Sturmgepeitscht

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9

Jan bog auf die Hauptstraße Richtung Norden. Die Adresse, die Behrens ihm genannt hatte, lag in Kampen. Zu Fuß kaum eine halbe Stunde vom Campingplatz entfernt, mit dem Auto keine zehn Minuten. Es war unglaublich, wie nahe Jan dem Mädchen schon gekommen war, nach dem er gesucht hatte. So dicht. Und doch hatte er es nicht gefunden. Und nun war es zu spät.

Ein Hinweisschild wies auf halbem Weg zur Uwe-Düne, der höchsten Erhebung Sylts. Bei gutem Wetter konnte man von der Holzplattform auf ihrer Spitze bis zur Nachbarinsel Rømø sehen, die schon zu Dänemark gehörte. Jan war am Vortag oben gewesen. Nur aus Neugier. Wie viel Zeit hatte ihn die Aktion gekostet? Eine Stunde vielleicht? Eine Stunde, in der er nach Anna-Lena hätte suchen können.

Jan schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich auf die Straße.

Die Bebauung Kampens richtete sich hauptsächlich Richtung Festland aus. Eine mit Heide bewachsene Dünenlandschaft machte den Charakter des Ortes aus. Nur wenige Gebäude, darunter ein Restaurant und ein Hotel, befanden sich westlich der Hauptstraße. Kleine Stichwege führten zu ihnen. In ebenso einen Stichweg wurde Jan vom Navigationssystem des Wagens dirigiert. Das Haus, das er suchte, lag am Ende einer kurzen Sackgasse. Villa passte eigentlich besser.

Obwohl das Gebäude im Stil den alten Fischer- und Walfängerhäusern von Sylt nachempfunden und traditionell mit Reet eingedeckt war, konnte Jan bereits von der Straße aus leicht erkennen, dass es sich um ein Luxusdomizil handelte. Die Wohnfläche auf zwei Geschossen musste über 300 Quadratmeter betragen. Im Spitzgiebel der Eingangsfront gab es auf Höhe des Dachbodens ein Bullauge, alle anderen Fenster hatten weiße Sprossen. Die große grüne Haustür war zweiflügelig. Ein Weg aus Granitpflaster führte direkt darauf zu. Umschlossen wurde das Grundstück von einer niedrigen weiß verputzten Mauer und einer nur gelegentlich von Büschen unterbrochenen Rasenfläche.

Ein paniertes Filetstückchen.

Die Villa stand hier ganz allein. Weit und breit kein anderes Haus.

Jan hielt die Videoproduzenten für junge Männer. Vielleicht waren sie wie Anna-Lena auch Studenten. Der Schachspieler hatte eine entsprechende Andeutung gemacht, ohne es weiter auszuführen. Auf Nachfrage hatte er ausweichend geantwortet und dann das Thema gewechselt.

Jan hielt auch den Schachspieler für nicht besonders alt.

Aber wie konnten sich Studenten eine solche Unterkunft leisten? Selbst wenn es im Winter Sonderpreise gab? Die Miete konnte auch jetzt kein Pappenstiel sein.

Jan legte kurz die Stirn in Falten, während er den kurzen Weg zur beeindruckenden Eingangstür ging. Kein Name an der Klingel. Vielleicht hatte die Taxifahrerin etwas verwechselt. Anna-Lenas Gesicht zum Beispiel. Oder sie hatte einfach nur Quatsch erzählt.

Trotzdem musste Jan vorsichtig sein. Wenn die Leute, mit denen Anna-Lena angereist war, von ihrem Tod wussten, konnten sie gefährlich sein. Genau betrachtet, konnten sie sogar etwas mit dem Tod des Mädchens zu tun haben. Alles sah nach einem Unfall aus. Anna-Lena war vom Kliff gestürzt. Aber ihr Aufzug verriet, dass sie den halsbrecherischen Stunt für eine weitere Videoproduktion hingelegt hatte.

Besonders gerne würden sich die Macher des Films von einem neugierigen Journalisten keine Fragen stellen lassen. Diese zum Beispiel: Warum haben Sie das Mädchen einfach am Strand liegen gelassen?

Jan klingelte.

Niemand reagierte.

Bevor er nach Kampen gefahren war, hatte Jan einen Augenblick überlegt, Eggestein anzurufen und ihm von der Adresse zu erzählen. Wenn Anna-Lena in diesem Haus gewohnt hatte, würde das den Mann von der Kriminalpolizei natürlich interessieren. Doch dann hatte Jan sich entschieden, erst einmal selbst hinzufahren.

Jan trat einen Schritt zurück und sah zu den Fenstern. Nichts rührte sich, keine Gardine wurde bewegt.

Das Haus war verlassen.

Irgendwie war auch nichts anderes zu erwarten gewesen. Wenn die Videoproduzenten hier mit Anna-Lena gewohnt hatten, dann hatten sie sich vermutlich nach dem tödlichen Absturz des Mädchens so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht. Wenn sie denn hier gewohnt hatten.

Um ganz sicher zu gehen, ging Jan ums Haus. Der schmale Weg war eine Fortführung des Granitpflasters, das von der Straße zum Haus führte. An einem Fenster legte er ungeniert die Stirn gegen das Glas und schirmte mit den Händen das seitlich einfallende Licht ab.

Was er sah, war eine sehr teuer eingerichtete Küche. Er sah aber auch, dass auf einem Tisch und der Arbeitsfläche neben der Spüle benutztes Geschirr stand. Ein angebrochenes Paket Toast und leere Pizzaschachteln lagen herum.

Vielleicht war die Adresse doch nicht so verkehrt. Jedenfalls musste hier bis vor Kurzem jemand gewohnt haben. Und dieser jemand hatte vor seiner Abreise nicht aufgeräumt. Wenn er denn abgereist war. Schon wieder ein Wenn.

Dieser Gedanke beschäftigte Jan noch, dann sprang er reflexartig vom Fenster zurück. Direkt hinter der Scheibe war ein Gesicht aufgetaucht. Wut stand darin geschrieben. Die Augen waren weit aufgerissen, die Stirn gekraust und die Lippen fest aufeinander gepresst.

Wild gestikulierte eine Frau hinter dem Fenster und beschimpfte ihn, ohne dass Jan die Worte verstehen konnte. Das Isolierglas dämpfte die Geräusche zu sehr. Doch es war klar, dass die Frau ernsthaft böse auf ihn war. Jan war für sie nicht mehr als ein Spanner, der sich die Nase am Fenster platt drückte.

Es war aber nicht der sich über ihn ergießende Zorn, der Jan so erschreckt hatte und sein Herz rasen ließ. Es war das Gesicht selbst. Das kantige Kinn und die hohen Wangenknochen, an denen ein Luftballon bei der leichtesten Berührung zerplatzt wäre. Auch wenn es unmöglich schien: Hinter dem Fenster drohte ihm Anna-Lena Thumsen mit geballter Faust.

Auch als die Haustür aufgerissen wurde und die junge Frau zu ihm in den Vorgarten stürmte, hatte Jan die Überraschung noch nicht überwunden.

Freundinnen, dachte er. Oder sogar Schwestern. Ich darf ihr nichts sagen. Nicht einfach so. Erst mal sehen, was sie weiß.

»Was soll das? Glotzen Sie immer bei fremden Leuten durchs Fenster?«

»Ich habe vorher geklingelt.«

»Na und?«

»Ich weiß, das war trotzdem nicht in Ordnung. Aber ich habe jemanden gesucht. Und da wollte ich sehen, ob das hier das richtige Haus ist.«

»Und wer soll das sein?«

Vorsicht, Jan. Sag nicht zu viel …

»Zwei Videoproduzenten aus Hamburg. Und eine Frau.«

Das Gesagte traf ins Schwarze. Die junge Frau sah ihn abschätzend an. »Warum suchen Sie diese Leute?«

»Ich bin Journalist. Die Videos dieser Männer und der Frau sind ein echtes Phänomen. Wahnsinnige Klickzahlen. Ich will einen Artikel darüber schreiben.«

»Sie sind von der Presse?«

»Ganz genau«, bestätigte Jan. »Ich will über die Produktion schreiben. Über die Menschen, die sich so was ausdenken. Ob es weitere Projekte gibt. Und so …«

Der Blick der Frau lag auf Jans Gesicht, dann wanderte er zur Seite. Hinter seinem Rücken schwoll das Dröhnen eines starken Motors an. Als Jan sich umdrehte, sah er einen VW Amarok über den Asphalt rollen. Obwohl der Pick-up weiß lackiert war, ging allein von seinem wuchtigen Äußeren eine Art Bedrohung aus. Dazu grollte ein Sechszylinder-Turbomotor dunkel und böse.

10

Das Rollband lief mit stoischer Gelassenheit an den Fluggästen vorüber. Charlotte Sander stand mit einem in die Ferne gerichteten Blick daneben, strich sich mit Mittel- und Zeigefinger mehrfach über die Lippen und bemerkte zunächst gar nicht, wie ihr Koffer an ihr vorüberglitt. Dann schien sie wie aus einem Traum zu erwachen, ging an einigen anderen Passagieren vorbei, die sie vom Sehen aus dem Flugzeug kannte, und zog das Gepäckstück vom Transportband. Zwei Monate war sie nicht in Hamburg gewesen.

Ein Winter auf Mallorca war der Titel eines Essaybandes von George Sand ebenso wie die zur selben Zeit komponierten 24 Préludes von Frédéric Chopin. Erst im Februar 1839 war das Liebespaar in seine Heimat zurückgekehrt. Charlotte hatte die Spuren der beiden Künstler verfolgt, hatte 100e Fotos im Gepäck, die im Auftrag eines Buchverlags entstanden waren. Ihre eigene Reise war nun auch zu Ende. Oder etwa nicht?

Unruhe nagte an Charlotte. Für den Winter in Hamburg war sie zu dünn angezogen, doch auch das bemerkte sie kaum, während ihre hochhackigen Stiefel durch die Flughafenhalle zum Ausgang klackerten.

Charlotte war ein auffälliger Typ. Sie war groß, sie kleidete sich grell, ihr Kopf bestand fast nur aus Locken, und ihre Augen leuchteten in einem derart intensiven Grün, dass sie das Gesicht noch mehr als der Leberfleck über dem linken Mundwinkel dominierten. In aufrechter, geradezu stolzer Haltung zog Charlotte ihren Trolley hinter sich her. Da niemand wusste, dass sie an diesem Tag nach Hause kam, war niemand da, um sie zu begrüßen. Auch Jan nicht.

Jan.

Dachte Charlotte an seinen Namen, dann dachte sie automatisch auch an sein Gesicht. Und an seine Hände.

Sie musste mit Jan sprechen. Am besten sofort.

Mit der Rolltreppe fuhr Charlotte zum S-Bahnhof hinunter. Die hell erleuchtete Stadt glitt während der Zugfahrt hinter den Fenstern vorbei. Etwas Regen schlug gegen die Scheiben. Am Hauptbahnhof stieg Charlotte in die Bahn Richtung Harburg um. Zwischenzeitlich hatte sie ihre Jacke aus dem Koffer geholt.

Der Winter auf Mallorca war auch nicht warm, im Gegenteil, häufig regnerisch und trüb, doch das Klima der Mittelmeerinsel war trotzdem kein Vergleich zu den Temperaturen in Hamburg. Ein kalter Atem zog durch die Stadt. Die Leute in der S-Bahn waren entsprechend vermummt: dicke Stiefel, dicke Jacken, Wollmützen. Charlotte fand einen Sitzplatz, stellte den Rollkoffer vor ihre Knie.

 

Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder hier zu sein. Irgendwie falsch.

Vermutlich würde sich dies bald geben. Denn sie hatte so etwas schon früher erlebt. Nach Flugreisen brauchte Charlotte immer eine Weile, um auch gefühlsmäßig wieder in der Heimat anzukommen. Sie hoffte, dass es auch diesmal so sein würde. Aber sie wusste es nicht mit Bestimmtheit. Denn einiges hatte sich geändert. Die Charlotte Sander, die vor zwei Monaten nach Spanien geflogen war, war eine andere gewesen.

11

Ohne ihr Gepäck erst nach Hause zu bringen, ließ Charlotte sich mit einem Taxi vom Harburger Bahnhof direkt in den Hafen fahren. Sie wollte Jan sofort sehen. Zwei Monate war sie fort gewesen. Bilder und Erinnerungen schossen ihr während der Fahrt durch den Sinn.

Mallorcas Olivenhaine im Winter. So trostlos und doch erhaben. Dann das Weihnachtsfest, das so anders als in Deutschland gefeiert wurde. Statt eines Tannenbaums wurde zu Heiligabend eine Krippe im Haus aufgebaut. Den Abend verbrachte man mit Essen, Trinken und viel Lachen. Geschenke gab es da noch keine, die wurden erst im Januar gebracht, zum Festtag der Heiligen Drei Könige. Diese erreichten am Abend des fünften Januars auf geschmückten Schiffen das Land. Ein jubelnder Tross zog anschließend mit Karren voller Geschenke durch die Straßen. Am nächsten Morgen fanden die Kinder ihre Gaben zu Hause im Wohnzimmer vor.

George Sand und Frédéric Chopin waren bei ihrem Aufenthalt auf der Insel nicht sehr glücklich. Als nicht verheiratetes Paar wurden sie 1838 von den meisten Einheimischen mit nur wenig Herzlichkeit empfangen. Ganz anders war es Charlotte ergangen. Die Freundlichkeit, mit der die Insulaner sie behandelten, war überwältigend.

Zu den meisten Fotolocations war Charlotte allein mit ihrem Mietwagen gefahren. Immer hatte sie das Buch von George Sand dabei. Sie wollte die Stimmung spüren, die diese über 100 Jahre alten Texte durchdrang, um so die richtigen Fotos zu schießen. Doch manchmal war auch Javier Moreno bei ihr, ein Lokaljournalist, den ihr der Buchverlag als Unterstützung zur Seite gestellt hatte, oder Lucia, Javiers zwei Jahre ältere Schwester. Beide kannten Wege und Orte, die Charlotte allein niemals gefunden hätte. Und beide waren überaus liebenswerte Menschen. Wie liebenswert, hätte Charlotte zu Anfang selbst nicht gedacht.

Das Taxi schlängelte sich vom Harburger Hafen die Straße am Deich entlang. Seit etwas mehr als einem Jahr wohnte Jan in der ehemaligen Kirche, die eine Evangelistengemeinde am Ufer der Süderelbe gebaut und dann nach einer Weile wieder verlassen hatte. Es handelte sich zweifellos um ein ungewöhnliches Zuhause. Die ersten Monate hatte Jan dort ganz allein gewohnt, doch dann zog er sich in die im ersten Stock liegende Einliegerwohnung zurück, die ursprünglich für den Verwalter des Gebäudes vorgesehen war, und überließ den großen Gemeindesaal Christian Freitag für sein Lauffeuer.

Christian hatte bereits mit Jan und Charlotte beim Harburger Tageblatt zusammengearbeitet, bevor dieses wegen sinkender Zahlen bei Lesern und Werbekunden eingestellt wurde. Nach einer kurzen Gründungsphase brauchte Christian dringend einen Ort, wo er sein neues Online-Magazin Lauffeuer produzieren konnte. Die Mieten in Harburg oder auch andernorts waren für das finanziell ohne Reserven arbeitende Lauffeuer zu hoch. Jan hingegen verlangte fast keine Miete. Er war froh, nicht mehr allein in dem riesigen Gebäude zu sein und gleichzeitig einem Freund helfen zu können.

Die ehemalige Kirche stand einsam in der Gegend. Ohne Kirchturm trotzte sie wie mit eingezogenem Kopf Wind und Regen. Manchmal konnte man sie wegen des Nebels, der von der Süderelbe heraufkroch, gar nicht sehen. Doch als sich das Taxi ihr heute näherte, lag sie in einer der im Februar seltenen Sonnenstunden da. Die neben dem Gebäude geparkten Autos sagten Charlotte, dass in der Redaktion gearbeitet wurde. Jans Auto konnte sie allerdings nicht entdecken.

Charlotte bezahlte den Taxifahrer, ließ sich ihren Koffer geben und schlich die Treppe zur Einliegerwohnung hinauf, ohne vorher in der Redaktion Hallo zu sagen. Sie mochte die Mitarbeiter des Lauffeuers zwar sehr, im Moment wollte sie aber nur mit Jan reden.

Die Tür zur Wohnung war abgeschlossen. Das war schon mal ungewöhnlich. Normalerweise verließ Jan sich darauf, dass alle, die zur Haupteingangstür im Erdgeschoss hereinkamen, in die Redaktion wollten und sich nicht nach oben zu ihm verirrten. Er schloss die Wohnung eigentlich nur dann ab, wenn er plante, über Nacht weg zu sein. Und das geschah wiederum in der Regel nur dann, wenn er bei Charlotte schlief.

Charlotte holte den Schlüssel aus der Handtasche, den Jan ihr überlassen hatte, schloss die Tür auf und betrat die Wohnung, die beinahe auch ihre eigene geworden wäre. Sie hätte nur ja sagen müssen, als Jan sie nach dem Kauf der Kirche gefragt hatte, ob sie mit ihm hier einziehen wolle. Dazu war es zwar nie gekommen. Trotzdem hatte sie sich in der Zeit, die sie hier schon mit ihm verbracht hatte, an die Wohnung gewöhnt.

Von einigen Fenstern konnte man direkt zur Süderelbe sehen und den Schiffsverkehr verfolgen. Ein anderes Fenster, es gehörte zur Küche, gab den Blick ins Innere des Gebäudes frei, sodass Jan und Charlotte beim Frühstück hinunter in den alten Gemeindesaal und somit in die heutige Redaktion des Lauffeuers sehen konnten.

Charlotte fragte halblaut, ob jemand zu Hause sei. Dann ging sie zum Badezimmer und zum Schlafzimmer. Ein Blick durch das Küchenfenster hinunter in die Redaktion sagte ihr, dass Jan auch dort nicht war. Automatisch hatte sie schon ihr Telefon in der Hand. Dann steckte sie es wieder weg. Sie war gekommen, um persönlich mit ihm zu reden. Mit ihm telefonieren hätte sie auch von Mallorca aus gekonnt. Also machte sie sich einen Tee und setzte sich an den Küchentisch, um auf Jan zu warten.

12

Zwei Personen saßen im Pick-up. Der Wagen hielt am Ende der Sackgasse, und die Fahrertür schwang auf. Die junge Frau aus der Reetdachvilla ging darauf zu.

Jan schätzte den Mann, der aus dem Auto stieg, auf Mitte 20. Er hatte ein spitz zulaufendes Kinn und leichte Grübchen in den schmalen Wangen. Seine Hautfarbe wirkte selbst auf die Entfernung ungewöhnlich gesund. Die Kleidung des Burschen schien teuer und neu. Winterstiefel, gefütterte Hose, abgesteppte Daunenjacke. Outdoorkleidung aus dem Fachgeschäft.

»Wer ist das?«, fragte der Mann und sah an der jungen Frau vorbei zu Jan.

»Presse«, sagte sie. »Aus Hamburg. Er will über euch schreiben.«

»Wie, über uns?«

»Frag ihn selbst.«

Der junge Mann machte eine ausholende Armbewegung, um seinen Beifahrer zum Aussteigen zu veranlassen. Zögernd wurde die Fahrzeugtür geöffnet. Ein zweiter Mann trat auf die Straße. Er war genauso gut gekleidet wie sein Freund, trug dazu noch eine Wollmütze mit Krempe. Doch anders als bei dem Kerl in der Daunenjacke wirkte sein Gesicht blass wie ein Fischbauch.

»Was ist mit Hauke los?«, fragte die junge Frau. »Hat er getrunken?«

»Dem geht’s gut«, antwortete der Angesprochene.

»Und wo ist Anna? Warum ist sie nicht bei euch?«

»Ich erkläre es dir drinnen.«

Der junge Mann ging zu seinem Freund und griff nach dessen Ellenbogen. Doch der Junge, den die Frau Hauke genannt hatte, ließ sich das nicht gefallen. Er machte einen unsicheren Schritt nach rechts. Nun war auch Jan davon überzeugt, dass der Junge trotz der frühen Nachmittagsstunde bereits ziemlich betrunken war.

Hauke konnte zwar einigermaßen geradeaus auf die Villa zugehen, doch es war ihm anzusehen, wie viel Konzentration ihn das kostete. Wortlos stiefelte er an Jan vorbei. Dann folgte der andere Mann. Er hatte dem Mädchen eine Hand auf den Rücken gelegt und schob es ebenfalls zum Haus.

»Geh rein, es ist kalt«, sagte er, bevor er, die Hände in die Jackentaschen steckend, bei Jan stehen blieb. »Ich bin Dennis. Und Sie heißen wie?«

Jan sagte seinen Namen.

»Lena meint, Sie sind von der Presse?«

Langsam nickte Jan. Lena also. Nun war alles klar.

Bei der Videoclip-Datei, die Jan sich schon so oft angesehen hatte, stand im Quellcode die Bezeichnung »Anna-Lena«. Die ganze Zeit hatte Jan gedacht, dass es sich dabei um den Namen einer einzelnen Person handelte. Selbst als Maria Fernandez im Studentenwohnheim immer nur von Anna statt von Anna-Lena gesprochen hatte, dachte er, dies sei die Abkürzung für einen Doppelnamen. Anna-Lena war auf Dauer etwas zu lang. Doch nun war klar, dass der Bindestrich zwischen Anna und Lena ein Plus hätte sein müssen. Also Anna + Lena.

Aber ein Plus ist ein Sonderzeichen, dachte Jan. Viele Systeme akzeptieren das bei einer Dateibenennung nicht.

In dem Video, das er kannte, waren vermutlich Anna und Lena zu sehen. Beide Frauen. Jan war aber nie ein Unterschied aufgefallen. Es waren also höchstwahrscheinlich doch Schwestern. Vielleicht sogar Zwillinge.

Lena war an der offenen Haustür stehen geblieben, hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Freundschaftlich legte Dennis Jan nun eine Hand auf die Schulter.

»Sie wollen über uns schreiben? Das finde ich gut«, sagte er. »Wollen Sie eben mit reinkommen? Dann erzähle ich Ihnen ein bisschen was. Vielleicht ist das ja gute Werbung für uns.«

Das Lächeln des Burschen gefiel Jan nicht. Trotzdem nickte er.

Dennis nickte ebenfalls. Zusammen mit Jan machte er ein paar Schritte auf Lena zu, dann stoppte er. »Ach, ich habe noch was im Auto vergessen. Gehen Sie schon mal rein. Ich komme gleich nach.«

Jan sah Dennis dabei zu, wie er zurück zum Wagen eilte. Unterwegs hob dieser noch einmal den Arm als Zeichen dafür, dass alles in Ordnung sei.

»Sind Sie gute Freunde?«, fragte Jan die junge Frau, die noch immer an der Eingangstür wartete. Doch Lena ging ins Haus, ohne zu antworten.

13

Die Einrichtung der Villa hielt, was das Gebäude von außen versprach. Der Vorflur war für ein gewöhnliches Haus viel zu groß. Breit schwang sich rechts eine Tropenholztreppe in den ersten Stock hinauf. Links neben einer Gästetoilette stand ein großer Garderobenraum offen. Jan sah einige Schuhe und Stiefel. Geradeaus führten zwei weitere Türen vom Flur ab. Links musste es zur Küche gehen. Auch diese Tür stand offen. In der Mitte gab es eine doppelt so breite zweiflügelige Tür. Sie führte in den Wohn- und Essbereich. Rechts davon sah Jan einen weiteren Gang in einen Seitentrakt der Villa abgehen.

Lena führte Jan in ein riesiges Wohnzimmer. Eine schwarze Ledergarnitur mit verchromten Armlehnen bildete das Zentrum des Raums. Rechts von den Sitzmöbeln baute sich ein großer Kamin auf. Eine Panoramascheibe bot den Blick auf eine Terrasse von imposanten Ausmaßen. Obwohl Jan es wegen der Dünen nicht sehen konnte, glaubte er, dass man auf der Terrasse bei auflandigem Wind das Meer hören musste. Durch eine kleine Stufe vom Wohnzimmer getrennt, gab es einen Essbereich mit einer weiteren Tür zur Küche. Auf diesem Absatz thronte ein schmaler, langer Tisch mit acht Stühlen.

Über die Schulter zurückblickend sah Jan, wie Dennis seine Outdoorjacke in den Garderobenraum brachte und dann mit einer großen Sporttasche ebenfalls ins Wohnzimmer kam. Er stellte die Tasche auf einen niedrigen Beistelltisch, ohne sich dafür zu interessieren, ob sie vielleicht die polierte Oberfläche zerkratzte.

»Wo ist Anna?«, fragte Lena erneut, und ihr Blick sagte, dass sie sich bei der Antwort nicht noch einmal vertrösten lassen würde.

Jan hatte Anna am Vormittag gesehen. Er hatte neben ihrem zerschmetterten Körper gekniet und der Toten sogar ins Gesicht gesehen. Lena konnte das nicht ahnen. Und Jan hielt es nicht für klug, es ihr gerade jetzt zu sagen. Vielleicht war es sogar gefährlich. Besser, niemand wusste, dass er über den Tod des Mädchens Bescheid wusste. Noch nicht.

»Anna geht’s gut«, sagte Dennis und wiederholte damit dasselbe, was er bereits draußen behauptet hatte.

»Wo ist sie?«, beharrte Lena auf eine genauere Antwort.

»Im Hotel«, meinte Dennis.

»Im Hotel? Wieso denn das? Und in welchem Hotel?«

»Beruhige dich erst mal, Lena. Was ist denn los?«

»Warum ist Anna nicht bei euch?«

»Wegen des Spiels. Das weißt du doch.«

»Was ist mit dem Spiel? Hat sie es geschafft?«

Dennis nickte. »Sie war große Klasse. Sie war schneller als wir. Sie hat den Schatz gefunden. Und morgen schaffst du das vielleicht auch.«

 

Dennis trat auf Lena zu und umfasste mit den Händen ihre Oberarme. »Sie soll dir doch nichts verraten können. Deshalb haben wir sie ins Hotel gebracht. Die Sache soll total fair laufen. Verstehst du? Unter denselben Voraussetzungen. Aber wenn sie dir aus Versehen etwas erzählt, dann geht das ja nicht.«

Lena atmete tief durch. »Okay, das verstehe ich. Aber warum muss sie dafür ins Hotel? Wir haben hier genug Zimmer. Sie hätte doch heute Abend oben bleiben können und ich hier unten. Dafür hättest du sie doch nicht ins Hotel bringen müssen.«

»Ich finde es besser so. Und Hauke auch.«

»Wieso ist der so betrunken?«

»Keine Ahnung. Hatte er eben Bock drauf. Was weiß ich«, meinte Dennis. »Nachdem wir Anna abgeliefert haben, wollten wir uns an der Hotelbar nur kurz von innen aufwärmen. Na ja, du hast ihn ja gesehen. Hauke hat es dabei ein bisschen übertrieben. Lass ihn mal pennen. Danach wird er dir dasselbe erzählen wie ich.«

»Kann ich Anna kurz anrufen?«

»Nein.« Dennis schüttelte den Kopf. »Wir belassen es bei den Regeln so, wie sie sind. Kein Informationsaustausch zwischen den Spielen.«

Lena schüttelte den Kopf. »Das ist doch blöd.«

»Finde ich nicht«, erwiderte Dennis achselzuckend. Dann wandte er sich abrupt zu Jan um und signalisierte damit, dass er das Thema für beendet hielt.

»Jan Fischer?«, sagte er. »Wie sind Sie auf uns gekommen? Verdammt, wie haben Sie uns überhaupt gefunden?«