Sturmgepeitscht

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4

Schlicht Smutje prangte in magentafarbenen Leuchtbuchstaben auf dem Dach. Das Restaurant stand kaum 20 Meter von der Abbruchkante des Kliffs entfernt. Es bestand fast ausschließlich aus Holz und Glas. Der Wind zerrte an fest vertäuten Planen, die zeltähnlich über eine Außenterrasse und Teile eines Wintergartens gespannt waren. Sonnenschutz, dachte Jan. Durch das Knarren und Ächzen, mit denen sich die Halteseile gegen den Wind stemmten, fühlte Jan sich an Segelschiffe erinnert und irgendwie auch an die Verhüllungsaktion vom Reichstag in Berlin durch Christo und Jeanne-Claude. Ein befestigter Weg führte quer durch eine Grünfläche auf das ungewöhnliche Gebäude zu. Die Fenster waren beleuchtet, was besonders einladend aussah.

Im Gastraum des Smutje saßen bereits einige Gäste. Trotzdem war zur Mittagsstunde bei Weitem nicht so viel los wie abends. Eggestein führte Jan in den Wintergarten, der als Erweiterungsraum für das Lokal diente. Hier waren die Tische und Bänke etwas rustikaler als im Hauptgebäude.

Die Heizpilze, die Jan bereits am Vorabend gesehen hatte, veranlassten Eggestein, den Reißverschluss seines Parkas aufzuziehen. Jan tat es ihm mit seiner neuen Jacke gleich. Sie hatten sich gerade erst gesetzt, als ein äußerst adrett gekleideter Mann auf ihren Tisch zuschritt. Seine dunkelblaue Hose war modisch aufgeschlagen. Über einem weißen Hemd mit einer zweifarbigen Krawatte trug er eine graue Weste und ein senffarbenes Jackett. Ein Bart umrahmte den unteren Teil seines Gesichtes, jedes Haar schien einzeln gelegt, doch besonders auffällig war sein klarer Blick.

»Der Smutje«, sagte Eggestein, noch bevor der Mann den Tisch erreicht hatte. Jan nickte kurz. Schon war der Namensgeber des Lokals bei ihnen und streckte Jan die Hand entgegen.

»Sie vergeben mir hoffentlich, dass ich Herrn Eggestein von Ihrem gestrigen Besuch hier berichtet habe. Aber Gäste haben mir von dem toten Mädchen am Strand erzählt, und meine Mitarbeiter hatten mir von dem Foto erzählt, das Sie allen gezeigt haben.«

Er sagte tatsächlich Mitarbeiter statt Angestellte. Automatisch fragte Jan sich, ob der Mann ein so guter Chef war, wie er tat. Trotzdem nickte er und sagte, dass das kein Problem sei. »Aber woher wussten Sie, wo ich zu finden bin?«

Der Smutje öffnete vielsagend die Hände. »Wir leben auf einer Insel.«

»Und auf der entgeht Ihnen offenbar nichts.«

Erneut zeigte der Wirt die geöffneten Hände.

»Ist der Vermieter vom Campingplatz ein Freund von Ihnen?«

»Natürlich. Und Nils hier ist es auch.« Der Smutje legte eine Hand auf Eggesteins Schulter, der im Sitzen noch genauso groß war wie der neben ihm stehende Mann. »Ich würde mich gerne dazusetzen. Hast du was dagegen, Nils?«

Eggestein zuckte mit den Schultern. Deshalb sah der Smutje Jan an.

»Wenn Sie sowieso alles erfahren, was auf der Insel läuft …«

»So ist es«, erwiderte der Smutje mit einem Lächeln, zog einen Stuhl heran und setzte sich an das Kopfende des Tisches. Dann durfte Jan mit seiner Geschichte beginnen.

Wer war das Mädchen? Was wusste er über sie? Als er erzählt hatte, wie sich seine Recherchen in den letzten paar Tagen abgespielt hatten, und er mit dem Besuch im Studentenwohnheim bei Maria Fernandez endete, sahen Eggestein und der Smutje sich gegenseitig an.

»Das ist alles.«

Eggestein rümpfte die Nase. »Zwei Männer also. Und mit denen soll diese Anna-Lena nach Sylt gekommen sein.«

»So hat es Maria Fernandez erzählt.«

»Wissen Sie, wie die beiden Männer heißen?«

»Nein.«

»Wo wohnen sie?«

»Keine Ahnung. Wenn ich das wüsste, wäre ich bestimmt nicht mit dem Bild in der Gegend herumgelaufen und hätte nach Anna-Lena gesucht.«

»Nein«, stimmte Eggestein zu. »Aber vielleicht haben Sie sie ja irgendwann gefunden. Das könnte doch sein.«

»Glauben Sie das etwa?«

»Was glauben Sie, hat sie da am Strand gemacht?«, fragte Eggestein.

»Na, geklettert«, mischte der Smutje sich ein. »Die Gäste haben gesagt, sie würde genau vor der Steilwand liegen. Also entweder ist sie von oben abgestürzt oder sie ist geklettert.«

»Das Mädchen ist fast nackt«, meinte Eggestein dazu. »Knappe Hose und BH, sonst nichts. Barfuß. Wer klettert denn so ins Kliff?«

Der Smutje runzelte kurz die Stirn. »Was die Leute eben so machen, wenn sie Langeweile haben.«

»Geben Sie mir noch mal Ihr Handy«, bat der Polizist. Jan reichte es ihm. Eine Weile sah Eggestein das Foto an. »Und das da am Stirnband ist eine Kamera, sagen Sie?«

»Eine Actioncam«, stimmte Jan zu. »Benutzen Sportler, um spektakuläre Bilder zu produzieren. Die hat man zuerst hauptsächlich im Profibereich eingesetzt, also Wellenreiter, Fallschirmspringer, Motocrosser. Zur Sponsorensuche und für die Werbung. Doch mittlerweile sind die Kameras in Massen auf dem Markt. Und billig. Also hat heute fast jeder Mountainbiker so ein Ding am Kopf.«

Eggestein wusste, was Jan meinte. »Habe ich schon gesehen. Und solche Filme auch. Machen Spaß.«

Jan stimmte zu.

Dann meinte Eggestein: »Aber das Mädchen da unten am Strand hatte kein Stirnband mit einer Actioncam. Oder haben Sie eine Kamera gesehen?«

Jan schüttelte den Kopf.

»Hier auf dem Foto hat sie eine.«

Der Smutje beugte sich vor und sah über Eggesteins Schulter auf das Display von Jans Telefon.

»Für mich sieht es aus«, sprach der Polizist weiter, »als hätte sie auf dem Foto hier dieselben Klamotten an wie heute auch. Also diesen Sport-BH – man sieht auf dem Foto zwar nicht viel davon, doch ich glaube, es ist genauso ein BH. Stellt sich also die Frage, wo das Stirnband mit der Kamera ist.«

»Da müsst ihr wohl alles noch mal ordentlich absuchen«, empfahl der Smutje. »Denn wenn ihr die Kamera findet, wisst ihr, wie alles passiert ist. Das wäre ziemlich praktisch, würde ich sagen.«

Eggestein nickte. »Es sei denn, jemand hat sie ihr weggenommen.«

»Das wäre dann weniger praktisch«, meinte Jan. Der Polizist und der Smutje sahen sich wieder gegenseitig an, dann drehte Eggestein seinen Blick zurück zu Jan und ließ ihn dort ruhen.

»Ich möchte, dass Sie die Insel nicht verlassen, ohne mir vorher Bescheid zu geben«, sagte der Polizist schließlich. »Lässt sich das einrichten?«

Es klang wie eine Frage. Doch auch diesmal war es keine.

5

Das Angebot, mit einem Streifenwagen zurück zum Campingplatz gefahren zu werden, lehnte Jan ab. So weit war es zu Fuß nicht, und er konnte den Spaziergang gut gebrauchen, um seine Gedanken zu ordnen. Der Wind, der ihm um die Nase wehte, holte ihn ein Stück in die Wirklichkeit zurück. Das Gespräch mit Eggestein und viel mehr noch der Anblick der toten Anna-Lena am Strand hatten ihn heftiger mitgenommen, als er es sich zunächst eingestehen wollte.

Anna-Lena Thumsen war nicht die erste Tote, die er gesehen hatte. Für einen Lokalreporter gehörten Blaulichtgeschichten zum Geschäft. Nicht selten war Jan für das Harburger Tageblatt an Unfallstellen und Orten von Verbrechen gewesen. Manchmal schon, bevor es zum Abtransport der Toten gekommen war. Er hatte Erschossene, Erstochene und Ertrunkene gesehen. Und trotzdem hatte ihn das Bild der toten Anna-Lena mehr erschüttert als alle anderen Toten bisher.

Jan wusste auch, warum. Er kannte ihren Namen, ihr Gesicht und einen Teil ihrer Lebensgeschichte, schon bevor Anna-Lena gestorben war. Bei allen anderen Toten, über die er in der Zeitung berichtet hatte, war es andersherum gewesen.

Er dachte daran, dass Anna-Lena noch gelebt hatte, als er auf der Insel ankam. Wenn er mit seinen Nachforschungen schneller gewesen wäre, wenn er sie wirklich gefunden hätte, würde sie dann vielleicht noch leben?

Was, wenn er doch in ihr Wohnheimzimmer gekommen wäre? Vielleicht eine hingekritzelte Notiz gefunden hätte? Vielleicht einen Name oder eine Adresse auf Sylt. Er hätte Maria Fernandez weiter bearbeiten müssen. Vielleicht sogar bestechen. Jan war überzeugt davon, dass sie einen Ersatzschlüssel für Anna-Lenas Zimmer hatte. Stattdessen hatte er seine eigene Spürnase überschätzt und war ohne direkte Spur nach Sylt gefahren. Hatte er deshalb Mitschuld an Anna-Lenas Tod? Der Gedanke war irrational, trotzdem fühlte es sich so an, als würde er stimmen.

Langsam ging Jan an der Anmeldung vom Campingplatz vorbei. Als er den alten Martens in der Nähe des Flachbaus mit den Sanitäranlagen sah, hob dieser grüßend den Arm. Zuerst wollte Jan wortlos weitergehen, dann entschied er sich anders. Er war plötzlich ärgerlich auf den Verwalter, hatte der ihn doch quasi verraten. Wen ging es etwas an, dass Jan auf dem Campingplatz wohnte? Warum erzählte Martens dies in der Gegend herum?

6

Der Mann, dem Sonne und Wind das Gesicht seit gut 70 Jahren gegerbt hatten, steckte in einer Arbeitshose und einem an den Ärmeln zerschlissenen Wollpullover.

»Wie ich höre, sind Sie und der Smutje vom Kliff gute Freunde«, konfrontierte Jan den überrascht blickenden Mann ohne vorherige Begrüßung. Es klang wie eine Beschuldigung und war auch so gemeint.

»Wer sagt denn so was?«

»Der Smutje.«

»Der Smutje? So ein Blödsinn. Wir sind keine Freunde, das können Sie mir glauben.«

»Und woher weiß er dann, dass die Polizei mich hier finden kann? Zu mir hat er gesagt, Sie hätten es ihm erzählt.«

Martens machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der erzählt mal dies und mal das, dreht die Dinge, wie sie ihm gefallen.«

»Sie meinen, der Smutje lügt?«

Martens zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie es so nennen wollen. Ich glaube, Leute wie er nennen das einen kreativen Umgang mit den Fakten. Aber vielleicht hat jemand Ihren Wagen am Tor gesehen. Gibt hier ja im Winter nicht so viele Autos mit HH. Und das hat der dann dem Smutje gesteckt.«

 

»Und der hetzt prompt die Polente auf mich?«

»Hat er das?«

Jan nickte, erzählte dann in knapper Form von Anna-Lena Thumsen und was ihn mit der Toten verband, während er mit dem alten Mann ein paar Meter über den Platz ging. Martens hörte aufmerksam zu. Dann blieb er auf Höhe einer einsamen Birke stehen. Der Baum hatte schon bessere Tage gesehen. Aber da er der einzige auf dem Campingplatz war, störte das hier niemanden. Martens zog ein Stofftaschentuch aus der Hose und schnaubte hinein. Umständlich knüllte er es wieder zusammen und steckte es weg.

»Das mit dem Mädchen tut mir leid«, sagte er, nachdem er das Zeremoniell beendet hatte. »Davon habe ich noch gar nichts gehört. Wann ist das passiert?«

»Am Vormittag. Aber offenbar hat niemand etwas gesehen. Jedenfalls glaubt Kommissar Eggestein jetzt, dass ich was mit der Sache zu tun haben könnte.«

»Haben Sie?«

Jan hob die Augenbrauen. »Natürlich nicht. Ich war hier im Wohnwagen.«

»Dann ist es doch gut.«

»Finde ich gar nicht.«

»Eines müssen Sie wissen: Der Smutje denkt nur ans Geld scheffeln. Da kann er noch so vornehm tun«, sagte Martens. »Die Restaurantgeschichte ist ja nur ein Hobby. Die richtige Kohle macht der feine Herr mit Immobilien. Hier, den Campingplatz wollte er sich auch schon unter den Nagel reißen, aber das hat nicht geklappt. Deshalb ist er heute noch sauer auf mich.«

Jan versuchte, das Gehörte einzuordnen. »Der Smutje wirkt so entspannt und freundlich. Auch wie er mit seinem Personal umgeht.«

Martens lachte auf. »Wenn er gut ist in dem, was er macht, muss er wohl so wirken. Sie sind nicht der Erste, der auf seine freundliche Art reinfällt. In Wahrheit sind der Smutje und Seinesgleichen doch verantwortlich dafür, dass hier alles den Bach runtergeht.«

Jan brauchte nichts dazu zu sagen, ein fragender Blick reichte, um Martens zum verbalen Rundumschlag ausholen zu lassen. Offenbar lagen bei dem Mann die entsprechenden Nerven blank. »Na, gucken Sie mal, was die aus der Insel gemacht haben. Nur noch Ferienwohnungen und Appartementanlagen, Golfplätze und Luxusherbergen. Die normalen Leute können sich das hier nicht mehr leisten. Gibt fast keine Kinder mehr. Wie auch? Sogar die Geburtsabteilung im Krankenhaus haben sie dichtgemacht. Weil es sich nicht mehr gelohnt hat. Kapiert?«

»Und das ist die Schuld vom Smutje?«

»Der Smutje, die Klenke und wie die ganzen Immobilienhaie sonst noch heißen. Wissen Sie, wie die das nennen, was sie machen? Na?«

Jan wusste es nicht.

»Filetieren und panieren. Ja, genau, mein Freund. Alles kleinhacken und in Häppchen verscherbeln. Wie hier mit dem Platz. Aber da hab ich nicht mitgemacht. Sonst wäre ich jetzt auch millionenschwer, das können Sie mir glauben. Aber da mache ich nicht mit.«

»Der Platz gehört Ihnen?«

»Klar ist das meiner. War schon immer in Familienbesitz. Und so wird das auch bleiben, solange ich noch lebe. So sieht das nämlich aus.« Martens holte erneut sein Stofftaschentuch aus der Hose und putzte sich die Nase. »Zuerst haben sie es ja mit diesem Wolkenkratzerding versucht. In den 70ern. Weiß heute fast keiner mehr. Aber die wollten tatsächlich ein Hotel mit 33 Stockwerken an den Strand stellen. 100 Meter hoch. Stellen Sie sich das mal vor. 100 Meter. Und mit über 1000 Parkplätzen in einer Tiefgarage. Ein Wahnsinn. Aber da haben sie nicht mit mir gerechnet. Wir haben ’ne schöne Bürgerinitiative gegründet. Ja, ja. Da hatte ich noch mehr Mumm in den Knochen als heute.«

Martens grinste kurz. »Haben wir denen schön versaut. Danach haben der Smutje und die Klenke angefangen, alles, was sie sich unter den Nagel reißen konnten, in kleine Häppchen zu hacken und Reibach zu machen. Hat zwar etwas länger gedauert, aber wir sehen ja, was wir heute davon haben: den höchsten Quadratmeterpreis von ganz Deutschland.

Und Sie haben gedacht, den gibt’s in München oder Frankfurt, was? Quatsch. Hier bezahlen die Leute sich dumm und dämlich. Hier parken die Reichen ihre Vermögen. Und die meiste Zeit des Jahres stehen die Wohnungen und Häuser dann leer. Ist das noch anständig, hä? Aber ich rege mich schon wieder auf. Das will ich eigentlich gar nicht mehr. Ist nicht gut für meine Pumpe.«

Martens hob den Blick und besah die geschlossene Wolkendecke. »Ich muss jetzt sowieso weitermachen. Schlechtwetter kommt auf. Da muss ich alles sturmfest machen.«

Jan folgte Martens Blick zum Himmel. Der war zwar grau, sah aber nicht viel anders als die Tage zuvor aus. »Sicher?«

»Sicher kann man sich nie sein«, meinte Martens nun wieder lachend und strich sich über den Bart. »Aber die vom Wetterdienst haben Orkan angesagt. Und da stellt man sich doch besser mal auf ein bisschen mehr Wind ein. Ich komme nachher auch noch mal bei Ihrem Wagen vorbei. Dann gucken wir zusammen, ob alles in Ordnung ist. Wir wollen ja nicht, dass Sie damit abheben, was? Nein, das wollen wir nicht.«

Lachend marschierte der Mann in seiner abgewetzten Hose und dem blauen Wollpullover über den Schotterweg davon. Einen Millionär hatte Jan sich immer anders vorgestellt. Als Martens aus seinem Blickfeld verschwand, sah Jan wieder nach oben. Nun bemerkte auch er, wie die Wolken vom Wind gejagt wurden.

7

Jan brühte sich einen Kaffee auf und stellte sich dabei die Frage, wie er weitermachen sollte. Anna-Lena war tot, aber war mit ihr auch die Story gestorben? So pietätlos es klang, ihr Tod machte alles nur noch dramatischer. Die Videos und ihre unverhohlene Sensationslust waren bereits eine Geschichte wert gewesen, aber nun …

War es unanständig, wenn Jan weiter nach den Produzenten der Filme suchte? Durfte er einen Artikel über sie schreiben, obwohl Anna-Lena einen so schrecklichen Tod gefunden hatte? Oder musste er es gerade deswegen tun?

Jan blickte aus den niedrigen Fenstern. Plötzlich kam es ihm in dem Wohnwagen viel dunkler und auch kleiner vor als bei seiner Ankunft. Für eine Weile schloss er die Augen, dann gestand er sich ein, dass er um Anna-Lena trauerte. Auch wenn das verrückt war. Er hatte sie nie getroffen. Er kannte sie nur aus einem kleinen Filmchen. Das war alles. Trotzdem trauerte er um sie.

Wie konnte es zu ihrem Tod kommen? Warum war er nicht schneller gewesen?

Die Quelle, durch die Jan auf die Internetvideos aufmerksam gemacht wurde, hatte sich fast so geheimnisvoll wie Deep Throat aus der Watergate-Affäre gegeben. Statt sich – wie sein Vorbild – mit einem Journalisten in einer Tiefgarage zu treffen, hatte er die Chat-Funktion einer Schach-App fürs Smartphone gewählt. Jan musste sich bei der App registrieren. Der Unbekannte forderte ihn zu einem Spiel auf. Nachdem Jan die Partie angenommen hatte, konnten sie fernab der üblichen Messenger-Dienste miteinander korrespondieren. Jan bekam mehrere Links zu Videodateien. Der Unbekannte schrieb, dass er sich Sorgen um das mit dem Paintballgewehr gejagte Mädchen mache. Warum er besorgt war, schrieb er nicht. Da war Jans Interesse aber auch schon so weit geweckt, dass er nicht weiter nachhakte.

Während der aufkommende Wind die Fensterdichtungen des Campingwagens prüfte, klappte Jan sein Notebook auf und öffnete noch einmal den nun schon so oft gesehenen Film.

Eine Kamera schwenkte über verlassene Betonbauten und einen großen leeren Platz. Nur Steine und Asphalt. Löwenzahn fraß sich durch winzige Fugen. Je ein Baum links und rechts des großen Platzes. Dann konnte man Anna-Lena sehen. Jedenfalls einen Teil von ihr. Ein Turnschuh sprang großformatig ins Bild.

Schnitt auf eine zweite, erhöhte Kamera. Totale vom menschenleeren Platz. Das Mädchen presste sich an eine Häuserecke, guckte darum herum, schien zu überlegen.

Obwohl nicht viel passierte, lag eine unaussprechliche Spannung in der Luft.

Plötzlich rannte Anna-Lena los, schlug ein paar Haken, rannte weiter. Sie trug nur die Turnschuhe, eine unfassbar kurze Hose und einen Sport-BH.

Plötzlich schlug neben ihr etwas auf dem Boden ein. Ein Geschoss. Blaue Farbe spritzte über die Pflastersteine. Anna-Lena hüpfte zur Seite, legte einen Zickzackkurs ein. Wieder wurde auf sie geschossen.

Jan hatte das Video schon zigmal gesehen. Trotzdem biss er sich auf die Unterlippe. Er wünschte sich, dass Anna-Lena entkam, wusste aber, dass eines der nächsten Geschosse treffen würde.

Als es so weit war, klappte Jan das Notebook zu, ohne es vorher auszuschalten. Seine Hand zitterte. Der Schachspieler, so nannte Jan seinen unbekannten Informanten wegen der App, über die sie kommunizierten, hatte mit seiner Befürchtung recht behalten.

Aber warum hatte er sich überhaupt Sorgen gemacht? Das Spiel, auf das Anna-Lena sich eingelassen hatte, war geschmacklos, aber gefährlich schien es nicht zu sein. Woher kam diese Vorahnung?

Wieder in Hamburg würde Jan versuchen, mehr über den Schachspieler herauszufinden. Doch vorher waren die Produzenten der Videos dran. Sie waren mit ziemlicher Sicherheit noch auf der Insel. Und wenn sie hier waren, würde Jan sie auch finden.

8

Jan hob den Blick und sah zu einem kleinen Wandbord auf, das in dem Campingwagen oberhalb einer Sitzecke verlief. Es war eine Ablagefläche für Bücher und andere Sachen. Weil Charlotte gerne Tee trank und alle Arten von Kräuteraufgüssen, die sich ebenfalls Tee nannten, obwohl sie nicht von der Teepflanze stammten, liebte, hatte Jan ihr in einem kleinen Teeladen eine besondere Spezialität gekauft. Da war er mit dem Screenshot noch auf der Suche nach Anna-Lena gewesen. Um die Videoproduzenten zu finden, würde er sich etwas Neues einfallen lassen müssen.

Kandierte Ingwerstückchen.

Mit heißem Wasser aufgegossen, sollte das Gebräu nach Aussage des Verkäufers süß schmecken, ohne den Geschmack des Ingwers zu verlieren, und wahre Wunder bei Erkältungen, Bauchschmerzen und allgemeiner Schlappheit bewirken. Jan wusste, dass er Charlotte damit eine Freude machen würde.

Charlotte fehlt ihm. Sie war für ihr Buchprojekt nach Mallorca gereist. Vor über zwei Monaten. Wann genau sie zurückkommen würde, wusste sie bei ihrer Abreise noch nicht. Jan hatte das akzeptiert. Er freute sich sogar für sie. Aber natürlich vermisste er sie auch. Er vermisste ihr Lachen, er vermisste ihre Begeisterung, wenn sie über Sachen sprach, die ihr neu waren und gut gefielen, und er vermisste den Sex mit ihr.

Er schlief gerne neben Charlotte ein und wachte gerne am nächsten Morgen neben ihr auf. Manchmal in seiner neuen Wohnung, meistens bei ihr. Aber was würde es bringen, wenn er sie jetzt anriefe, um ihr das zu sagen? Er würde ihr nur die Reise vermiesen. Sie sollte kein schlechtes Gewissen bekommen. Und auf keinen Fall sollte sie die Reise nur für ihn vorzeitig abbrechen.

Bisher hatten sie sich hauptsächlich Kurznachrichten geschickt, und das auch nur sehr unregelmäßig. Sie war sicherlich mit anderen Dingen beschäftigt, und er wollte ihr nicht das Gefühl geben, an ihr zu kleben.

Doch plötzlich wurde in Jan das Verlangen übermächtig, Charlottes Stimme zu hören. Er wusste, dass es mit seiner Trauer um Anna-Lena zu tun hatte. Trotzdem stand er auf, um das Telefon aus seiner Jacke zu holen. Er würde Charlotte anrufen. Jetzt.

Doch gerade als er die Taschen abtastete, begann das Handy zu klingeln. Als er es endlich fand, war das Klingeln schon wieder verstummt.

Jan rief das Anrufprotokoll auf. Die Nummer, die als Letztes angezeigt wurde, kannte er nicht.

»Sie haben gerade bei mir angerufen«, sagte Jan, als sich eine männliche Stimme auf seinen Rückruf gemeldet hatte. Behrens, wiederholte Jan den genannten Namen im Kopf. Aber er sagte ihm nichts.

»Jan Fischer?«, fragte die Stimme. »Sie haben mich vorgestern nach einem Mädchen gefragt. Das Foto, wissen Sie noch?«

»Sie sind noch mal wer?«

»Der Taxifahrer. Sie haben mich am Bahnhof angequatscht.«

Sofort hatte Jan ein paar Bilder vor Augen. Bahnhof Westerland. Skulpturen, die sich auf dem Vorplatz mit wehenden Haaren gegen den Wind stellten. Und ein mürrischer Kerl in einem Taxi.

»Wie hieß die Kleine noch mal?«, wollte die Stimme wissen. »Ich habe den Namen vergessen, den Sie gesagt haben.«

Jan antwortete nicht, also sprach die Stimme weiter. »Sie wissen, was mit dem Mädchen passiert ist?«

»Wissen Sie es?«, entgegnete Jan.

»Ist ja nicht so schwer«, meinte der Taxifahrer. »Der Spion hat vor einer Stunde darüber berichtet.«

 

»Der Spion?«

»Ja. Der Sylter Spion. Kennen Sie nicht?« Jan konnte hören, wie der Mann die Nase hochzog. »Ist eine Internetseite hier auf Sylt. Wird von ’nem jungen Burschen gemacht. Die Seite heißt so, und deshalb nennen alle den Jungen auch den Spion.«

»Okay, verstanden. Und was berichtet der Spion?«

»Na, er hat ein Foto von der Kleinen, wie sie am Strand liegt. Tot. Sanis sind auch schon da. Aber da soll nichts mehr zu machen gewesen sein. Sie ist von der Klippe gefallen. Dachte, Sie sollten das wissen. Na, weil Sie ja nach ihr suchen.«

Jan nickte. »Danke. Das ist nett von Ihnen. Aber tatsächlich wusste ich es schon.«

»Dann ist es ja gut. Hoffe, Sie sind nicht selber betroffen. Oder war das ’ne Verwandte von Ihnen?«

Nun begriff Jan, was den Mann zu seinem Anruf veranlasst hatte. Offensichtlich wollte er Informationen aus Jan herausholen. Erst die Frage nach dem Namen der Toten und nun, ob Jan ein Angehöriger sei. Vermutlich hatte der Mann vor seinen Kollegen am Taxistand damit angegeben, dass er mehr über die Sache wisse als der Spion. Mit Sicherheit zeigte er die Visitenkarte rum, die Jan ihm am Bahnhof gegeben hatte. Und als die anderen ihn anstachelten, rief er die Nummer an, um zu sehen, ob er von Jan noch mehr über das Mädchen erfahren konnte und darüber, was sie auf der Insel gemacht hatte.

»Wir waren nicht verwandt«, sagte Jan nach einem Augenblick des gespannten Schweigens. »Wie Sie selbst bei unserem ersten Gespräch festgestellt haben, bin ich von der Presse.«

»Aber Sie haben auch gesagt, es geht um was Privates.«

»Stimmt. Das habe ich. Aber das geht Sie eigentlich nichts an.« Jan war geneigt, das Gespräch möglichst schnell zu beenden.

»Nee, ich weiß. Habe auch nur so gefragt. Und weil ich wollte, dass Sie es wissen. Also, was mit ihr passiert ist.«

»Danke.«

»Schon okay. Wissen Sie, ich habe mit den Kollegen darüber gesprochen. Denen tut es natürlich auch leid, was passiert ist.«

Darauf entgegnete Jan nichts.

»Das Bild, das Sie mir gezeigt haben, das konnte ich denen natürlich nicht zeigen.«

Jan sagte nichts.

»Vielleicht könnten Sie es mir noch mal zuschicken? Auf die Nummer, die bei Ihnen angezeigt wird.«

Ein Kloß ballte sich in Jans Magen zusammen. »Wozu?«

»Zur Bestätigung«, antwortete der Mann. Und bevor Jan die Verbindung wütend trennen konnte, fügte er hinzu: »Eine Kollegin glaubt nämlich, dass sie das Mädchen gefahren hat, als es letzte Woche hier angekommen ist.«

Sofort hob Jan das Kinn und drückte das Telefon wieder fester ans Ohr.

»Na ja, aber sie ist sich nicht sicher. Das Foto beim Spion ist nicht so ganz eindeutig. Man sieht nicht viel von ihrem Gesicht. Ist es nicht komisch, dass sie nur in diesen kurzen Klamotten unterwegs war? Ich meine, bei den Temperaturen?«

»Hat sie eine Adresse?«

»Wer?«

»Ihre Kollegin.«

»Die Steffi?«

»Wenn sie so heißt …«

»Ja.«

»Und?«

»Und was?«

»Wo hat Steffi die Frau hingefahren?«