Sturmgepeitscht

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23

Dana gehörte zu den neuen Gesichtern in der Redaktion. Sie war zu Christians Leuten gestoßen, als Charlotte bereits in Spanien war. Mit roten Wangen nahm sie den Kaffeebecher an, den ihr Christian entgegenstreckte. Offensichtlich war sie genauso durchpustet worden wie er und Charlotte. Jedenfalls war die Kirchentür hinter ihr so laut zugefallen, dass beide hofften, der Sturm wäre schuld daran.

Die junge Frau hatte kupferrote Haare, die ihr bis auf die Schultern fielen. Sie trug Lipgloss passend zur Haarfarbe. Auch die Augen waren auffällig stark geschminkt. Eine enge Hose steckte in kniehohen Stiefeln. Darüber trug Dana einen abgesteppten Mantel. Ein Hauch von Parfüm umwehte die Studentin. Der Geruch gefiel Charlotte.

»Christian, ich habe es ziemlich eilig, das weißt du doch. Ich muss ins Theater!«

Der junge Chefredakteur stellte die beiden Frauen einander vor. Um das Eis zu brechen, fragte Charlotte, was denn im Theater gespielt würde.

Irritiert zog Dana kurz die Augenbrauen zusammen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Völlig egal. Ich mache die Garderobe. Von irgendwas muss man ja leben.«

Die Spitze ging in Christians Richtung. Der verstand den Hinweis und winkte ab.

»Warum bin ich also hier?«, wollte Dana wissen.

Von Christian wusste Charlotte, dass Dana so gut wie allein für eine fast 50-prozentige Steigerung der Klickzahlen des Lauffeuers im vergangenen Monat verantwortlich war, weil sie gleich nach ihrem Einstieg in die Redaktion eine neue Rubrik eingeführt hatte.

Im Prinzip war es eine Unterabteilung des Boulevards. Über den Titel war man sich nicht gleich ganz einig geworden. Sollte er unbelievable oder besser unglaublich heißen? Jedenfalls durchforstete Dana das Internet seitdem nach spektakulären Videoclips, die sie auf Lauffeuer genüsslich kommentierte.

Über einen Link ließ sich das Filmchen dann direkt ansehen. Heraus kamen Beiträge wie: Unglaublich … süß. Unglaublich … gefährlich. Oder: Unglaublich … fies.

Es brauchte nur eine Woche, bis die rapide steigenden Besucherzahlen des Lauffeuers anzeigten, wie gut die neue Rubrik bei den Lesern ankam. Ein entsprechend starker Zuspruch ließ sich in den Netzwerken der sozialen Medien registrieren. Die Artikel zu unglaublich … wurden 100-fach geteilt und mit Daumen nach oben oder wütenden Emojis versehen. Ein Umstand, der sowohl den Werbekunden als auch Christian sehr gut gefiel.

»Jan war ziemlich interessiert an der Sache«, sagte Christian nun. »Immer wieder habe ich gesehen, wie er Dana über die Schulter gesehen und den Kopf geschüttelt hat. Stimmt’s nicht, Dana?«

»Ja, er ist ein schlauer Kopf, der Jan.«

Charlotte wartete automatisch darauf, dass Dana bei einem der Worte stolperte. Doch ihr Deutsch war trotz eines deutlichen slawischen Akzents fehlerlos.

»Besonders ein Artikel hat es ihm angetan. Ich habe ihn unglaublich … gemein genannt.«

»Kann ich den mal sehen?«

Dana stellte den Kaffeebecher auf einem Schreibtisch ab und gab stehend, über die Tastatur gebeugt, ein Passwort in den Computer ein. Während sie im System angemeldet wurde, zog sie den Mantel aus und hängte ihn über die Stuhllehne. Für eine Garderobenfrau war sie ziemlich schick gekleidet.

»Ein Mädchen wird über ein großes Gelände gehetzt«, sagte sie. »Sie hat so gut wie nichts an. Und dann wird von irgendwo mit Farbpatronen auf sie geschossen.«

»Ein Mädchen«, wiederholte Charlotte. »Wie alt?«

»Na, kein richtiges Mädchen mehr. So alt wie ich. Asiatischer Typ. Geschminkt, als trage sie Kriegsbemalung. Männern gefällt so was. Am besten zeige ich es dir. Setz dich.«

Charlotte folgte der Aufforderung, während Dana sich mit rundem Rücken neben ihr auf den Schreibtisch stützte und mit der Computermaus arbeitete. Trotz sehr langer Fingernägel gelang es ihr mühelos, mit der linken Hand über die Eingabetastatur zu tanzen. Wieder fiel Charlotte auf, wie gut diese Frau roch.

Als Dana den richtigen Artikel angeklickt hatte, ließ sie Charlotte zunächst den Text lesen. Darin regte sich Dana über den offen ausgelebten Sexismus des Videos auf und verurteilte diesen mit messerscharfen Worten. Gleichzeitig wusste sie, dass der Leser, durch den Artikel neugierig gemacht, gleich den Link anklicken und den Clip ansehen würde. So funktionierte die neue Rubrik eben. Danas Text war nicht das Ausschlaggebende. Wichtig waren die Filme.

Auch Charlotte folgte dem vorgesehenen Schema. Der Text war kurz und präzise. Sie brauchte nur eine Minute, um ihn zu lesen. Dann klickte sie den Link an. Das Video selbst dauerte rund sechs Minuten. Zwischendurch sagte Charlotte immer wieder »okay« oder »krass«. Danach blickte sie Dana an, die sich einen anderen Schreibtischstuhl herangezogen hatte.

»Und damit hat Jan sich beschäftigt?«

»Ja, genau. Guck dir mal die Klickzahlen des Films an. Der geht richtig ab. Und das hat Jan interessiert. Er wollte herausfinden, wer so was macht. Wie sie auf ihre Ideen kommen. Und dann wollte er wohl auch noch die Moralfrage stellen.«

»Und? Was ist dabei rausgekommen?«

»Keine Ahnung. Der Titel gibt ja nichts her. Bitches in der Mangel.«

Stimmt, dachte Charlotte. Das gibt nichts her. »Wieso überhaupt bitches?«, fragte sie halblaut. »Das ist doch nur eine bitch da, oder.«

Dana grinste. Dann sagte sie: »Ich glaube, er hat sich auch mit deinem Mario über die Sache unterhalten.« Da ihr Blick über die Schulter ging, war klar, dass sie Christian ansprach.

»Mein Mario?« Christian zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, was du meinst.«

24

Die Übelkeit war schlimm, der Durst noch schlimmer. Obwohl der Ofen in der Sauna nicht eingeschaltet war, war die Luft extrem trocken. Sein Zeitgefühl hatte Jan völlig verloren. Schon zu lange war er in dem kleinen Raum von der Außenwelt abgeschnitten. Nur wenig Licht fiel durch ein kleines Fenster in der Tür. Jan wusste zwar noch, wie er in die Sauna gekommen war, dennoch schien alles irreal. Ein Wahnsinn.

Der Schmerz in der Schulter erinnerte ihn daran, dass er nicht nur einen Albtraum gehabt hatte.

Anna tot.

Anna, die nicht Anna-Lena war.

Und er halbtot.

Jedenfalls angeschossen.

Ohne das Handtuch und den Druckverband wäre er verblutet. Also traf es halbtot doch ganz gut.

Er musste etwas unternehmen. Sonst ließe sich das halb morgen streichen. Dass jemand Hilfe holte, womöglich einen Arzt, davon ging Jan nicht aus. Hier lief etwas in die falsche Richtung; mit einer hohen Eigendynamik. Etwas, das sich nicht so leicht aufhalten ließ.

Keine Hilfe in Sicht. Und niemand wusste, wo er war. In der Redaktion nicht. Und auf der Insel auch nicht. Weder Martens noch Eggestein. Hätte er dem Polizisten gesagt, wo er hin wollte … Aber das hatte er nicht.

Der Taxifahrer, der ihn angerufen hatte, wusste etwas. Aber welchen Grund sollte er haben, nach Jan zu suchen. Na gut, wenigstens eine kleine Chance bestand.

Aber darauf konnte Jan sich nicht verlassen. Er musste selbst etwas zu seiner Rettung unternehmen. Und zwar jetzt.

Nicht in zehn Minuten. Nicht in fünf. Jetzt.

Sofort schoss der Schmerz in seine Schulter. Dabei hatte er nur die Beine bewegt.

Ignorieren. Kurze Pause. Minipause. Und weiter.

Die Beine runter von der Holzbank. Dann vorwärts bis zur Tür.

Jan wusste nicht, ob er die Schritte zur Tür wirklich machte, oder sie sich nur vorstellte. Doch dann roch er das Nadelholz der Täfelung, gegen die er sein Gesicht drückt.

Mit der unverletzten Hand fasste er nach dem Türgriff. Er war ebenfalls aus Holz. Eine Klinke gab es nicht. Die Tür sollte sich nicht verriegeln lassen. Trotzdem ließ sie sich nicht öffnen.

Etwas musste von außen vor die Tür gestellt worden sein.

Weil Jan nicht genug Kraft im Arm hatte, drehte er sich um und trat, einem ausschlagenden Pferd gleich, mit der Fußsohle gegen die Tür.

Der Krach interessierte ihn nicht. Er konnte keine Rücksicht darauf nehmen.

Immer wieder trat er zu. Immer wieder.

Pause.

Hatte sich was getan?

Er rüttelte mit der Hand an der Tür.

Wieder umdrehen. Wieder zutreten.

An der Tür rütteln.

Und endlich passierte etwas.

Plötzlich gab die Tür nach, schwang nach außen, traf irgendetwas am Boden und blieb halb offen stehen.

Jan war so überrascht, dass er sich nicht mehr rührte und einfach nur auf die Fliesen jenseits der Tür starrte. Sein Atem ging stoßweise.

25

Ein Stuhl lag neben der Saunatür. Dennis musste ihn hergeschleppt haben. Um keine Geräusche im Flur oder auf den Badezimmerfliesen zu machen, hatte Lena ihre Schuhe ausgezogen. Sie war kurz oben gewesen, um eine Packung Schmerztabletten aus ihrem Zimmer zu holen. Falls Dennis noch einmal auftauchen sollte, hatte sie so wenigstens eine Ausrede parat. In Wirklichkeit wollte sie jedoch etwas anderes von dem Mann in der Sauna. Sie musste mit ihm über Anna reden. Ob Dennis das wollte oder nicht.

Fick dich, Dennis.

Den Krach aus dem Bad hatte sie schon im Flur gehört. Der umgekippte Stuhl verriet, wodurch er entstanden war.

Vorsichtig spähte Lena in die Ecke hinter der Badezimmertür. Sie war darauf gefasst, dass der Kerl aus der Sauna dort auf sie lauerte.

Doch da war niemand.

Dann hörte sie den schweren Atem.

Das Geräusch kam aus der Sauna.

Er hatte die Tür also aufbekommen, war aber noch nicht raus aus dem kleinen Raum.

Jan merkte, dass sich ein Schatten im Badezimmer bewegte. Er war nicht mehr allein. Eine Frauengestalt kam auf ihn zu. Anna-Lena. Nein, nur Anna. Nein, Lena.

 

Die Schmerzen in der Schulter behinderten Jan beim Denken. Und der Durst.

Jan lehnte noch immer an der Holztäfelung. Er merkte, wie ihn jemand anfasste und zurück zur Saunabank führte. Er musste sich wehren. Er musste die Frau zur Seite stoßen und die Flucht ergreifen. So eine Chance kam so schnell bestimmt nicht wieder. Er war zwei Köpfe größer als sie und wog fast das Doppelte. Er sollte doch leichtes Spiel mit ihr haben.

Ohne es zu wollen, plumpste er auf die Saunabank, als die Frau ihn in die entsprechende Richtung drückte.

Kurz schloss er die Augen. Nur ein paar Sekunden. Als er sie wieder öffnete, sah er Lena auf sich zukommen. Sie musste noch einmal im Badezimmer gewesen sein.

Die junge Frau trug ein langes T-Shirt und enganliegende Leggings. Ihre Füße waren nackt. In der Hand hielt sie ein Glas Wasser.

Die Kühle vom Glas war fast noch besser als das Trinken selbst. Sobald Jan das Glas an den Lippen hatte, schluckte er alles mit wenigen langen Zügen hinunter. Ein Hustenanfall war der Preis für seine Gier.

»Ich hole noch eines«, sagte Lena und verschwand erneut. Sofort hatte Jan Sorge, die Tür würde wieder geschlossen werden und er allein in der Kammer hocken bleiben. Stattdessen hörte er das Rauschen eines Wasserhahns. Dann kam Lena zurück in die Sauna. »Nicht gleich wieder alles austrinken«, mahnte sie. »Ich habe ein paar Schmerztabletten für Sie.«

Jan ließ sich zwei Tabletten auf die Hand legen, nachdem er das Glas auf die zweite Ebene der Sitzbank gestellt hatte. »Danke«, sagte er und starrte die Tabletten an. Sie würden ihn noch träger machen, das stand fest. Andererseits würden sie hoffentlich den Schmerz lindern. Und mit weniger Schmerzen würde er besser denken können. Jan führte die Hand zum Mund. Danach griff er wieder zum Wasser. Diesmal trank er langsamer.

Er nutzte die Zeit, um sich einige Worte zurechtzulegen. Die Situation war günstig, vielleicht einmalig. Er musste das Mädchen auf seine Seite ziehen. Auch wenn es brutal war, sah er nur eine Möglichkeit, wie das ging. Und irgendwann würde Lena es sowieso erfahren.

»Ich habe Ihre Schwester gesehen«, sagte er.

Lena drehte den Kopf.

»Heute Morgen am Strand.«

Lena zuckte mit den Schultern.

»Helfen Sie mir hier raus. Dann sag ich Ihnen, was ich über sie weiß.«

»Quatsch«, erwiderte Lena und wirkte wütend. »Sie haben niemanden gesehen. Warum erzählen Sie so was? Ohne mich wären Sie schon verblutet. Und zum Dank erzählen Sie mir solchen Quatsch.«

Der Blutverlust. Das erklärte, warum er so schwach war. Die Verletzung in der Schulter allein konnte es nicht sein.

»Ich bin hier Ihre einzige Verbündete. Wissen Sie das?«

Er nickte. »Natürlich. Entschuldigen Sie … Was wollen Sie wissen? Ich sag Ihnen alles, was ich weiß.«

»Dann sagen Sie mir, was das mit dem Hotel soll.«

»Welches Hotel?«

»Sie behaupten, dass alle Hotels schon lange ausgebucht seien. Warum erzählen Sie so was?«

»Weil es wahr ist.«

»Was ist wahr?«

»Dass alle Hotels ausgebucht sind. Aber Anna braucht auch keines.«

»Ich versteh kein Wort.«

»Weil Anna tot ist.«

»Bullshit. Fangen Sie schon wieder mit Ihrem Quatsch an?«

»Sie ist von einer Klippe gestürzt.«

»Ist sie nicht.«

Lena drehte sich weg und wollte gehen.

»Ich lüge nicht«, versicherte Jan. »Da lag vorhin wirklich eine tote Frau am Strand.«

»Sie wollen mich austricksen.« Lena wollte dies mit Nachdruck sagen, doch sie hörte selbst, dass es wie eine Frage klang.

Jan durfte jetzt nicht nachlassen. »Diese beiden Männer, woher kennen Sie die? Sind das Freunde von Ihnen?«

Lena schüttelte den Kopf. »Ich … Wir kennen uns kaum. Sie kommen aus Hamburg. Ich nicht. Ich wohne in Uelzen.« Pause. »Anna hat uns bekannt gemacht. Anna studiert in Hamburg. Da hat sie die beiden kennengelernt.«

Jan blickte das Glas in seiner Hand an, sagte dann: »Sie dürfen denen nicht länger trauen. Vielleicht war es ein Unfall mit Anna. Ich weiß es nicht. Aber …«

»Hören Sie auf!« Am liebsten hätte Lena sich die Ohren zugehalten und wäre ohne weitere Worte aus der Sauna verschwunden. Doch das schaffte sie nicht.

»Was immer diese Männer jetzt vorhaben«, sagte Jan, »eines ist sicher: Sie dürfen ihnen nicht mehr trauen.«

Lenas Blick fixierte Jan.

»Wir sind jetzt beide so was wie Zeugen. Und so, wie ich diesen Armbrustschützen einschätze …«

»Dennis.«

»… will er keine Zeugen. Er will den ganzen Vorfall vertuschen.«

Lena verdrehte die Augen. »Es gab keinen Vorfall!«

»Er wird mich hier nicht wieder rauslassen. Jedenfalls nicht lebend. Und nur wir beide können ihn identifizieren.«

Lena schüttelte den Kopf.

»Und das heißt, dass er auch Sie loswerden muss.« Jan wartete mit dem Weitersprechen so lange, bis Lena ihn erneut ansah. »Hören Sie mir zu, Lena. Wenn die beiden morgen mit Ihnen auch dieses Spiel machen wollen, dann gehen Sie nicht mit. Denken Sie sich eine Ausrede aus. Verletzen Sie sich vorher am Fuß oder so. Vielleicht auf der Treppe. Oder besser noch, fahren Sie mit ihnen mit und springen Sie aus dem Auto, sobald Sie in einer etwas belebteren Gegend sind. Egal, wo. Laufen Sie bei einem Bäcker rein oder in ein anderes Geschäft. Und dann rufen Sie die Polizei. Denn wenn nicht … dann werden Sie das hier nicht überleben.«

Lena atmete tief durch, und Jan hoffte, dass er die junge Frau mit seinen Worten erreicht hatte. Doch dann merkte er, wie sich ihr Körper spannte und die Stimmung sich drehte. Schnell fügte Jan hinzu: »Es gibt Beweise. Gehen Sie auf die Seite vom Sylter Spion. Die finden Sie im Internet. Sylter Spion. Muss leicht zu finden sein. Er hat die tote Frau am Strand fotografiert.« Jan unterstützte seine Worte mit einem Nicken. »Er hat Anna fotografiert!«

Lena hörte, was dieser fremde Mann sagte, doch sie wollte es noch immer nicht glauben.

»Sehen Sie sich die Fotos an. Wenn es nicht Anna ist, was haben Sie zu verlieren? Aber wenn sie es ist …«

Die Pause zwischen seinen Worten dauerte länger als gewollt.

»… dann kommen Sie wieder und lassen mich hier raus.«

»Das ist so ein Bullshit. Echt jetzt!« Lena sah ihn nicht an. »Dennis hat gesagt, dass ich nicht mit Ihnen sprechen soll. Weil Sie lügen. Und das stimmt. Sie lügen die ganze Zeit.«

Wut funkelte in ihren Augen.

Dieser Mann saß halbnackt und zusammengesunken auf der Holzbank vor ihr. Der Verband um seinen Oberkörper und die Schulter war verrutscht, die Kompressen rot durchgeblutet. Doch sie konnte kein Mitleid für Jan empfinden. Im Gegenteil. Sie roch seinen Schweiß, und ihr wurde übel davon. Sie bereute, zu ihm gegangen zu sein.

»Warten Sie. Bitte.«

Lena drehte lediglich den Oberkörper, ohne sich ganz umzuwenden. »Was denn noch?«

»Ich brauche dringend einen Arzt. Können Sie mir einen rufen?«

»Nein«, sagte Lena. Die Tür wurde von außen geschlossen. Jan hörte, wie der Stuhl wieder unter den Griff geklemmt wurde.

»Lena!«, rief er durch die geschlossene Tür. »Was auch immer passiert, gehen Sie nicht mit den beiden an den Strand. Spielen Sie dieses Spiel nicht mit!«

26

Sie glaubte wohl, dass sie leise war. Sie glaubte wohl, er würde nicht mitbekommen, wie sie durch den Flur und zu diesem Typen in die Sauna schlich. Falsch gedacht. Auch das Krachen und Rumpeln im Badezimmer hatte er gehört. Dennis bekam alles mit. Er lag auf seinem Bett, lauschte dem Wind, lauschte den Geräuschen im Haus. Sein Zimmer lag im Halbdunkel. Es war genau wie früher. Auch als Kind hatte er oft auf seinem Bett gelegen und darauf gelauscht, was im Haus geschah.

Das war auch der Grund, weshalb er nicht sofort aufstand und Lena zur Rede stellte.

Was wolltest du von dem Typen? Hilfst du ihm etwa? Und so weiter. Und so weiter. Und so weiter. Erst gespielt freundlich, dann lauter werdend, schließlich schreiend, brüllend, wütend.

Er erinnerte sich, wie seine Eltern früher häufig stritten. Erst gedämpft, um den Jungen nicht zu ängstigen, dann schnell lauter werdend und alles um sich herum vergessend. Auch damals hatte Dennis alles mitbekommen, was im Haus passierte. Das viele Streiten. Die Wut. Die Verachtung in den Stimmen.

»Lasst ihr euch jetzt scheiden?«

»Wie kommst du denn darauf?«, war die Antwort der Mutter.

»Unsinn. Mach dir keine Sorgen!«, wehrte der Vater ab.

Ein paar Tage war Ruhe. Dann stritten sie wieder. Und wieder glaubten sie, er würde sie nicht hören. Doch das tat er. Selbst wenn er sich die Hände auf die Ohren presste oder den Kopf unter dem Kissen verbarg. Er bekam alles mit. Alles.

Wie konnte Lena glauben, er würde ihren Besuch bei dem Presseheini im Badezimmer nicht bemerken? Sie wusste doch, dass Dennis in der Villa war. Sie hatte gesehen, wie er vom Zielschießen mit der Armbrust zurückgekommen war. Sie musste sich doch denken, dass er in seinem Zimmer lag. War sie denn so dumm?

Oder hielt sie etwa ihn für dumm?

Sofort spürte er die Wut in sich aufsteigen.

Er wollte aufspringen, wollte in den Flur stürmen und sie zur Rede stellen. Ob sie dumm sei? Oder ob sie ihn für dumm halte?

Doch er wollte keinen Streit auf dem Flur. Denn die Worte kannte er schon. Sie hallten wie ein Echo aus vergangenen Tagen in ihm. Immer wieder. Immer wieder.

Sollte sie doch ihren Spaß mit dem Presseheini haben. Wie auch immer. Was sie tat, ging ihn nichts an. Es war ihm egal. Scheißegal. Sie war ihm schließlich auch scheißegal. Und der Presseheini auch. Sollte er doch verbluten. Dann wäre die Sache erledigt.

War doch seine eigene Schuld, wenn er seine Nase in Sachen steckte, die ihn nichts angingen. Da hatte Dennis eben auf ihn geschossen. Na und?

Dennis merkte, dass er der Sache mehr Raum einräumte, als sie verdiente. Und er wusste auch, wieso er das tat. Solange er sich mit Lena und Jan beschäftigte, musste er nicht an Anna denken und daran, was er ihr angetan hatte.

27

Hintereinander fuhren Charlotte Sander und Christian Freitag mit ihren Autos durch den Harburger Hafen. Sie kreuzten die Gleisanlagen, die das Hafengebiet vom Rest Harburgs trennten, und schlängelten sich wie ein Minikonvoi eine Steigung hinauf. Die Technische Universität, in der Mario Keller eine Kombination aus Informatik und Ingenieurwesen studierte, lag auf dem Schwarzenberg und somit ein ziemliches Stück höher als der Hafen. Am Tage war es in der Nähe des Unigeländes schwierig, einen Parkplatz zu finden, doch so spät am Abend war das selbst für zwei Wagen kein Problem.

Marios letztes Seminar für diesen Tag war um 20 Uhr zu Ende gewesen. Nun saß er in einem der Arbeitsräume, die die Universität den Studierenden zur Verfügung stellte, und beschäftigte sich mit dem Script zu einer Smartphone-App. Als Christian in den schmalen Raum trat, an dessen Wänden links und rechts jeweils vier Computerarbeitsplätze aufgebaut waren, drehte Mario den Kopf und grinste seinem Besucher entgegen. Hinter Christians Rücken tauchte nun auch Charlotte auf.

Mario war etwa vier, fünf Jahre jünger als Christian. Er trug einen beachtlichen Vollbart zu einer exakt geschnittenen Kurzhaarfrisur. »Hi«, sagte er schlicht zur Begrüßung.

Da Charlotte Christians neueste Entdeckung noch nicht persönlich kannte, trat sie auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Charlotte Sander.«

Mario nickte, während er die schmale Hand umfasste, dann wanderte sein Blick wieder zu Christian. Eine ungewöhnliche Spannung machte sich im Raum bemerkbar, sodass Charlotte in einem Augenblick, der sich im Millisekundenbereich abspielte, begriff, dass zwischen den beiden Männern mehr als ein berufliches Miteinander bestand. Charlotte war überrascht. Zu keiner Zeit hatte sie bisher geglaubt, Christian Freitag könnte sich privat für Männer interessieren. Dass er immer außergewöhnlich gepflegt und freundlich war, konnte ja nicht als einziges Indiz dafür gewertet werden. Das wäre allen hetero Männern gegenüber unfair.

Christian verhielt sich Frauen und Männern gegenüber immer gleichermaßen höflich. In der Redaktion besetzte er alle Posten unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit allein nach der Qualifikation und dem Engagement, mit dem ihm die potenziellen Mitarbeiter entgegentraten. Und doch war sich Charlotte nun mit absoluter Sicherheit klar darüber, dass es stimmte: Christian Freitag bevorzugte Männer. Und anderen war das auch klar. Dana zum Beispiel.

 

Die hatte vorhin in der Redaktion nicht aus Versehen zu Christian gesagt, Jan habe sich mit seinem Mario über das bestimmte Video unterhalten. Vielmehr hatte sie auf ein bestehendes oder sich zumindest anbahnendes Verhältnis zwischen den beiden angespielt. Ohne zu wissen, warum, empfand Charlotte plötzlich außerordentliche Zuneigung für Christian. Und für Mario auch, obwohl sie ihn nicht näher kannte.

Neben Monitor und Tastatur, die zum Rechnerplatz der Uni gehörten, hatte Mario sein privates Notebook aufgeklappt. Charlotte und Christian nahmen sich Stühle und setzten sich zu ihm. Nicht nur die Flure des Universitätsgebäudes waren um diese Zeit leer, der Arbeitsraum war es zum Glück auch. So konnten sie offen miteinander sprechen.

»Jan ist mit diesem Videolink zu mir gekommen«, sagte Mario nickend. »Er wollte wissen, was ich ihm darüber sagen kann. Ob es neu im Netz ist. Wo der Server steht, auf dem es ursprünglich abgelegt wurde. Lauter knifflige Sachen.«

Charlotte konnte von der Seite sehen, wie Mario grinste. Wegen des Vollbarts sah das witzig aus.

»Ich will’s nicht unnötig spannend machen. Ihr wisst, was Metadaten sind?«

Charlotte hob fragend die Augenbrauen, sah zu Christian hinüber. Der sagte als Antwort etwas über Informationen, die jeder elektronischen Datei beigefügt seien. »Sie beschreiben den Inhalt des Programms oder der Datei.«

»Und das gilt für alles Mögliche«, stimmte Mario zu. »Sowohl für Bilder, Spiele oder eben Videos. Das Coole ist, dass sich diese Informationen durch eine Automatisierung selbst schreiben. Das läuft automatisch im Hintergrund ab, wenn ich eine Datei erstelle. Da steht dann alles drin, was man wissen muss. Bei einem Video zum Beispiel, welcher Container für das Format benutzt wird. Die Codierung. Bitrate, Tonformat. Und, und, und. Aber auch Erstellungsdatum und solche Sachen.«

»Dann konntest du Jan helfen?«, wollte Charlotte wissen.

»Das konnte ich. Und er hatte Glück. Das Video ist ziemlich neu.«

»Bitches in der Mangel?«

»Genau.« Mario sah Charlotte direkt an. »Und es stammte hier aus der Gegend. Das wusste Jan aber schon.«

»Wieso?«

»Erst mal ist klar, dass der Titel deutsch ist. Zwar sind in der Dateibeschreibung auf dem Videoportal auch englische Schlagwörter eingerichtet, aber die Ursprungsdatei ist deutsch. Steht alles in den Metainformationen.«

»Und das heiß?«

»Das heißt: Wenn ich die Schlagwörter in der Suchfunktion des Videoportals eingebe, mit denen der Film beschrieben ist, finde ich ihn irgendwann. Genau wie mit Hashtags in Social Media. Dazu muss ich nicht den Namen der Datei kennen. Und auch nicht den Titel des Films. Es reicht zum Beispiel: junge Frau, Paintball, nackt, halbnackt, geil und so weiter. Und auf Englisch Vergleichbares: Woman, Girl, Boobs, Running, Hunting. Die englischen Schlagwörter sind vorhanden. Die hat jemand zur Beschreibung eingegeben. Aber der Rest ist Deutsch.«

»Das Video kommt also aus Deutschland?«

»Vermutlich sogar aus Hamburg.« Mario rollte mit seinem Stuhl ein Stück zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, während er die Reaktion auf den Gesichtern der anderen beiden abwartete. »Unser Mann benutzt auf dem Videoportal den Kanalnamen ›Hansemen‹. Kapiert? Entweder heißt der Typ Hans, oder das ›Hanse‹ steht für Hansestadt Hamburg.«

Charlotte und Christian sahen sich an. »Könnte auch Hansestadt Lübeck bedeuten. Oder Hansestadt Bremen«, meinte der Chefredakteur des Leuchtfeuers.

»Hansestadt Rostock«, schlug Charlotte vor.

Mario schüttelte den Kopf. »Eher nicht, denn Jan hat auf dem Bildmaterial auch einen Teil der Gebäude erkannt. Er meinte, das würde nach einer Hamburger Kaserne aussehen. Offenbar ein verlassenes Gelände. Fragt mich nicht, woher er das weiß, ich war nie beim Bund, aber er war sich ziemlich sicher.«

»Dafür muss man nicht beim Bund gewesen sein«, entgegnete Charlotte. »Ich war mal mit der Kamera bei einer großen Notfallübung von Technischem Hilfswerk und Rotem Kreuz. Die wurde auf dem Bundeswehrgelände in Fischbek gemacht. Mittlerweile ist da fast alles abgerissen. Aber ich kenne das Gelände auch.«

»Dann weißt du über die Sache vielleicht mehr als ich.«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nichts. Ich war zwei Monate weg. Keine Ahnung, was Jan herausgefunden hat und wo er war.«

»Immerhin wissen wir jetzt«, meinte Christian, »dass Hansemen nicht für Hans, sondern für Hansestadt steht.«

Mario strich sich kurz über den Bart, drehte sich dann wieder seinem Notebook zu. »Wie gesagt: Die Videodatei ist gerade mal ein halbes Jahr alt. Jemand war beim Dateinamen sehr ordentlich. Also nicht beim Titel. Der ist ja Bitches in der Mangel. Aber der Dateiname enthält das Entstehungsdatum der Datei. Und zwar rückwärts geschrieben. Erst das Jahr, dann der Monat, dann der Tag. Wenn man seine Videodateien oder Fotos oder Texte, völlig egal, konsequent so beschriftet, hat man sie immer in der chronologischen Reihenfolge. Unser Mann hat das so gemacht, bevor er die Datei hochgeladen hat.«

»Löblich«, meinte Christian dazu. »Auch wenn er sonst durch und durch notgeil zu sein scheint.«

Mario grinste über die Feststellung, öffnete dann auf dem Notebook den angesprochenen Quelltext und deutete auf die Zeile mit dem Dateinamen. »Das Datum ist auf amerikanische Art geschrieben. Für uns also rückwärts. Dann Bindestrich. Anna-Lena. Bindestrich. Erstes. Bindestrich. Spiel. Punkt. Und mpg als Dateiformat.«

»Erstes Spiel«, wiederholte Christian. »Dann wird es wohl noch mindestens ein zweites Spiel geben.«

Charlotte nickte und blickte dabei auf den mittleren Teil des Dateinamens. »Anna-Lena«, sagte sie leise.

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