Sturmgepeitscht

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14

Leise zog Charlotte die Tür zu Jans Wohnung zu und schloss ab. Bis auf den Teebeutel im Mülleimer hatte sie keine Spuren hinterlassen. Selbst ihren Becher hatte sie wieder ausgespült und zurück in den Hängeschrank gestellt. Sie wusste, dass Jan alle Arten von Tee mehr oder weniger verabscheute. Deshalb musste sie vorhin grinsen, als sie eine Packung mit verschiedenen Kräutertees neben der Kaffeedose entdeckte. Die hatte Jan offensichtlich nur für sie besorgt.

Die Treppe knarrte ein wenig, als Charlotte hinunter in den Vorraum ging und von dort zum ehemaligen Gemeindesaal. Die wenigsten Schreibtische waren besetzt. Das hatte sie bereits von oben durchs Küchenfenster gesehen. Beim Lauffeuer gab es keine festen Arbeitszeiten. Wer wollte, konnte hier arbeiten oder von zu Hause. Über einen Server hatten alle Mitarbeiter von überall Zugriff auf das Netzwerk. Lediglich die Online-Seite vom Lauffeuer wurde noch einmal gesondert gesichert. Um auf diese zugreifen und sie bearbeiten zu können, musste man in der Redaktion physisch anwesend sein. Noch war das Magazin nicht Ziel von Hackerangriffen geworden, doch Christian Freitag legte als Inhaber und Chefredakteur Wert drauf, für den Ernstfall gewappnet zu sein.

Ihren IT-Spezialisten, Mario Keller, hatte Christian direkt von der Uni rekrutiert. Sie waren in einem kleinen Café auf dem Campus der Technischen Universität Harburg ins Gespräch gekommen. Und das war kein Zufall. Christian Freitag hielt sich gerne in dem Café auf. Er mochte die Atmosphäre dort, das Kommen und Gehen der Studierenden, wenn sie in der freien Zeit zwischen ihren Seminaren und Vorlesungen Kaffee aus großen Bechern tranken und dazu kleine Kuchenteilchen in sich hineinstopften. Christian hatte selbst erst sein Volontariat abgeschlossen und war jung genug, um unter diesen Leuten nicht aufzufallen.

Mit eben dieser jugendlichen Frische strahlte er Charlotte entgegen, als sie durch den ehemaligen Gemeindesaal der kleinen Evangelistenkirche auf ihn zukam. Laut rief er ihren Namen, sodass sich auch die Köpfe der anderen zu ihr umdrehten. »Seit wann bist du wieder hier?«

Die wenigsten Gesichter hatten sich seit Gründung des Lauffeuers vor etwas mehr als einem Jahr geändert. Und noch immer arbeiteten die meisten mehr zum Spaß als wegen des Geldes hier, auch wenn gestiegene Einnahmen aus der Werbung dafür gesorgt hatten, dass Christian seinen Leuten mittlerweile immerhin eine Aufwandsentschädigung zahlen konnte. Ebenso ließ er es sich nicht nehmen, Jan eine regelmäßige Miete zu überweisen.

Inez lächelte Charlotte an. Die kleine, zierlich gebaute Expertin für Wirtschaftsartikel vermittelte mit ihrem blassen Gesicht und dem schwarz gefärbten Bubikopf normalerweise nicht den glücklichsten Eindruck. Doch während sie Charlotte anblickte, machte sie eine Ausnahme und winkte ihr fast schon fröhlich zu. Immerhin hatten sie im vergangenen Winter zusammen mit anderen Mitarbeitern der Redaktion einem Beamten aus dem Einbürgerungsamt korrupte Machenschaften nachweisen und ihn anschließend von einem langen Exklusivinterview überzeugen können. Und ganz nebenbei war Inez bei dieser Geschichte sogar noch mit Aaron zusammengekommen.

Aaron war ein muskulöser Hantelschwinger und der Polizeireporter vom Lauffeuer, in dessen Themenbereich die aufgedeckte Korruptionsgeschichte mit dem Beamten durchaus auch gefallen wäre. Der Platz, an dem er meistens saß, war heute leer. Dafür wurde Charlotte von Claudette zugewunken, die zusammen mit Sybill für Boulevardgeschichten und das Wetter zuständig war. Stefan machte Politik, Martinez den Sport. Beide waren an diesem Tag nicht da.

Körperliche Übergriffe bei Begrüßungen waren nicht so Charlottes Fall. Daher wusste sie es zu schätzen, dass die Frauen trotz der Wiedersehensfreude sitzen blieben. Christian jedoch, der ihr mit geöffneten Armen entgegen stürmte, war durchaus ein feuchter Wangenkuss zuzutrauen. Demonstrativ streckte sie ihm daher die Hand entgegen. Das stoppte seine Vorwärtsbewegung ab, als habe sich ein auf seinem Rücken befestigtes Seil gerade noch rechtzeitig gestrafft. Dafür schüttelte er Charlottes Hand überschwänglich.

»Wir freuen uns ja so. Du musst uns unbedingt alles erzählen. Sind die Bilder gut geworden? Wie war dein Flug?«

Charlotte lächelte und entwand dem Chefredakteur geschickt ihre Hand. »Gut. Danke. Ich wollte eigentlich gleich zu Jan. Aber er ist nicht da.«

»Ach, dann warst du das da oben?« Christian machte eine Kopfbewegung zur Einliegerwohnung hinauf. »Ich habe Bewegungen hinter dem Küchenfenster gesehen und dachte, Jan wäre zu Hause. Aber wenn du das warst, nein, dann weiß ich auch nicht, wo er steckt. Willst du Kaffee?«

Es gab eine kleine Redaktionsküche, die, wie die Treppe nach oben, vom Vorflur abführte. Dort wurde von Christian jeden Morgen eine Zehnliter-Thermoskanne mit Kaffee befüllt und auf einen kleinen Tisch in der Mitte der Redaktion gestellt. Keiner seiner Mitarbeiter sollte weiter als ein paar Schritte laufen müssen, um an Koffein zu kommen. War die Kanne leer, wurde sie sofort wieder randvoll betankt.

Christian nahm einen Becher vom Tisch. Es gab ein gurgelndes Geräusch, als er die Pumpvorrichtung der Thermoskanne bediente und den Becher mit dampfender Flüssigkeit füllte. Dann reichte er ihn an Charlotte weiter. Diese bediente sich an einer Dose Kondensmilch, ließ den Topf mit Zuckerwürfeln jedoch unberührt. Sie trank einen Schluck, wusste aber, dass sie nicht lange bleiben würde. Sie war nicht in Plauderlaune und wollte nun doch nach Hause. »Sag ihm bitte, dass ich da war«, bat sie Christian kaum fünf Minuten später und verabschiedete sich dann.

15

Der Blick, mit dem Dennis den fremden Besucher musterte, ließ sich nur schwer deuten. Jedenfalls war er so intensiv, dass Jan sich schnell unwohl fühlte. Er zog den Reißverschluss der Jacke auf. Erst jetzt merkte er, wie warm es in der Villa war. Nicht ohne Grund trug Lena nur eine dünne weiße Bluse über ihrem kurzen Rock. Unter dem seidenen Stoff schimmerte ein schwarzer BH.

»Was ist das denn?«, meinte Dennis plötzlich und deutet auf einen Karton, der neben der Wohnzimmertür stand. Er war etwa 70 Zentimeter hoch mit der Grundfläche eines DIN-A4-Blattes.

»Ein Paket für Hauke«, entgegnete Lena. »Wurde vorhin mit der Post gebracht.«

Begeistert klatschte Dennis in die Hände. »Das ist ja wunderbar.«

Schnell war er beim Paket, ging damit zum Esstisch, stellte den Karton darauf und begann, ihn oben aufzureißen. »Das ging ja wirklich schnell.«

Jan sah zu Lena, doch die wollte keinen Blickkontakt mit ihm. Stattdessen kaute sie auf ihrer Unterlippe. Jan ging die paar Schritte zur Essecke hinüber und stieg den kleinen Absatz hinauf, der Wohn- und Essbereich optisch trennte.

Dennis zog mehrere längliche Gegenstände aus dem Paket. Sie waren sorgsam mit Pappe umwickelt. Zuerst glaubte Jan, es wären Teile eines Gewehrs. Dann fiel sein Blick auf ein paar verschnürte Carbonpfeile, und er begriff, dass Dennis den Bausatz einer Armbrust auspackte.

»Endgeil, was?«, meinte der junge Mann und strahlte wie ein Grundschüler, der eine Modelleisenbahn unterm Weihnachtsbaum gefunden hatte. »Und sieht gar nicht so kompliziert aus. Ob Hauke was dagegen hat, wenn ich das Ding allein zusammenbaue? Ach, bestimmt nicht, oder?«

Dennis stellte den Schaft der Sportwaffe auf den Tisch und probierte aus, wie die Wurfarme am vorderen Teil befestigt werden konnten.

»Sie sind also ein Fan von unseren Videos?«

»Kann man so nicht direkt sagen«, erwiderte Jan, an den die Frage gerichtet war.

Lächelnd schraubte Dennis weiter an der Armbrust. »Das Ding gibt es auch mit Zielfernrohr. Aber das finde ich irgendwie unsportlich. Oder was meinen Sie?«

Jan stand neben dem Tisch und blickte auf Dennis hinunter, der sich zwischenzeitlich auf einen der Stühle gesetzt hatte. »Kommt drauf an, was man damit vorhat.«

»Was schon? Auf Zielscheiben schießen.«

»Na, dann. Ich dachte nur wegen der Paintballgeschichten …«

»Was? Nein, Quatsch. Ich würde niemals auf Menschen schießen. Auch nicht auf Tiere. Das kann ich gar nicht. Durch und durch Pazifist.«

Er testet mich, dachte Jan. Er versucht herauszufinden, was ich weiß.

Wie viel Zeit war wohl vergangen, seit das andere Mädchen vom Kliff gestürzt war? Anna.

Jan vermutete, dass Dennis dabei gewesen war. Und Hauke auch. Deshalb war der andere Bursche jetzt so betrunken. Sie waren nach dem Unfall weggefahren, hatten Anna am Strand liegen gelassen, hatten sie den Möwen überlassen.

War genug Zeit vergangen, damit ein Reporter von Annas Tod erfahren konnte, überlegte Dennis vielleicht. Genug Zeit, um anschließend die Villa ausfindig zu machen und noch vor ihm und Hauke hier aufzutauchen?

Waren zwei Stunden seit Annas Tod vergangen? Oder waren es drei?

Wieso war der Pressefuzzi ausgerechnet jetzt hier aufgetaucht?

Jan wusste, dass Dennis sich diese Fragen stellte. Er sah zu Lena. Das Mädchen hatte keine Ahnung, was hier gespielt wurde. Für sie war ihre Schwester noch am Leben.

»Aber für die Videos schießen Sie auf Menschen …« Jan konnte nicht anders. Auch wenn es nicht klug war, dies zu sagen.

»Hallo! Mit Farbpatronen!«, erwiderte Dennis mit gespielter Empörung. »Hauke und ich machen schon länger Videos. Je ausgefallener, umso mehr Klicks. Sie kennen das, nicht wahr? Na, und da kam mir der Gedanke mit den Mädchen. Seien Sie ehrlich, Sie fanden den Film auch geil, nicht wahr? Na klar, sonst wären Sie ja nicht hier.«

Dennis lachte leise auf. »Sie wissen ja, wie diese Paintballgefechte normalerweise laufen. Zwei Gruppen. Die einen schießen mit Rot, die anderen mit Blau. Alle Teilnehmer sind schön geschützt mit Westen und Schutzbrillen. Mit einem Wort: öde. Total öde sogar. Das guckt sich kein Mensch an. Und deshalb haben wir die Spielregeln für unsere Videos etwas modifiziert.«

 

Dennis warf einen Blick zu Lena hinüber. »Die Frauen ziehen sich aus und dann jagen wir sie. Ehrlich, Mann, das macht mehr Spaß. Viel mehr Spaß.«

Wieder kicherte Dennis. »Die Klickzahlen haben Sie umgehauen, was? Uns auch. Ganz ehrlich. Wir hatten schon einige Hits, aber das hier ist schon was Besonderes. Natürlich zieht es etwas und gibt ordentlich blaue Flecken, wenn die Mädchen was abbekommen. Aber das macht die Sache doch so spannend, nicht wahr? Lass doch mal sehen, Lena.«

Ohne es zu wollen, drehte Jan den Blick zusammen mit Dennis in Lenas Richtung. Leicht schüttelte die den Kopf.

»Komm schon, zier dich nicht. Du bist doch ein Internetstar.«

Lena zögerte noch immer. Dann zog sie die weiße Bluse aus dem Rock und raffte sie nach oben. Ein großflächiges Hämatom zeichnete sich auf ihrem rechten Rippenbogen ab.

Dennis hob eine Hand und machte mit dem Zeigefinger eine kreisförmige Bewegung. Langsam begann Lena sich zu drehen. Auch auf dem Rücken war sie einmal getroffen worden. Als die junge Frau eine ganze Drehung vollendet hatte, ließ sie die Bluse wieder sinken.

»Geil, oder«, meinte Dennis. Als Jan wieder zu ihm statt zu Lena sah, zeigte Dennis zu der Sporttasche, die er aus dem Pick-up mitgebracht hatte. »Das Gewehr ist da drin. Wollen Sie es sehen? Vielleicht haben Sie ja auch mal Lust, auf Lena zu schießen. Unten am Strand.«

»Ganz bestimmt nicht.«

»Wieso denn nicht? Haben Sie etwa Angst, auf den Geschmack zu kommen? Hey, Mann, wenn Sie bei der Vorstellung einen Ständer bekommen, macht das nichts. Das geht den meisten so, die unsere Videos gucken.«

Dennis grinste schmutzig und zeigte Jan den tadelnden Zeigefinger. »Sie wissen doch genau, wovon ich spreche.«

»Ihr Freund … was ist mit dem?«

»Hauke?«

»Warum betrinkt er sich mitten am Tag?«

»Weil er blöd ist. Weil wir Semesterferien haben.«

»Ich würde gerne mit ihm sprechen.«

»Das geht wohl schlecht.« Dennis schüttelte den Kopf und warf den Wurfarm der Armbrust auf den Tisch. »Verdammtes Teil. Wieso passt das nicht? Wo ist denn die verfickte Anleitung?«

»Wäre es in Ordnung, wenn ich morgen wiederkomme und dann mit ihm spreche?«

Dennis zuckte mit den Schultern. »Morgen? Wir wollen morgen drehen. Mit Lena. Stimmt doch, Lena?«

Das Mädchen nickte.

»Aber warum nicht. Kommen Sie einfach mit. Dann haben Sie was zu schreiben.«

Jan sah dieses Zugeständnis als Möglichkeit, um aus der Villa zu verschwinden. Seine Rückkehr würde aber nicht erst morgen sein. Höchstens eine Stunde später würde er mit Kommissar Eggestein wieder an die Tür klopfen. Für seinen Artikel hatte er schon jetzt genug Stoff.

Am besten bliebe Jan im Auto vor dem Haus sitzen und wartete, bis Eggestein bei ihm war. Dann bestand nicht die Gefahr, dass Dennis mit Hauke und Lena das Weite suchte, bevor die Polizei hier war.

»Wann morgen?«, fragte Jan, um die Täuschung aufrecht zu erhalten. »10 Uhr?«

»Zu spät. Viel früher.« Dennis griff zur Fernbedienung des Fernsehers. »Wir müssen bei Sonnenaufgang am Strand sein. Wenn es da noch nicht von Idioten wimmelt. Wir brauchen keine Zuschauer.«

Passt, dachte Jan. So ähnlich muss es heute auch gelaufen sein.

Die Jagd auf Anna hatte stattgefunden, bevor die meisten Urlauber noch beim Frühstück saßen.

»Lena, bringst du ihn zur Tür? Der Typ wird langweilig.«

Während Dennis das sagte, wurde der Fernseher immer lauter.

Lena sah Jan solange auffordernd an, bis dieser nickte. Hinter der jungen Frau verließ er das Wohnzimmer. Wegen ihrer hohen Absätze bewegten sich Lenas Hüften überaus aufreizend. Ihre Bluse steckte noch nicht wieder ganz ordentlich im Rock, fast so, als würde sie ihren Geliebten nach einem Rendezvous zur Tür begleiten.

Es behagte Jan nicht, die junge Frau mit Dennis und Hauke allein im Haus zu lassen. Er überlegte, wie er sie zum Mitkommen überreden konnte.

Er konnte ihr nicht sagen, dass ihre Schwester tot war. Ihre Reaktion konnte Probleme verursachen. Am wahrscheinlichsten schien es zwar, dass sie Jan nicht glaubte. Aber vielleicht würde sie auch mit ihm streiten und nach Dennis rufen. Darauf legte Jan aber keinen Wert. Trotzdem machte er sich Sorgen um Lena. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Kurz entschlossen griff er im Flur nach ihrem Arm.

»Kommen Sie mit mir«, sagte er halblaut. »Der Kerl spinnt.«

Überrascht blickte Lena auf die Hand an ihrem Arm. »Ich weiß auch, dass er etwas spinnt. Na und?«

»Sie wollen doch zu Anna. Ich bringe Sie zu ihr.«

Lena schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Anna ist im Hotel. Und ich darf vor morgen nicht mit ihr sprechen.«

»Es gibt gar keine Zimmer mehr.«

»Was?«

»Dentistenkongress. In Westerland sind alle Hotels ausgebucht. Dort gibt es keine Zimmer mehr. Ich habe auch keines bekommen und schlafe deshalb auf einem Campingplatz.«

»Was?«, wiederholte Lena. Nun riss sie sich von Jan los. »Verschwinden Sie endlich!«

Unwirsch deutete sie zur Haustür. Ob Journalist oder nicht. Der Typ, der bei Leuten ums Haus schlich und durch fremde Fenster guckte, spann offenbar nicht weniger als Dennis.

Mehr noch als Lenas Worte überzeugte Jan der Ausdruck in ihren Augen, dass sie es ernst meinte. Ob er wollte oder nicht, er musste sie in der Villa zurücklassen.

Er würde einfach möglichst schnell mit Eggestein wieder hier sein müssen. Es würde ihr schon nichts passieren. Nicht ausgerechnet in der nächsten Stunde. Dennis saß vor dem Fernseher, und Hauke schlief seinen Rausch aus.

Jan streckte die Hand zur Klinke aus. Er musste sich selbst hinauslassen. Lena stand nur da und sah ihm nach. Bis bald, wollte er sagen. Doch dazu kam es nicht.

»Hey, guckt mal«, rief Dennis in diesem Moment triumphierend. Er stand am anderen Ende des Flurs. »Ich hab’s doch hingekriegt.«

Noch während Jan sich umdrehte, spürte er ein heißes Brennen in der rechten Schulter. Irritiert drehte er den Blick zum Ausgangspunkt des Schmerzes. Ein 17 Zoll langer Pfeil hatte seine Schulter direkt unterhalb des Schlüsselbeins durchschlagen und ihn gegen die Haustür genagelt.

16

Jan dachte zunächst nur an seine neue Jacke. Klar hatte er sie im Sonderverkauf für den halben Preis bekommen, trotzdem musste man sie doch nicht gleich kaputt machen. Es war auch die letzte in dieser Größe gewesen. Die Ärmellänge war meistens das Problem. Jans Arme waren einfach zu lang. Gerade mal einen Tag hatte sie gehalten, und nun war sie schon an zwei Stellen kaputt. Vorn und hinten. Solange der Pfeil noch drin steckte, traten zwar keine Daunen aus, doch Jan konnte ja nicht ewig so stehenbleiben. Wie zur Bestätigung bemerkte er plötzlich einen säuerlichen Geschmack im Mund, während gleichzeitig seine Knie zu zittern begannen.

»Spinnst du?«, schrie Lena auf.

Dennis kam schnell heran, legte den Kopf schief und versuchte zu erkennen, wie tief der Pfeil in die Tür eingeschlagen war.

»Das war doch keine Absicht«, sagte er etwas kleinlaut.

»Du hast aber auf ihn gezielt …«

»Quatsch. Ich habe einfach nur nach vorne gehalten. Und zack, flog das Ding schon los. Hey, Kumpel, wie fühlst du dich?« Dennis hob den Kopf und sah Jan ins Gesicht. »Keine Sorge. Sieht gar nicht so schlimm aus. Wenn der Pfeil wieder draußen ist, braucht die Tür nur ein bisschen Holzspachtel und Farbe. Hinterher sieht das kein Mensch mehr.«

»Idiot«, schimpfte Lena. »Ich ruf die Eins-Eins-Zwei an.«

»Was? Warum denn das? Ich krieg das schon hin.« Dennis griff zum Ende des Pfeils. Sofort begann Jan, laut zu stöhnen.

»Lass das! Du tust ihm weh.«

»Aber ich muss ihn doch von der Tür losmachen.«

»Wir brauchen die Feuerwehr.«

»Nee. Quatsch!« Dennis schüttelte den Kopf. »Die würden nur den Pfeil kaputt machen. Da kennen die nichts. Die sägen den glatt durch.«

»Dennis!«

»Ja?« Der junge Mann blickte Lena an.

»Kannst du mal wieder vernünftig reden?«

»Klar kann ich das.« Er ließ den Pfeil los und drehte sich zu ihr. »Wenn du die Feuerwehr rufst oder einen Arzt, weißt du, was dann passiert? Die alarmieren automatisch die Polizei. Und dann bin ich dran. Denn das Baby da«, Dennis deutete zu der auf dem Fußboden liegenden Armbrust, »das darf man zwar einfach kaufen, aber man darf damit nicht auf Menschen schießen. Dafür kriege ich eine Anzeige. Und vielleicht sogar ein Verfahren. Willst du das etwa?«

Lena biss sich auf die Unterlippe.

»Eine Vorstrafe kann ich mir nicht leisten. Dann war es das nämlich mit dem Juraabschluss. Verstehst du das?«

»Aber was sollen wir sonst tun?«

»Wir machen ihn ab und verarzten ihn selbst. Das kriegen wir schon hin.«

»Und dann?«

»Dann lassen wir ihn wieder laufen. Jedenfalls, sobald wir hier fertig sind.«

Lena schüttelte den Kopf.

»Nur noch den Dreh mit dir, Lena. Das schaffen wir an einem Tag.«

»Du willst ihn solange hier behalten?«

»Sonst läuft er doch gleich selber zur Polizei. Dann könnten wir uns die ganze Mühe auch sparen. Los, komm, hilf mir. Wir machen ihn jetzt ab.«

Wieder griff Dennis zum Pfeil, diesmal mit beiden Händen, und begann zu ziehen. Lena sprang neben ihn, lehnte sich stützend gegen Jan. Der stöhnte lauter, fühlte, wie die Frau sich an ihn drückte. Sie war warm. Sie war weich. Dann dachte er wieder an seine kaputte Jacke.

»Steckt tiefer, als ich dachte«, meinte Dennis und nickte anerkennend. »Da ist richtig Zug hinter. Hätte ich nicht gedacht.«

Er hob das linke Bein und stemmte den Fuß neben der geschlossenen Tür gegen die Wand. »Weg da, Lena!« Dann zog er wieder. Seine Hände wurden feucht und begannen, am Schaft entlang zu rutschen. Doch bevor er ganz den Halt verlor, gab es einen Ruck. Sofort sackte Jans Oberkörper nach vorn. Beinahe hätte er Lena unter sich begraben, doch die junge Frau war stärker, als sie auf den ersten Blick wirkte. Sie stemmte sich gegen den erheblich größeren Mann, bis Dennis ihr half.

»Er darf sich nicht hinlegen«, sagte er. »Wenn er erst mal liegt, kriegen wir ihn so leicht nicht wieder hoch. Außerdem will ich ihn raus aus dem Flur haben. Hörst du, Kumpel, du kommst jetzt schön mit.«

Der Jurastudent legte Jans linken Arm um seine Schulter und führte ihn zurück Richtung Wohnzimmer. Vor der Tür bog er nach rechts in den Schlafzimmertrakt ab. Jans Füße schleiften über den Boden. Obwohl seine Verletzung offenbar nicht lebensgefährlich war, steckte der Schock in seinem Körper. Jan wollte sich nur setzen, besser noch hinlegen.

Lena war vorweg gelaufen, öffnete eine Schlafzimmertür und wollte den beiden Männern Platz machen, doch Dennis schüttelte den Kopf. Er hatte etwas anderes im Sinn, wollte den Flur noch zwei Türen weiter hinunter.

»Da rein?«, fragte Lena.

Dennis nickte, und Lena öffnete die Badezimmertür. Es handelte sich um ein Luxusbad, wie es in der Villa nicht anders zu erwarten gewesen war.

Eine weiße Badewanne stand auf eisernen Löwenfüßen. Die ebenerdige Dusche war groß genug für zwei und ihr Spritzschutz völlig durchsichtig. Neben der üblichen Sitztoilette gab es ein an der Wand montiertes Pissoir mit Deckel. Die gesamte Wand links neben der Eingangstür schien aus einem einzigen riesigen Spiegel zu bestehen. Darunter war ein Waschschrank mit zwei eingelassenen Waschbecken installiert. Auf der anderen Seite vom Eingang gab es noch eine Tür. Das helle Kiefernholz verriet, was sich dahinter befand. Es war eine geräumige Sauna mit zwei über Eck verlaufenden Sitzebenen.

Da die Saunatür keine Standardbreite hatte, war es für Dennis schwer, Jan hindurch zu bugsieren. Auch der noch immer in Jans Schulter steckende Pfeil erwies sich als hinderlich. Dann waren die beiden Männer endlich gemeinsam in der Sauna, und Jan durfte sich hinlegen. Die untere Sitzstufe war zwar schmaler als ein Bett, trotzdem passte Jan ganz gut darauf. Es sah allerdings einigermaßen merkwürdig aus: ein Mann mit Winterjacke und Stiefeln in einer Sauna.

»Hol mal eine Schüssel mit heißem Wasser und ein paar Handtücher«, sagte Dennis. Als Lena nicht sofort reagierte, fügte er hinzu: »Lauf, Mädchen, lauf!«