekennzeichnet von Vorhersagbarkeit und Sicherheit innerhalb der politischen, technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts.

Leben in der Zweiten Moderne: So viel Unvorhersehbarkeit war nie

Die zweite Moderne, der fast sein gesamtes Werk gewidmet ist, sei geprägt von immer mehr Risiko und zunehmender Komplexität, die alle Lebensbereiche durchdringe und bis dahin nicht vorhandene Unwägbarkeiten für das Schicksal des Einzelnen mit sich brächte. Beck zeichnet ein relativ düsteres Bild der ökonomischen Entwicklung, das er »Brasilianisierung der Wirtschaft« nennt: mehr Billigjobs, mehr Projektarbeit, weniger Festanstellungen, weniger berechenbare Lebensentwürfe. Um in seinem Risikobegriff zu bleiben: Die Auflösung traditioneller Arbeitsverhältnisse geht immer zulasten des Arbeitnehmers. Das unternehmerische Risiko wird demnach immer mehr vom Unternehmen weg auf die einzelnen Menschen, die »Produktivkräfte« verlagert.

Wohin die Reise geht, zeigt der Gigant IBM mit seinem Projekt »Liquid«: Künftig werden Projekte nicht mehr automatisch intern vergeben, sondern ausgeschrieben, und der einzelne Projektmitarbeiter muss sich auf der Liquid-Plattform darum erst bewerben, so jedenfalls die Idee. Bernd Bienzeisler vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) stellt ganz richtig fest, »dass hier nicht irgendein Unternehmen mal etwas Neues ausprobiert. IBM gilt seit Jahrzehnten als Vorreiter für neue, kontroverse, aber auch revolutionäre Organisationskonzepte, die nicht nur in den Hochglanzbroschüren des Managements stehen, sondern die tatsächlich praktiziert werden.« Bezüglich der Auswirkungen für die Arbeitnehmer sieht Bienzeisler große Probleme, denn »in letzter Konsequenz bedeutet ›Liquid‹ die Aufkündigung des sozialpartnerschaftlichen Modells der Arbeitsorganisation, welches darauf abzielt, Chancen und Risiken halbwegs gleichmäßig zu verteilen. Wenn die Beschäftigten sich jedoch selbst jedes Mal um Projekte aktiv bewerben müssen, ist dies kaum noch im Sinne einer abhängigen Beschäftigung zu verstehen.«34

Ulrich Beck und Bernd Bienzeisler entwerfen das Bild einer ungewissen Zukunft. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Eine größere Flexibilität in der Gestaltung der eigenen Arbeitsleistung kann auch erfüllend sein und Freiheiten schaffen, die den Begriff auch verdienen. Es tut not, sich auch mit diesen positiven Seiten zu beschäftigen. Bislang geschieht das nämlich viel zu wenig, im Gegenteil. So nähren Mainstream-Medien wie der SPIEGEL oder das ZDF nicht selten kritiklos die Angst vor neuen Arbeitsformen wie der Selbstständigkeit. Das habe ich bereits früher an anderer Stelle kommentiert.35

Der Arbeitsmarkt hat sich in den letzten zwei Dekaden stark verändert

Eine solche Haltung spiegelt das Denken der Wirtschaftswunder-Vollzeitstellen-Vollkasko-Mentalität, die wir schnellstens abschütteln sollten.

Nicht um sie durch neoliberale Religion zu ersetzen, sondern um uns tatsächlich darüber Gedanken zu machen, wie das bei uns in Deutschland denn nun aussehen soll mit den neuen Arbeitsverhältnissen. Denn die sind längst Realität:

So explodierte die Zahl der Leiharbeitnehmer von 2000 bis 2010 von 338 000 auf 824 000 – eine Steigerung um fast 244 Prozent!36

Ebenfalls deutlich angestiegen ist die Zahl der Selbstständigen in freien Berufen: von 2002 bis 2012 um 64 Prozent, von 761 000 auf 1 192 000.37

Ende 2012 waren knapp 4,9 Millionen Menschen ausschließlich geringfügig beschäftigt (»Mini-Jobber«). Dieser Wert ist seit einigen Jahren konstant. Im Klartext: Von den 29,4 Millionen abhängig Beschäftigten in Deutschland verdienen fast 17 Prozent maximal 450 Euro im Monat. (Außen vor bleiben hier die 2,7 Millionen Beschäftigten, die einen Minijob zusätzlich zu ihrer Hauptbeschäftigung ausüben).38

 

Insgesamt haben wir es also im Moment mit mindestens 6,9 Millionen Menschen zu tun, die abseits des Modells »unbefristete Vollzeitstelle« ihrer Beschäftigung nachgehen: immerhin über 16 Prozent von aktuell (Dezember 2012) 41,6 Millionen Beschäftigten in Deutschland – Tendenz steigend. Für diese Menschen müssen wir in Wirtschaft und Politik Antworten finden. Denn die unbefristete Vollzeitstelle als Arbeitsmodell wird weiter an Bedeutung verlieren.

In der Folge wird sich das unternehmerische Risiko weiter vom Arbeitgeber auf den Arbeitnehmer verlagern. Besonders krass sieht man das am Phänomen Zeitarbeit, aber auch an kleineren Maßnahmen, zum Beispiel der sogenannten »Ausgliederung«: Eine Firma gründet eine Tochtergesellschaft und überführt eigene Mitarbeiter dann in diese Tochtergesellschaft – zu schlechteren Konditionen. So geschehen beispielsweise bei der Telekom 2007 (50 000 Mitarbeiter) oder 2012 mehrfach in der Print- und Medienbranche. Das kann sinnvoll sein, auch um das Überleben des Unternehmens zu gewährleisten. Doch optimal ist das nicht. Wir müssen den Gesellschaftsvertrag zwischen Unternehmen und Arbeitenden generell neu aushandeln, was die gegenseitige Verantwortung betrifft. Mit der Vielfalt von Arbeitsformen steigt auch die Komplexität der Zusammenarbeit zwischen Mitarbeiter und Unternehmen. Mit all ihren Möglichkeiten und Gefahren.

Zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern spielt auch Gerechtigkeit eine Rolle

Hier benötigen wir sinnvolle Impulse aus der Politik, zum Beispiel eine zeitlich befristete Phase der Leiharbeit. So sollte ein Unternehmen meiner Meinung nach keine »Ketten«-Leihverträge mit einem Arbeitnehmer schließen dürfen. Ein Betrieb, der ein- und denselben Mitarbeiter über mehrere Jahre als Leiharbeiter beschäftigt und nicht übernimmt, überschreitet die Fairness-Grenze hin zur Ausbeutung und verletzt den »Gerechtigkeitsvertrag« zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Darunter leidet nicht zuletzt die Loyalität des Mitarbeiters. Jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin geht mit dem Arbeitgeber einen solchen mentalen Gerechtigkeitsvertrag ein. Er hat bestimmte Vorstellungen davon, was er leisten will und kann und wie er dafür behandelt werden will. Dieser Gerechtigkeitsvertrag kann leicht brüchig werden, wenn Arbeitnehmer das Gefühl haben, der Arbeitgeber verstoße gegen dieses Gerechtigkeitsgebot. Daher ist die Mindestanforderung, dass der Arbeitgeber bei einem subjektiven »Verstoß« (zum Beispiel einer Ausgliederung zu schlechteren Konditionen) die Gründe hierfür darlegt und um Verständnis wirbt. Denn lokale und globale Veränderungen am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft schlagen ja nicht nur auf »die Unternehmen« durch, sondern selbstverständlich auch auf die Beschäftigten. Nur wenn wir alle das (ökonomische) Schicksal des Einzelnen im Blick behalten, können Unternehmer und Politiker verantwortungsvoll entscheiden.

Nichts zeigt das besser als die Immobilienkrise in den USA. Dort ging es plötzlich nicht mehr um abstrakte Hypotheken oder »asset backed securities«, sondern um obdachlose Menschen, die ihr gesamtes Hab und Gut verloren hatten und bis an ihr Lebensende auf Schulden sitzenbleiben werden. Natürlich haben diese Menschen ebenso Verantwortung für ihre Situation zu tragen. Sie haben schließlich die Kreditverträge unterschrieben. Doch es ist bezeichnend, dass in den Banken für eine besonders hoffnungslose Variante des Kredits eine eigene Bezeichnung kursierte: NINJA, »no income, no jobs or asset«. So wurden Kreditnehmer bezeichnet, von denen man von vornherein wusste, dass sie keine Arbeit, kein Einkommen oder sonstiges Vermögen hatten: »Durch die US-Politik, dass jeder US-Bürger doch ein eigenes Häuschen haben möge, wurde von den Banken erwartet, eine entsprechende Kreditversorgung zu gewährleisten. Die Banken ließen sich nicht zweimal bitten und boten 100-Prozent-Finanzierungen für Immobilienkäufe an. Bei schlechter Bonität des Kreditnehmers wurden höhere Zinsen vereinbart, um das Risiko auszugleichen. Auch ging die ganze Branche davon aus, dass die Immobilien später gewinnbringend verkauft werden konnten. Die Ninja-Kredite wurden massenhaft unters Volk gebracht, die Verkäufer sahnten dabei reichlich Provisionen ab und wurden dadurch angestachelt, noch mehr Ninja-Kredite zu vergeben – bis irgendwann die Blase platzte.«39 Dass man diesen Menschen dennoch Kredite gab, ist eindeutig die Verantwortung der Finanzindustrie. Aufgrund der ökonomischen, faktisch gegebenen »neuen Unsicherheit« müssen wir in der Debatte deshalb das tun, woran man normalerweise nicht extra erinnern braucht: Wir müssen in menschlichen Maßen denken, nicht in abstrakten Begriffen. Die Konsequenzen bis hinunter zu den einzelnen arbeitenden Menschen sollten durchdacht werden, ohne sie vorher aus ideologischen oder Bequemlichkeitsgründen auszublenden.

Hartz IV und die (unbeabsichtigten) Folgen: soziale Abwertung

Dass dies nicht immer gelingt, zeigen die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre, etwa die Hartz-IV-Gesetze. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe war vor allem eins: ein psychologischer Fehler. Auch wenn es Menschen schlecht geht, schöpfen sie Motivation aus dem Vergleich mit anderen Menschen, denen es noch schlechter geht: »Ich habe Schnupfen, aber mein Nachbar hat sich das Bein gebrochen. Er ist noch schlimmer dran.« Dieser Abwärtsvergleich, downward comparison genannt, ist vielleicht moralisch fragwürdig, aber eine Tatsache. Nachdem sich nun Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger plötzlich auf einer Stufe wiederfanden, fehlte für Erstere dieser Abwärtsvergleich. Plötzlich waren sie selbst »ganz unten«. Dies ist fatal, weil eine Gruppe sich einerseits nach innen ihrer selbst versichern, sich aber auch nach außen ebenso sichtbar abgrenzen will. Diese Abgrenzung nach unten war nun nicht mehr möglich. Die ursprüngliche Gruppe »Arbeitslose« verschmolz mit der Gruppe »Sozialhilfeempfänger«.

Nun setzte ein Mechanismus ein, der in der Sozialpsychologie »labelling« – Etikettierung – genannt wird: »Okay, wenn alle Welt glaubt, dass ich ganz unten bin (einschließlich mir selbst), dann benehme ich mich auch, als wäre ich ganz unten.« Die Bezeichnung »hartzen« entstand und verankerte dieses Label dauerhaft. Für diejenigen, die trotz aller widrigen Umstände versuchen, aus dieser Gruppe auszubrechen und wieder eine Arbeit zu finden, wird es schwer. Denn die Gesellschaft ihrerseits reagiert mit Vorurteilen auf »Hartz-IVler«, nicht zuletzt befördert durch die Boulevardmedien. So stellt die medienkritische Seite BILDBlog fest: »Gegen Hartz-IV-Empfänger zu hetzen, gehörte bei ›BILD‹ ja schon immer zu den Königsdisziplinen.«40 Und auch der paritätische Wohlfahrtsverband meldete sich zum Thema Hartz IV und BILD zu Wort: »Hier wird ohne jede empirische Grundlage auf unverantwortliche Art und Weise gegen Millionen Menschen gehetzt und ein Bild der schmarotzenden Massen geschürt, das mit der Realität nichts zu tun hat«.41 Die BILD-Zeitung verstärkt durch ihre Kampagnen den Abwärtsvergleich in einer gesellschaftlichen Dimension und sorgt so für eine latente Entsolidarisierung breiter Bevölkerungsschichten gegenüber den ökonomisch Schwächsten. Die neue Unsicherheit wird dadurch unnötig verstärkt.

Wenn die Lebensentwürfe weniger planbar werden, muss die Vermögensplanung flexibel werden

Wenn immer mehr Menschen verunsichert sind und sich auf ihre langfristige ökonomische Versorgung nicht mehr verlassen können, hat das Auswirkungen auf die Lebensplanung insgesamt. Man kennt das aus der Wirtschaft: Praktisch jede Firma unternimmt eine jährliche Budgetierung und versucht, Einnahmen, Kosten, Investition und Gewinn unter einen Hut zu bringen. Was nun für ein Unternehmen die prognostizierten Einnahmen aus Aufträgen etc. sind, das ist für den Normalbürger sein geplantes, vielleicht schon verplantes Einkommen. Und genau wie Unternehmen in schwankenden Märkten oder in Krisen Anpassungen vornehmen müssen, Pläne angleichen oder auch einmal Mitarbeiter entlassen, müssen Menschen ihre Finanz- und Lebensplanung anpassen, wenn sie nicht mehr mit einer festen Arbeitsstelle oder einem festen Einkommen rechnen können. Dass dies immer mehr Menschen betrifft, ist eine Tatsache, mit der wir uns auseinandersetzen sollten. Ich rede weder einer wirtschaftlichen »Vollzeitstellen-Landschaft« das Wort noch einer totalen Flexibilisierung. Wir müssen uns vielmehr als arbeitende Gesellschaft darauf einstellen, dass wir bestimmte Dinge nicht mehr planen können bzw. uns in einem ständigen finanziellen Krisenmanagement befinden (Krise nicht in dem Sinne, dass es uns schlecht geht, sondern im Sinne von ständiger Wachsamkeit und Anpassung).