Mit Baťa im Dschungel

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DER UNGARISCHE MALER

Dieses Bild war mein letztes, Schluss, aus, Feierabend. Deshalb wollte ich es nicht herausgeben. Es war meins, mochte die Dame noch so viel dafür bezahlt haben. Diese schöne Frau, die niemals mir gehören würde, aber wenigstens auf dem Bild mir gehören konnte. Ihre blauen Augen, die halb entblößten Schultern unter dem schwarzen Samt. Sie war mir schon auf dem Schiff aufgefallen. Die Île de France war ein riesiger Dampfer, und ich hatte für die Überfahrt meine ganzen Ersparnisse ausgegeben. Wie alle anderen Passagiere waren auch sie Flüchtlinge. Und noch eine andere schöne und traurige Dame hielt sich mit ihnen auf dem Schiff auf. Ich kannte ihren Namen, Hedvika Waldesová, genannt Ička. Ihr Mann besaß eine Gemäldegalerie, und sie hatte oft die Bilder dafür ausgesucht, hatte seinen Kunstgeschmack verfeinert. Man musste ihr gefallen, um in der Sammlung der Waldes zu landen, darüber kursierten ganze Legenden. Aber die Waldes kauften im Wesentlichen tschechische Künstler. Außerdem hatte ich, was meine Kunst betraf, im Grunde längst aufgegeben. War bequem geworden, hatte mich komfortabel an der Akademie eingerichtet, wo ich mich auf meinen Lorbeeren und den duckmäuserischen Komplimenten der tumben Studentlein ausruhen konnte. Aber als ich da auf dem Schiff Ička Waldesová sah, erwachte in mir ein längst erloschenes Feuer. Sie war so traurig, und ich wollte sie unbedingt malen. Nicht weil sie reich war, nicht weil ich in ihrer Prager Gemäldegalerie hängen wollte, in die jetzt ohnehin die Nazioffiziere pissten, sondern weil ihre Trauer festgehalten werden musste … Also machte ich jeden Tag wenigstens ein paar heimliche Skizzen von ihr. Sie bemerkte es nicht oder tat so, als würde sie es nicht bemerken. Als ich das Land verlassen hatte, hatte ich mich schon damit abgefunden, dass ich nichts Bedeutendes mehr erschaffen würde, etwas, was die Mühe wert war, ein Bild, das niemanden darüber in Zweifel ließ, dass ich da gewesen war, dass ich gemalt hatte. Und das war in Ordnung, verdammt noch mal, es machte mir nichts aus. Es machte mir nichts aus, Budapest zu verlassen, eine Stadt, an der mir nie besonders gelegen war. Eine Stadt wie jede andere – ob hier, ob dort, völlig einerlei … Nur Wien mochte ich. Diese modrige Pracht, diese Zurschaustellung des schlechten Geschmacks. Adolf Loos hatte dort etwas verändern wollen, und ich war ein großer Anhänger von ihm, aber nur die Juden verstanden seinen Feldzug gegen die Schlangenlinien und Ornamente und gaben ihm Aufträge, und nun ja, das war jetzt nicht mehr gültig. Nichts war mehr gültig auf diesem Schiff, auf dem wir alle noch die Europäer spielten, erhabene Parias, Unberührbare, die sich jenseits des Kastensystems unserer Zielländer befanden, immerhin liefen wir ja nicht davon, wir waren keine Ratten, die das sinkende Schiff verließen, waren keine Feiglinge, wir fuhren nur auf eine Art Urlaub, erholten uns nur ein Weilchen von den Unbilden und Heimtücken des Schicksals, anschließend würden wir ganz gewiss wieder zurückkehren, sobald jemand für uns zu Hause die Dinge in Ordnung gebracht und alle Schlachten geschlagen hätte.

Also saßen wir um das Wasserbassin herum, tanzten unter dem Sternenhimmel Walzer und aßen auf Silbertellern zu Mittag. In unserem Gepäck außer Angst auch Wut – zumindest in meinem. Schließlich hätte ich bis in alle Ewigkeit talentierte Söhnchen und Töchterchen auf der Akademie unterrichten und am Wochenende hübsche Kurven malen können, die gut geheiratet hatten, Honoratiorensprösslinge, gelegentlich einen moppeligen Bankier, und ich hätte ausgesorgt. Doch dann wurde mein jüdischer Nachname störend, und dank der vornehmen Damen, deren Gatten an den richtigen Stellen saßen, erfuhr ich rechtzeitig, dass es mit der Gemütlichkeit aus und vorbei war, finito.

Wenn ich geglaubt hatte, dass man sich in Brasilien um meine Bilder reißen würde, hatte ich mich getäuscht. Keiner verstand hier, warum er dafür zahlen sollte. Für die Menschen hier war Kunst ein so nichtssagender Begriff wie Weltraum oder Muckelsdorf. Die Europäer vom Schiff hatten sich in alle Winde zerstreut und versuchten sich eine eigene Existenz aufzubauen – Gemälde fürs Wohnzimmer waren da das letzte Problem, das sie beschäftigte. Oder sie hatten in Holzkisten schon ihre eigenen Bilder mitgebracht und keinen Bedarf an neuen. Ich ging mit den Preisen runter, erniedrigte mich, doch nichts davon half. Selbst einen anderen Namen legte ich mir zu. Ich dachte, mein Name, der in der Heimat berühmt war, würde mir hier nur Pech bringen, und stellte mir vor, wenn ich mich anders nenne, würden die Musen, die meinen alten Namen nicht mehr hören konnten, mich wieder aufsuchen. Ich erniedrigte mich sogar so weit, dass ich auf dem Platz vor der Kathedrale Karikaturen anfertigte … und dann gab ich’s auf. Verkroch mich in mein möbliertes Zimmer, legte mich ins Bett und wartete. Fragen Sie nicht, worauf. Ich hatte einfach aufgegeben, konnte nicht mehr. Und da klopfte es an der Tür, und dort stand sie. Ich erkannte sie sofort wieder. Sie hinkte auf einem Bein, was erst eine wahre Göttin aus ihr machte. Wer sich nicht mit Kunst beschäftigt oder sowieso keinen Geschmack besitzt, wird nicht verstehen können, was ich meine, aber diese kleine Unvollkommenheit, dieser Hinweis darauf, dass Schönheit niemals Perfektion bedeutet, machte sie zu einem echten Kunstwerk. Sie kam herein, stellte sich vor und fragte mich, ob ich sie und ihre Tochter malen könne; sie habe gehört, ich sei einer der besten Porträtmaler Europas und hätte derzeit nicht viele Aufträge. Sie wusste sehr wohl, wer ich war, benutzte aber dennoch meinen neuen Namen. Sie sprach mit Respekt, mit jener Grazie, die man in Wien pflegte, und so wienerisch war auch ihr Deutsch. Zugleich war sie eine gute Geschäftsfrau – natürlich, die Tochter ihres Vaters. Ich antwortete, ich würde sie und ihre Tochter malen, aber nur zu dem Preis, den man mir in Europa gezahlt hätte, denn wie sie schon richtig gesagt habe, sei ich ein ausgezeichneter europäischer Porträtmaler und nicht irgendein Pinselheinrich aus dem Urwald. Dass wir Deutsch miteinander sprachen, war eine Erleichterung für mich, denn ich weigerte mich, das hiesige Kauderwelsch zu benutzen, diese ganzen Nasale, die sich französisch gaben, dazu das halbkehlige R und eine Grammatik, die schon jeder Logik entbehrt hatte, als man in dieser Sprache das erste Mal »Mama« sagte. Ich redete also und redete, palaverte wie verrückt auf Deutsch, ganz aus dem Häuschen darüber, dass ich mit jemandem reden konnte, ohne mir dabei die Zunge verknoten zu müssen. Und diesen Moment, in dem sie so nahe war und ich sie ansehen konnte, wollte ich so lange wie möglich auskosten. So lange wie möglich ausdehnen, ins Endlose ziehen.

DOLORES

Spitzbuben

240 g Mehl

140 g Butter

140 g Zucker

70 g geschälte und gehobelte Mandeln

2 Eigelb

Saft und geriebene Schale einer Zitrone

Der Teig wird dünn ausgerollt, mit Förmchen ausgestochen und gebacken.

Jeweils zwei gebackene Spitzbuben mit Konfitüre zusammenkleben.

Man bekam furchtbar klebrige Finger davon, denn gegen die weihnachtliche Hitze in Batatuba hatten Teig und Marmelade keine Chance. In das runde Loch in der Mitte der Plätzchen kam Jaboticaba- oder Mangomarmelade hinein. Eigentlich heißt das Gebäck anders, aber Linzer Augen sagen mir nichts, es waren eben einfach Spitzbuben, weil sie frech an den Fingern pappten. Doch als ich dann einmal welche in Zlín probierte, war es nicht dasselbe. So wie sich überhaupt alles anders anfühlte, als ich es mir vorgestellt hatte, als ich zum ersten Mal dorthin fuhr, wohin Großmutter und Großvater nicht mehr hatten zurückkehren können. Ich hatte Freiheit spüren wollen, stattdessen empfand ich Zärtlichkeit. Zärtlichkeit gegenüber diesen viel zu großen Gebäuden, dem bewölkten Himmel, der so nah war und auf mich herabzufallen schien, statt hell zu leuchten und mir die Richtung zu weisen, wie es der brasilianische Himmel vermag, der immer hoch, klar und endlos ist. Trotzdem erfüllten mich in Prag, wo alles so beengt und von finsterer, blutiger Historie belastet erschien, die steinernen Brücken, das barocke Pathos der Statuen, die Fülle von Kunst, die vielen aufwändigen Details, die verschwenderisch gesetzten Pflastersteine auf Straßen und Gehwegen … erfüllte mich dies alles mit Zärtlichkeit und Bewunderung und noch etwas Trübem, für das ich weder im Tschechischen noch im Portugiesischen je einen Ausdruck gefunden habe. Vor allem aber empfand ich, dass ich zu alledem ganz klar gehörte, dass dies endlich wirklich ich war, die sich da in einen Mantel mummelte und sich nicht frei, aber mit allem hier verbunden fühlte. Und auch eine Schwere überkam mich, eine Sehnsucht, ein Schmerz. Ich sah die Stein gewordenen Narben in diesem wunderschönen, so altertümlichen Antlitz der Stadt. Sah das immer wieder neue Auferstehen aus der Asche, diesen für mich unbegreiflichen Lebenswillen, den Willen, alle Ereignisse zu überdauern, die sich hier stets überstürzt hatten. Wie ist es möglich, dass ihr eure Sprache bewahrt habt, wie kann es sein, dass ihr trotz allem immer noch hier seid? Da war Bewunderung und zugleich Erschrecken vor diesen Narben, vor dem versehrten, rissigen Bild, das wie unter einem Schleier hervorschien, unter dem feinen Tüll, der über das Gesicht des Landes gebreitet war, das Jan Antonín und Maja mit ihren Kindern hatten verlassen müssen. Ihr Menschen hier seid immer als Erste im Fadenkreuz, und euer ganzes Gejammer kommt meiner Meinung nach daher, dass ihr völlig erdrückt seid von der Geschichte. In Brasilien konnte ich sein, wer und was immer ich sein wollte, dort verspürte ich die Freiheit des unendlich großen Landes, eines Landes, in dem keiner mit so vielen Narben leben musste.

 

Das Pathetische habe ich von Großvater geerbt.

Es war das Jahr 1982, als ich zum ersten Mal die Tschechoslowakei besuchte. Ein Grüppchen unbekümmerter junger Anwälte aus guten brasilianischen Familien reiste zu einem Kongress nach Rom, unternahm einen Ausflug nach Europa. Ich gehörte zu ihnen und wollte endlich einmal all das sehen, wovon sie mir zu Hause so viel erzählt hatten. Worüber sie Gedichte verfasst hatten. Was sie mir in so lebhaften Farben geschildert hatten. Ohne jemals dort gewesen zu sein, konnte ich genau sagen, wo in Rom sich welche Kirche befand oder wie Paris aussah, das ich von den Postkarten kannte, die meine Tanten und Mama in großen ramponierten Blechschachteln mit chinesischen Motiven aufbewahrt hatten. Von London, wo Mama und ihre Schwestern studiert hatten, kannte ich sogar etliche Straßennamen. Zunächst aber reisten wir zu dem Juristenkongress nach Rom. Als wir in einer Kaffeepause darüber sprachen, wer welche Sprachen beherrschte, erwähnte ich, dass ich Tschechisch und Serbisch konnte. »Aber … Prag ist ja nur ein Katzensprung von hier, wollen wir nicht nach Prag fahren, was meint ihr?«, meinte darauf einer. »Vergesst es, am Ende verhaften sie mich dort noch«, antwortete ich schnell. Überrascht sahen mich die anderen an. Dann wiegelten sie meine Sorgen mit dem Argument ab, der Krieg sei doch schon lange her, und ich sei immerhin brasilianische Staatsbürgerin. Kurz darauf berieten sie auch schon, wo man die Flugtickets besorgen konnte, und mir wurde ganz mulmig zumute. Ich wusste nicht, wie ich ihnen erklären sollte, dass ich nicht in die Tschechoslowakei hineindurfte. Dass ich auf der schwarzen Liste stand, wie meine ganze Familie. Dann dachte ich: Na ja, sie werden mir sowieso kein Visum geben. Aber als wir dann mit dem Chef der brasilianischen Anwaltskammer das tschechoslowakische Konsulat in Rom aufsuchten, wurde mir das Visum ausgestellt. Sie guckten dort zwar etwas seltsam – mehr überrascht als unfreundlich – und ließen uns lange warten, doch auf einmal hatte ich meinen Stempel im Pass. Und nun nur noch größere Angst. Ich bekam richtig weiche Knie. Ich fürchtete, das sei eine Falle, irgendein Trick der Geheimdienste. Sobald ich die Grenze überquerte, würden sie mich entführen, mich umbringen und meine Leiche irgendwo in einem Straßengraben liegen lassen. Aber das wollte ich meinen Kollegen nicht sagen. Sie sollten nicht wissen, dass ich solche paranoiden Ängste hegte. Außerdem hatten sie, als ich ihnen meine Familiengeschichte erzählt hatte, mich angesehen, als würden sie sich im Geiste an die Stirn tippen, als würden sie denken, dass ich das alles erfinde. Die Enkelin eines Schuhmagnaten? Weltweites Schuhimperium? Na klar doch! Dann soll sie uns diese Stadt, die ihre Familie aufgebaut hat, doch mal zeigen, jetzt erst recht! Ich hatte plötzlich das Gefühl, sie taten mir das absichtlich an und wollten mich auf die Probe stellen. Hätte ich doch lieber meinen Mund gehalten! Doch als wir dann morgens zum Flughafen aufbrachen, war ich mit einem Mal ganz ruhig. Ich hatte keine Angst mehr und freute mich ganz vorsichtig darauf, dass ich vielleicht wahrhaftig Zlín sehen würde. Und wenn ich nicht dorthin durfte, dann konnte ich vielleicht wenigstens Prag besuchen.

Die Beamten am Flughafen begutachteten meinen Pass eine halbe Ewigkeit, ließen ihn von Hand zu Hand wandern und musterten mich ausführlich. Mein Nachname Bat’a Arambašić musste wohl doch etwas in ihrem Kopf zum Rattern gebracht haben. Da gab es keine weibliche Endung mit -ová, nur einen männlichen Tabu-Nachnamen, kombiniert mit etwas Balkanischem … Doch keiner stellte mir eine Frage. Einer von ihnen machte einen Telefonanruf, dann nickten sie wieder, gaben mir schließlich den Pass zurück und ich durfte hindurch zur Ankunftshalle. Die anderen warteten schon auf mich, voller Neugier darauf, das kommunistische Land zu besichtigen. Ihre Begeisterung für das verbotene Abenteuer gefiel mir nicht. Ich war nicht neugierig. Ich war durcheinander. Ich verspürte zwar keine Angst mehr, aber es war, als hätte ich einen Schlag mit dem Eisenhammer auf den Kopf bekommen. Ein Bekannter unseres Chefs hatte ein Hotel für uns organisiert, das sich auf der Prager Kleinseite befand. Ich hatte mir etwas Kleines, Gemütliches vorgestellt, aber es war ein riesiger verglaster Kasten voller Ausländer. In der Hotelhalle herrschte ein Betrieb wie auf dem Bahnhof, und die Pagen bettelten einen glattweg um Trinkgeld an. Es war jedoch nicht weit entfernt von der Burg, und so brachen wir, nachdem wir ausgepackt hatten, gleich dorthin auf. Meine Kollegen wünschten sich, dass ich für sie dolmetschte, also tat ich es. Ich erinnere mich, wie ich im Taxi vom Flughafen meinen allerersten Satz übersetzte – der Taxifahrer guckte mich komisch an und fragte, wo ich denn herkäme. Als ich antwortete, aus Brasilien, meinte er, das sei nicht möglich, ich spräche ja mährischen Dialekt. »Ja, meine Familie stammt aus Mähren, aus Zlín.« Er schüttelte nur verständnislos den Kopf. Zuerst konnte ich das Prager Tschechisch nicht gut verstehen, die Betonung befremdete mich, und so war ich, Plaudertasche aller geselligen Abende und große Witzeerzählerin, auf einmal merkwürdig stumm. Ich hatte geglaubt, ich würde nach ewig langer Zeit endlich nach Hause kommen, dabei war ich hier nie zu Hause gewesen! Als wir zum Burgareal kamen, den ersten, dann den zweiten Hof durchquerten, stellte ich mich vor dem Portal des Domes auf und begann meinen Freunden zu erklären, wer ihn errichtet hatte, in welchem Jahr, und all diese Informationen, die ich wie eine Fremdenführerin aus mir herausschüttete. Und dann fing ich plötzlich an zu weinen. Die anderen sahen mich an, doch ich weinte und weinte und konnte nicht mehr aufhören. Ich setzte mich für einen Moment im Kircheninnern auf eine Bank, um mich zu beruhigen, während die anderen den Dom besichtigten, und blieb etwa eine Stunde dort sitzen. Und während meine Freunde mich alleine ließen und zum Goldenen Gässchen gingen und sich die Kleinseite anschauten, Cafés und Souvenirläden durchstreiften, saß ich immer noch da und heulte. Manchmal schöpfte ich kurz Atem und beobachtete die Touristenströme, dann heulte ich wieder weiter. Es war wie ein Platzregen, ein Erdbeben, eine Naturkatastrophe. Nie zuvor war mir so etwas passiert. Schließlich kamen die anderen mich abholen und brachten mich ins Hotel, wo ich mich ins Bett legte und leise weiterweinte. Abends gingen wir zum Essen ins Restaurant Zlatá Husa, die Goldene Gans. Die Speisen dort waren unglaublich billig, und mir gefielen die Holzverkleidung an den Wänden, der Biergeruch, die unwirschen Kellner. Mir kam alles so vertraut vor, und vielleicht deshalb fing ich wieder an zu weinen und weinte dann die ganze Nacht durch. Die armen Juristen wussten gar nicht, was sie mit mir anfangen sollten, und begriffen nichts. Aber ich konnte mir einfach nicht helfen. Am nächsten Morgen war es dann vorbei. Ich stand auf und beschloss, jetzt gleich nach Zlín zu fahren. Die anderen wollten mit mir kommen und sich die Stadt anschauen, von der ich behauptet hatte, dass meine Familie sie errichtet habe. Wir wollten für den ganzen Tag ein Taxi von Prag nach Zlín buchen. Aber ich glaubte dem Fahrer sagen zu müssen, wer ich war, denn ich fürchtete, er könnte Probleme bekommen, wenn er die Enkelin von Jan Antonín Bat’a fuhr. »Könnten Sie uns nach Zlín bringen?« – »Ach, Sie sind das?!« Es war derselbe Chauffeur, der uns vom Flughafen hergebracht hatte, offenbar wurde er von diesem Hotel oft angerufen. »Junge Dame, wissen Sie denn nicht, dass Zlín schon lange nicht mehr existiert?« – »Wie bitte?« Ich konnte es nicht fassen. »Na ja, als Stadt schon noch, aber es heißt jetzt Gottwaldov!« Er lachte, und mir fiel ein, dass Großvater es einmal erzählt hatte, als von der Schwiegermama Gerbecová ein Brief aus Zlín gekommen war, in dem es hieß: »Nu, Jan, schreib ab jetzt nach Gottwaldov«, und Großmutter Maja darauf vor Wut den Löffel auf den Tisch geknallt hatte. »Ach ja, richtig. Und würden Sie mich dorthin fahren, auch wenn ich die Enkelin von Jan Antonín Bat’a bin?«, vergewisserte ich mich. »Im Ernst?! Das gibt’s doch nicht!«, rief er aus und fügte hinzu: »Reinsetzen, los geht’s, wir fahren nach Zlín, junge Dame. Nach Zlín fahre ich Sie sehr gern, nach Gottwaldov würde ich nicht fahren, aber Zlín ist was andres«, erklärte er lächelnd und meinte noch, er werde schon keine Probleme bekommen.

Also fuhren wir los. Hin zu dem mythischen Ort, dem Mittelpunkt aller Anekdoten und Legenden meiner Kindheit. Es war noch nicht die Suche nach dem heiligen Gral der Gerechtigkeit, die sollte erst später kommen, nach anderen, nicht ganz so abenteuerlichen Besuchen. Nun sah ich also das erste Mal Zlín. Prag war mir so grau verstaubt erschienen, überall bröckelnder Putz und Risse, und Zlín sah nicht viel anders aus. Ich fand, sie könnten hier doch mal streichen, vor allem Großvaters Fabrik. Wir hatten ein paar Straßen entfernt geparkt, und ich ging zu Fuß dorthin. Es war nachmittags, und die Leute kamen gerade aus dem Fabrikgebäude. Und da fiel mir auf, dass sie im Vergleich mit den Pragern irgendwie fröhlicher wirkten. Die Männer scherzten miteinander, die Frauen schwangen ihre Taschen und ihre langen Haare und erzählten sich etwas Lustiges. Vielleicht war ja doch noch etwas vom Geist der sogenannten Batamanen übrig geblieben? Ich nahm mir vor, meiner Mutter und meinen Tanten davon zu erzählen. Aber was, wenn auch vom Geist des Jahres 1947 etwas zurückgeblieben war, als, wie ein Foto bezeugt, am Haupttor ein Schild mit der Aufschrift hing: Höchststrafe für den Verräter J.A. Bat’a. Was blieb in dieser Fabrik überhaupt noch von Großvater?

Anschließend wollte ich den Waldfriedhof besuchen, um am Grab meiner Urgroßmütter und von Großonkel Tomáš Blumen abzulegen. Ich weiß, es klingt merkwürdig, aber in dem Moment glaubte ich in meinem Kopf Worte zu hören, die eine besondere Vorstellung von diesem Ort heraufbeschworen. Diese Stimme in meinem Kopf war nicht die von Tomáš, sondern die meines Großvaters, und sie sagte: »Wir haben uns daran gewöhnt, den Friedhof als einen Ort des Jammerns und Wehklagens zu betrachten. Doch ein Friedhof sollte, wie alles auf der Welt, dem Leben dienen. Aus diesem Grunde sollte er so beschaffen sein, dass die Lebenden ihn gerne und mit ruhiger Heiterkeit aufsuchen. Sie könnten dort zum Beispiel etwas spielen, eine Kleinigkeit vespern und sich im Guten an die Angehörigen erinnern, die dort in Stille und Frieden und unter dem Rauschen der Bäume schlafen.« Ganz genau: Wie gerne wollte ich jetzt in friedlicher Ruhe dort auf dem Friedhof einen kleinen Imbiss einnehmen und darüber nachdenken, was ich hier eigentlich tue. Doch der Taxifahrer hatte keine Ahnung, wo das Ganze sein könnte. Wir fragten an der Straße eine alte Frau mit Kopftuch und Schürze, die sofort bereit war, es uns zu zeigen, es sei nicht weit, am besten fahre sie gleich mit. Mit einem Ächzen schob sie sich zu uns ins Taxi und wir fuhren los. Sie redete so wie ich, sagte »Nu« und »Herrschaftszeiten«, und nachdem sie uns aus der Nase gezogen hatte, was wir auf dem Friedhof suchten, zwinkerte sie mir zu und erklärte, sie wolle uns zuvor noch etwas zeigen. Sie dirigierte den Chauffeur bis draußen vor die Stadt, und dort auf dem Ortsschild hatte jemand GOTTWALDOV durchgestrichen und von Hand ZLÍN-BAŤA darübergeschrieben. Ich wollte es schon fotografieren, überlegte es mir aber anders, schließlich wollte ich auch wieder nach Brasilien zurückgelangen. Auf der Rückfahrt von Zlín nach Prag kamen wir an einem riesigen Transparent mit der roten Aufschrift Auf ewig mit der Sowjetunion vorbei, aber quer darüber stand mit schwarzem Spray gesprüht SCHEISS DRAUF. Ich musste so lachen, dass ich mir fast in die Hose machte, und als ich es den anderen übersetzte, bebte das ganze Taxi vor Gelächter. Auch der Chauffeur grinste und rauchte zufrieden. Dann wollte er von mir wissen, ob ich noch etwas von dem gespürt hätte, wie Zlín früher gewesen war.

Nun, ich bin 1948 geboren, mitten in der schwierigsten Phase, als man Großvater in der Heimat für erfundene Verbrechen verurteilte, sein eigener Neffe und seine Schwägerin gegen ihn intrigierten und er auch noch seine ausländischen Fabriken verlor. Trotzdem hatte ich im Grunde alles mitbekommen, ich war ja Einzelkind und wohl deshalb mehr als die anderen Enkel mit Großvater und den Erwachsenen zusammen. Dabei hatte ich vieles aufgeschnappt und irgendwo in meinem blonden Köpfchen verwahrt, für meine spätere Melancholie. Bis ich sieben Jahre alt war, hatte ich nur Tschechisch gesprochen, Portugiesisch verstand ich zwar auch, aber so richtig lernte ich es erst in der Schule. Papa redete mit mir nur Serbisch, und diese Sprache liebte ich, auf eine andere Weise als das Tschechische. Vaters Sprache war etwas Selteneres, sie klang kerniger, oft schlugen aus ihr geradezu Funken. Allerdings erzählte Papa nicht gerne von Serbien und von früher. Also schaute ich mir stattdessen die Fotos meiner Großeltern an. Sie besaßen eine Unmenge davon, Alben jeder Größe, in Leder gebunden, in rotem Samt oder in flaschengrünem Leinen, nie sahen sie banal aus. Es waren sorgfältig beschriftete, systematisch geordnete Reliquien, sortierte Erinnerungen, und überall darin war Zlín. Ich kannte bis ins kleinste Detail Baupläne, sogar Entwürfe für den Wiederaufbau eines Nachkriegs-Zlíns, die Großvater sich hatte anfertigen und nach Brasilien schicken lassen und zu denen er Anmerkungen und eigene Skizzen gemacht hatte. Das Zlín meiner Kindheit war eine sagenhafte Stadt, ein Märchenreich, das man uns weggenommen hatte und das ich niemals vergessen durfte, denn das wäre ein Verrat an allen gewesen, besonders an Großvater. Und der war für mich ein König, ein großer, weiser, geduldiger, auch gebrochener Held. Insofern konnte ich vielleicht tatsächlich vergleichen, auch wenn ich niemals zuvor leibhaftig in Zlín gewesen war. Es steckte tief in mir drin, und nun, in dem schäbigen Taxi, in dem es nach Zigaretten und Bier roch und vor dessen Windschutzscheibe ein nacktes Püppchen baumelte, merkte ich, dass ich, nun ja, dass ich enttäuscht war. Die Stadt war überhaupt nicht so großartig, so hübsch geordnet und strukturiert, wie ich es mir mein Leben lang vorgestellt hatte. Müde hatte sie gewirkt, fast so wie Großvater. Und trotzdem wäre ich gerne noch dort geblieben. Hätte mir gerne eine kleine Wohnung oder eins der Backsteinhäuschen gemietet, um dort im Garten zu sitzen und mich von der Frühlingssonne wärmen zu lassen. Ich wäre auf den Hügeln der Umgebung spazieren gegangen und hätte zu begreifen versucht, was Tomáš und Jan Antonín sich bei alledem eigentlich gedacht hatten. Warum sie dies alles unternommen hatten, warum ihnen nie genügt hatte, was sie bereits hatten, warum sie ständig etwas Neues erfunden, organisiert und produziert hatten. Warum hatten sie sich nicht einfach hingesetzt und waren’s zufrieden gewesen? Vielleicht war es die Brasilianerin in mir, die so dachte, denn ich konnte noch so sehr die Tochter meiner Mutter und die Enkelin Jan Antonín Bat’as sein, Brasilien steckte doch ebenso tief in mir wie Zlín. Und das war gut so, denn nur das unbekümmerte Brasilien konnte diese Familienbürde aufwiegen, die man mir statt silbernen Löffelchen mit in die Wiege gelegt hatte; es bewahrte mich davor, völlig irre darüber zu werden.

 

Bei meinem Zlín-Besuch hatte ich auch an meinen Vater denken müssen. Dort wurde mir wieder bewusst, dass er nie wirklich von seinen dunklen Zeiten erzählt hatte. Nur einmal hatte er sich furchtbar aufgeregt, als meine Cousins und ich Partisanenkrieg spielten. Er verbot es uns und erklärte, wir wüssten ja gar nicht, was wir da täten, wir sollten uns ein anderes Spiel überlegen. Papa hatte nicht Partisan gespielt, er und Dragoslav waren wirklich Partisanen gewesen. Von dieser serbischen Seite in mir erfuhr ich nur stückweise, mal erzählte mir Mama etwas, mal meine Tanten, aber aus Papa war kaum etwas herauszubekommen. Am liebsten erzählte er uns Geschichten vom Lala. Herrschaftszeiten, waren seine Lala-Witze komisch! Als ich sie allerdings jemandem auf Tschechisch weitererzählen wollte, waren sie überhaupt nicht mehr so lustig. Auf Serbisch brauchte Papa nur ein, zwei Sätze vom Lala zu erzählen, und schon krümmten wir uns alle vor Lachen. Es war ein völliges Rätsel – oder im Gegenteil der Schlüssel zu allem? Zu meinem ganzen Leben? Großvater impfte uns immer ein, so viele Sprachen man spreche, so oft sei man Mensch, das habe schon Masaryk gesagt. Wie oft war ich also Mensch? Dreimal? War ich auf portugiesische, serbische oder tschechische Weise Mensch, oder doch nur auf mährische? Oder war ich womöglich die Essenz aus allem, was man mir beigebracht hatte, ein Gulasch aus all den Sprachbruchstücken, die unabhängig von den Ländern, in denen man sie sprach, in meinem Kopf existierten?