Gespenster meines Lebens

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Jameson sieht im postmodernen »Schwinden von Historizität« die »Logik der Kultur im Spätkapitalismus«, doch sagt er kaum etwas darüber, warum in seinen Augen beides synonym ist. Weshalb führte der Aufstieg des neoliberalen, postfordistischen Kapitalismus zu einer durch Retrospektion und Pastiche geprägten Kultur? Vielleicht lassen sich an die­ser Stelle ein paar vorläufige Überlegungen formulieren. Die erste bezieht sich auf den Konsum. Könnte die vom neoliberalen Kapitalismus vorangetriebene Zerstörung von Solidarität und Sicherheit nicht im Gegenzug die Sehnsucht nach Gängigem und Vertrautem gefördert haben? Paul Virilio etwa beschreibt eine »polare Trägheit«, in gewisser Weise eine Folge der massiven Beschleunigung im Bereich der Kommunikation und zugleich ein Gegengewicht dazu.12 Als Beispiel hierfür nennt Virilio Howard Hughes, der 15 Jahre lang in einem Hotelzimmer lebte, wo er ununterbrochen Ice Station Zebra schaute. Hughes, einst ein Luftfahrtpionier, war zu einem frühen Entdecker auf dem Terrain geworden, das der Cyberspace der menschlichen Existenz erschließen sollte, einem Terrain, auf dem der Zugang zur gesamten Kulturgeschichte keiner physischen Mobilität mehr bedarf. Bifo seinerseits macht geltend, die Intensivierung und Prekarisierung der Arbeit im Spätkapitalismus versetze die Menschen in einen Zustand ständiger Erschöpfung bei gleichzeitiger Reizüberflutung. Die Kombination prekärer Arbeit und digitaler Kommunikation führe zu permanentem Aufmerksamkeitsstress. Eine solche insomnische Überforderung führe dazu, die Kultur zu deerotisieren. Für Verführungskünste bleibe keine Zeit, so Bifo, und eine Mittel wie Viagra verweise entsprechend weniger auf ein organisches denn auf ein kulturelles Defizit: Weil es uns über die Maßen an Zeit, Energie und Aufmerksamkeit mangelt, suchen wir nach schneller Abhilfe. Retro verspricht – wie Pornographie, für Bifo ebenso exemplarisch – eine solche schnelle und bequeme Lösung, durch die nur minimale Variation schon vertrauter Befriedigung.

Eine andere Erklärung der Verknüpfung von Spätkapitalismus und Retrospektion stellt die Produktion in den Mittelpunkt. Ungeachtet aller Neuheit und Innovation beschwörenden Rhetorik hat der neoliberale Kapitalismus sukzessive, gleichwohl systematisch Künstlerinnen und Künstler der notwendigen Ressourcen beraubt, um Neues zu schaffen. In Großbritannien etwa bildeten Nachkriegs-Sozialstaat und nicht zuletzt Stipendien für Studierende eine Art indirekter Förderung für den größten Teil der Experimente in der Popkultur der 1960er bis 1980er Jahre. Der danach einsetzende ideologische und praktische Angriff auf den staatlichen Sektor und der Kahlschlag bei den öffentlichen Ausgaben bedeuteten eine massive Dezimierung der Räume, die Kunstschaffenden vor dem Zwang, etwas unmittelbar Erfolgreiches zu produzieren, eine Zuflucht boten. In dem Maß, wie der öffentliche Rundfunk »marktorientierter« wurde, ist in der kulturellen Produktion eine zunehmende Tendenz zu beobachten, dem bereits Arrivierten nachzueifern. Hinzu kommt, dass die gesellschaftlichen Möglichkeiten, sich zeitweise aus (bezahlter) Arbeit zurückzuziehen und sich ganz in eine künstlerische Produktion abseits des Marktes zu stürzen, drastisch reduziert sind. Wenn es etwas gibt, das mehr als alles andere zum Kulturkonservatismus beiträgt, so ist es die inflationäre Kostenentwicklung auf dem Wohnungs- und Immobilienmarkt. Nicht zufällig fällt die Blütezeit des künstlerischen Aufbruchs der Punk- und Post-Punk-Szenen in London und New York in die späten 1970er und frühen 1980er Jahre, als in diesen Städten reichlich billiger und besetzter Raum zur Verfügung standen. Seither verringerten der Niedergang des sozialen Wohnungs­baus, die harte Linie gegen Hausbesetzungen und die Kostenexplosion für Wohn- und Arbeitsräume die für die künstlerische Produktion disponible Zeit und Energie massiv. Doch vermutlich erst mit dem Siegeszug des digitalen Kommunikationskapitalismus spitzte sich diese Entwicklung endgültig krisenhaft zu. Der von Bifo beschriebene Aufmerksamkeitsstress betrifft natürlich die Künstlerinnen und Künstler ebenso wie das Publikum. Neues zu produzieren ist immer auf die eine oder andere Art mit einem Rückzug verbunden, sei dieser nun auf das soziale Umfeld oder auf bestehende formale Konventionen bezogen; angesichts der Dominanz sozialer Netzwerke mit ihren endlosen Möglichkeiten zu Mikrokontakten und einer Flut von YouTube-Links im Cyberspace jedoch wird ein solcher Rückzug schwieriger denn je. Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren, Simon Reynolds brachte es auf den Punkt, das Alltagsleben beschleunigt, die Kultur hingegen verlangsamt.

Was immer die Gründe für die Pathologien der Zeitlich­keit sind, kein Bereich westlicher Popkultur ist immun dagegen. Was einmal als Inbegriff von »Zukunft« galt, wie die elektronische Musik, bietet keinen Ausweg aus formaler Nostalgie. In vielerlei Hinsicht steht die Musikkultur paradigmatisch für das Schicksal der Kultur im postfordistischen Kapitalismus. Auf der Ebene der Form dominieren Pastiche und Wiederholung. Gleichzeitig jedoch hat ein massiver und unabsehbarer Wandel die Infrastruktur erfasst: Die alten Konsum-, Vertriebs- und Handelsmuster lösen sich auf, das physische Objekt tritt hinter den Download zurück, Platten- und CD-Läden schließen, Cover-Art verschwindet.

Warum Hauntology?

Was hat all das mit Hauntology zu tun? Als das Konzept Mitte des vergangenen Jahrzehnts gelegentlich auf elektronische Musik bezogen wurde, geschah dies zunächst im Grun­de mit einer gewissen Zurückhaltung. Jacques Derrida, auf den der Ausdruck zurückgeht, hatte ich früher als eher enttäuschend empfunden. Dekonstruktion, das von Derrida begründete philosophische Projekt, hatte sich in bestimmten Bereichen des akademischen Betriebs etabliert, und im Umfeld entstand ein inniger Kult des Indeterminierten, der es im schlimmsten Fall zur Tugend erhob, jegliche definitive Aussage zu vermeiden. Dekonstruktion war eine Art pathologischer Skeptizismus, und sie förderte bei Anhängerinnen und Anhängern eine durch Ausweichen, Beliebigkeit und obligatorische Zweifel geprägte Haltung. Bestimmte akade­mische Formen – Heideggers hochtrabende Unverständlichkeit oder die aus der Literaturwissenschaft geläufige Betonung der letztlichen Unsicherheit jedweder Interpretation – galten als quasi-theologische Imperative. Und Derridas Weit­schweifigkeit schien einen eher retardierenden Einfluss auszuüben.

Meine erste Begegnung mit Derrida fand übrigens in einem Umfeld statt, das mittlerweile verschwunden ist – ein nicht ganz belangloser Punkt. Es passierte in den 1980er Jahren auf den Seiten des New Musical Express, und eigentlich fiel der Name Derrida dort in wirklich spannenden Texten. (Tatsächlich entspringt meine Enttäuschung über Derridas Arbeiten nicht zuletzt einer gewissen Unzufriedenheit. Der Enthusiasmus, den im NME Autoren wie Ian Penman oder Mark Sinker für Derrida zeigten, und der formale und theoretische Reichtum, der – aufgrund dessen, wie es schien – ihre Beiträge auszeichnete, schuf Erwartungen, die Derridas eigene Schriften, als ich sie später irgendwann end­lich las, nicht erfüllten.) Heute ist es vielleicht kaum zu glauben, doch der NME war, neben dem öffentlichen Rundfunk, wirklich so etwas wie eine informelle Säule im Bildungssystem, wo »Theorie« einen eigenartigen, strahlenden Glanz annahm. Derrida selbst hatte ich zudem in Ken Mc­Mullens Ghost Dance gesehen. Der Film lief in den frühen Tagen von Channel 4 im Nachtprogramm des Senders (und da ich damals noch keinen Videorekorder besaß, musste ich mir, um wach zu bleiben, sogar kaltes Wasser ins Gesicht spritzen).

Was nun Hauntology angeht, so geht der Terminus zurück auf Derridas Buch Marx’ Gespenster.13 »Spuken [hanter] heißt nicht gegenwärtig sein, und man muß den Spuk [la hantise] schon in die Konstruktion eines Begriffs aufnehmen«, schreibt er dort.14 Dieses Vorgehen nennt er, mit einem Wortspiel, hantologie, worin wiederum »Ontologie« anklingt, die Lehre vom Seienden, das heißt die philosophische Untersuchung der Frage, was als existierend betrachtet werden kann. Derridas Neologismus hantologie schließt somit an Begriffe an, mit denen er zuvor bereits gearbeitet hatte, wie »Spur« oder »Differenz/différance«; sie alle beziehen sich darauf, dass nichts einfach eine positive Exis­tenz genießt. Alles Existierende verdankt seine Möglichkeit einer ganzen Reihe von Absenzen, die ihm vorausgehen, es umgeben und ihm Konsistenz und Intelligibilität überhaupt erst erlauben. Jedem sprachlichen Ausdruck komme, so Derrida, Bedeutung nicht aufgrund eigener positiver Qualitäten zu, sondern einzig durch seine Differenz anderen gegenüber. Hier setzt die scharfsinnige Dekonstruktion der »Metaphysik der Präsenz« und des »Phonozentrismus« an, die zeigt, wie (auf letztlich inkohärente Weise) bestimmte, etablierte Denkformen die Stimme im Verhältnis zur Schrift privilegieren.

Hantologie bringt die Frage der Zeitlichkeit explizit auf eine ganz andere Art ins Spiel als Spur oder différance. Eine in Marx’ Gespenster häufig wiederholte Phrase stammt aus Shakespeares Hamlet und lautet »the time is out of joint«, die Zeit ist aus den Fugen. Im Grunde ließe sich, worauf jüngst Martin Hägglund hingewiesen hat, Derridas gesamtes Werk aus der Perspektive dieser Vorstellung zerbrochener Zeitlichkeit betrachten. »Derrida arbeitet daran«, so Hägg­lund, »eine allgemeine ›hantologie‹ zu formulieren, die sich von der traditionellen Ontologie abhebt, die das Sein unter der Prämisse mit sich selbst identischer Präsenz denkt. Die Gestalt des Gespensts ist daher insofern bedeutsam, als ein Gespenst nicht vollkommen präsent sein kann: Es hat kein Sein an sich, sondern markiert die Beziehung zu einem Nicht-mehr oder Noch-nicht15

 

Steht Hauntology deshalb in gewisser Weise für einen Versuch, das Übernatürliche zu neuem Leben zu erwecken, oder handelt es sich nur um eine rhetorische Figur? Ein Ausweg aus dieser wenig hilfreichen Opposition eröffnet sich, wenn wir bei Hauntology an das Wirken des Virtuellen denken und das Gespenst nicht als etwas Übernatürliches begreifen, sondern als ein Wirken ohne (physische, körperliche) Existenz. Die großen Theoretiker der Moderne, Freud ebenso wie Marx, haben verschiedene Arten einer solchen gespenstischen Kausalität entdeckt. Die spätkapitalistische Realität, bestimmt durch die Abstraktionen der Finanzsphäre, ist zweifellos eine Welt, in der Virtualitäten wirken, und das vielleicht ominöseste »Gespenst« Marx’ ist das Kapital selbst. Doch auch die Psychoanalyse ist eine »Geisterwissenschaft«, wie Derrida in den Interviews in Ghost Dance unterstreicht, schließlich untersucht sie, wie der Nachhall von Ereignissen zum Wiedergänger wird und in der Psyche herumspukt.

Ausgehend von Hägglunds Unterscheidung zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht lassen sich somit vorläufig zwei Richtungen von Hauntology isolieren. Die erste bezieht sich auf ein aktuales Nicht-mehr, das jedoch als Virtualität bleibt: im traumatischen »Wiederholungszwang«, als fatales Muster. Die zweite Richtung bezieht sich auf das in seiner Aktualität noch nicht Geschehene, das virtuell indes immer schon wirksam ist: ein Attraktor oder eine Antizipation, die gegenwärtige Verhaltensweisen formt. Das von Marx und Engels in den ersten Zeilen des Kommunistischen Manifests beschworene »Gespenst des Kommunismus« ist genau solch ein Spuk: eine Virtualität, die durch ihr angedrohtes Kommen bereits dazu beiträgt, den gegenwärtigen Zustand zu untergraben.

Marx’ Gespenster ist nicht nur ein weiteres Moment in Derridas philosophischem Projekt der Dekonstruktion, sondern steht zugleich für die konkrete Auseinandersetzung mit einem unmittelbaren historischen Kontext, der Auflösung des sowjetischen Machtbereichs. Genauer gesagt geht es um die Auseinandersetzung mit dem angeblichen Verschwinden der Geschichte, wie das Francis Fukuyama in seinem Buch Das Ende der Geschichte verkündet hatte.16 Was würde passieren, nun, da der real existierende Sozialismus zusammengebrochen war und der Kapitalismus auf ganzer Breite dominierte, ohne dass seinem Anspruch auf Weltherrschaft durch die Existenz des anderen, verschwundenen Blocks ent­gegengewirkt würde – abgesehen vielleicht von kleinen widerständigen Inseln wie Kuba oder Nordkorea? Das Zeitalter des »kapitalistischen Realismus« – geprägt durch die weithin geteilte Überzeugung, dass es zum Kapitalismus keine Alternative gebe – wird nicht länger vom Gespenst des Kommunismus heimgesucht, sondern von dessen Verschwinden.17 Derrida beschreibt das so:

»Es gibt heute in der Welt einen dominierenden Diskurs. […] Dieser herrschsüchtige Diskurs nimmt oft die manische, jubilatorische und beschwörende [incantatoire] Form an, die Freud der sogenannten Phase des Triumphs in der Trauerarbeit zuschrieb. Die Beschwörung [incantation] wiederholt sich und wird ritualisiert, sie hält auf Zauberformeln und hält sich an Zauberformeln, wie jede animistische Magie es will. Immer wieder intoniert sie die alte Leier und den Refrain. Im Rhythmus des Gleichschritts ruft sie: Marx ist tot, der Kommunismus ist tot, ganz und gar tot, mit seinen Hoffnungen, seinem Diskurs, seinen Theorien und seinen Praktiken, es lebe der Kapitalismus, es lebe der Markt, es überlebe der ökonomische und politische Liberalismus!«18

Marx’ Gespenster formuliert eine Reihe von Überlegungen, welche medialen (und post-medialen) Technologien das Ka­pital in seinem nunmehr globalen Hoheitsgebiet zum Einsatz bringen wird. Hauntology scheint insofern keineswegs exotisch, sondern der »Techno-Tele-Diskursivität«, »Tech­no-­Tele-Ikonizität«, der »Simulakra« und »synthetischen Bild­er« durchaus angemessen. Hauntology bezieht sich, die Erörterung solcher »Tele‑«Dimensionen zeigt es, auf eine Krise von Raum und Zeit gleichermaßen. Theoretiker wie Virilio oder Jean Baudrillard hatten schon länger darauf hin­gewiesen – und Marx’ Gespenster wäre insofern auch als eine Auseinandersetzung Derridas mit diesen Denkern zu lesen –, dass jene »Tele-Technologien« Raum und Zeit kollabieren lassen und räumlich entfernte Ereignisse dem Pub­likum augenblicklich präsentieren. Die »Tele-Techno­lo­gie« allerdings, deren Entwicklung Raum und Zeit am radikalsten zusammenschrumpfen ließ, den Cyberspace des Internet nämlich, erlebten weder Baudrillard noch Derrida in all ihren Auswirkungen – oder besser gesagt, in all ihren Auswirkungen bislang. Doch begegnen wir hier einem Motiv, warum im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Hauntology und Popkultur zueinander in Beziehung gesetzt werden sollten: Es war der Moment, da das Internet begann, Rezeption, Distribution und Konsum in der Kultur – und insbesondere in der Musikkultur – in einem bislang unbekannten Ausmaß zu dominieren.

Auf Musik bezogen hat Hauntology bei Kritikern wie Simon Reynolds, Joseph Stannard oder mir in erster Linie eine Ansammlung von künstlerischen Positionen bezeichnet. Die Betonung liegt dabei auf dem Ausdruck »Ansammlung«, denn diese Künstler – darunter etwa William Basinski, das Label Ghost Box, The Caretaker, Burial, Mordant Music oder Philip Jeck – haben sich in gewisser Weise auf einem Terrain getroffen, ohne einander eigentlich zu beeinflussen. Gemeinsam ist ihnen nicht so sehr ein Sound als vielmehr eine bestimmte Sensibilität, eine existentielle Ausrichtung. Diese Hauntologen sind erfüllt von einer überwältigenden Melancholie; und sie beschäftigen sich intensiv mit der Art und Weise, wie Technologie Erinnerung materialisiert. Die Faszination gilt Fernsehaufzeichnungen, Vinyl- und Tonbandaufnahmen und insbesondere dem Klang solcher im Niedergang begriffenen Technologien. Eine solche Fixierung auf die materialisierte Erinnerung führt zum vielleicht auffallendsten klanglichen Erkennungszeichen der Hauntologen: dem Knistern und Knacken, wie es die Vinyloberfläche erzeugt. Das Knacken ruft uns in Erinnerung, dass wir eine Zeit hören, die aus den Fugen ist; es durchkreuzt in uns die Illusion der Präsenz. Die normale Ordnung des Hörens wird umgekehrt, eine Ordnung, in der wir es, wie Ian Penman es einmal formuliert hat, gewohnt sind, dass das »Re‑«, die Re-Präsentation der Aufnahme unterdrückt wird.19 Und neben dem Umstand, dass es sich um eine Aufnahme handelt, rückt auch die Technologie des benutzten Abspielsys­tems ins Bewusstsein. Durch den hauntologischen Sound schwebt zudem nicht selten der Unterschied zwischen analog und digital: Im Äther des digitalen Zeitalters rufen viele hauntologische Tracks die Körperlichkeit analoger Medien in Erinnerung. Natürlich sind auch MP3-Dateien »materiell«, doch ihre Materialität bleibt uns weithin verborgen, im Gegensatz zur taktilen Qualität von Vinylplatten und sogar noch CDs.

Ganz zweifellos trägt die Sehnsucht nach einer solchen Materialität älterer Ordnung zu der Melancholie bei, die hauntologische Musik transportiert. Die tieferen Ursachen dieser Melancholie benennt indes der Titel eines Albums von James Leyland Kirby: Sadly, The Future Is No Longer What It Was. Hauntologische Musik erkennt implizit an, dass die Hoffnungen, wie sie die elektronische Avantgarde oder die euphorische Dance-Szene der 1990er befördert hat­ten, sich verflüchtigt haben – die Zukunft ist nicht nur nicht eingetreten, sondern scheint überhaupt nicht länger möglich. Doch zugleich steht die Musik für die Weigerung, das Verlangen nach der Zukunft aufzugeben. Diese Weigerung ver­leiht der Melancholie eine politische Dimension, insofern sie es ablehnt, sich mit dem begrenzten Horizont des kapitalistischen Realismus zu arrangieren.

An den Gespenstern festhalten

In der Freud’schen Theorie geht es bei Trauer und Melancholie gleichermaßen um die Erfahrung von Verlust. Doch während Trauer die langsame und schmerzhafte Ablösung libidinöser Energie vom verlorenen Objekt bezeichnet, bleibt bei der Melancholie die Libido an das Verschwundene geknüpft. Damit die Trauer wirklich beginnen kann, so Derrida in Marx’ Gespenster, muss der Tote beschworen werden und »die Beschwörung sich versichern, daß der Tote nicht wiederkehrt: Bloß schnell alles tun, damit die Leiche an sicherem Ort verwahrt bleibt, in Auflösung selbst da, wo sie bestattet oder einbalsamiert wurde, wie man es in Moskau gerne tat.«20 Doch gibt es diejenigen, die sich weigern, der Beisetzung zuzustimmen, und ebenso besteht die Gefahr eines Overkills, der den Toten zum Spuk werden lässt, reine Virtualität. Derrida fährt fort:

»Die kapitalistischen Gesellschaften können erleichtert auf­seufzen, solange sie wollen, und sich sagen: Seit dem Zusammenbruch der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts ist der Kommunismus tot, und er ist nicht nur tot, sondern er hat nicht stattgefunden, er war nur ein Phantom. Sie werden damit immer nur eines verleugnen, das Unleugbare selbst: Ein Phantom stirbt niemals, sein Kom­men und Wiederkommen ist das, was immer (noch) aussteht.«21

Das Gespenstische, Spukende lässt sich als misslungene Trauer deuten. Darin schwingt die Weigerung, das Phantom daranzugeben, oder auch – was bisweilen auf dasselbe hinauslaufen kann – die Weigerung des Spuks, von uns abzulassen. Das Gespenst wird es uns nicht gestatten, uns in und mit den mediokren Befriedigungen einzurichten, die uns eine vom kapitalistischen Realismus regierte Welt bietet.

Hauntology im 21. Jahrhundert verhandelt nicht das Verschwinden oder den Verlust eines bestimmten Objekts. Ver­schwunden ist eine Tendenz, eine virtuelle Entwicklungslinie. Ein Name dafür wäre Popmoderne. Das oben angesprochene kulturelle Ökosystem – die Musikzeitschriften und die interessanteren Formate des öffentlichen Rundfunks – ge­hörten zu einer solchen britischen Popmoderne ebenso wie Post-Punk, brutalistische Architektur, Penguin Taschen­bücher oder der BBC Radiophonic Workshop. Die Popmoderne verteidigt rückblickend das elitäre Projekt der Moderne und stellt unmissverständlich klar, dass Popkultur nicht populistisch sein muss. Spezifisch moderne Techniken werden weiter verbreitet, kollektiv überarbeitet und entwickelt; auch der von der Moderne artikulierte Anspruch, Formen auf der Höhe der Zeit hervorzubringen, wird wieder aufgenommen und reformuliert. Mit anderen Worten, die Kultur, die den Großteil meiner frühen Vorstellungen formte, war im Wesentlichen popmodern – auch wenn ich mir dessen damals überhaupt nicht bewusst war –, und in den Beiträgen, die in diesem Buch versammelt sind, geht es darum, mit dem Verschwinden ihrer Existenzbedingungen klar zu kommen.

An dieser Stelle lohnt es vielleicht, die hauntologische Melancholie, von der ich hier spreche, gegen zwei andere melancholische Zustände abzugrenzen. Da gibt es zum ers­ten, was Wendy Brown »linke Melancholie« nennt. Oberflächlich betrachtet könnte meine Beschreibung womöglich nach linksmelancholischer Resignation klingen, nach dem Motto: Obwohl bestimmt nicht perfekt, waren die sozialstaatlichen Institutionen doch viel besser als alles, was wir heute erwarten können, ja vielleicht waren sie sogar das Beste, was überhaupt zu erwarten ist… In ihrem Essay »Resisting Left Melancholy« wendet sich Brown gegen »eine Linke, die meint, auf eine grundlegende, radikale Kritik der herrschenden Verhältnisse, aber auch auf überzeugende Alternativen zum Bestehenden verzichten zu können. Vielleicht noch beunruhigender indes ist eine Linke, die sich ihren verpassten Gelegenheiten stärker verbunden fühlt als ihrem produktiven Potential, eine Linke, der Hoffnung fremd ist und die sich am liebsten in ihrer eigenen Marginalität und Erfolglosigkeit einrichtet, eine Linke, die einer be­stimmten Spielart ihrer eigenen toten Vergangenheit in melancholischer Verbundenheit die Treue hält, ihrem Wesen nach gespensterhaft und in der Struktur ihres Begehrens rückwärtsgewandt und selbstquälerisch.«22 Die Melancholie, die Brown hier so schonungslos analysiert, speist sich nicht zuletzt aus Selbstverleugnung. Browns melancholische Linke ist depressiv, hält sich dabei aber für realistisch; es sind Menschen, die nicht mehr erwarten, die ehedem ersehnte radikale Transformation sei zu erreichen – ohne allerdings die eigene Resignation zuzugeben. Browns Befund diskutiert Jodi Dean in ihrem Buch The Communist Horizon und weist in diesem Zusammenhang auf Jacques Lacans Feststellung hin, dass »es nur eines gibt, dessen man schuldig sein kann, […] und das ist, abgelassen zu haben von seinem Begehren«.23 Die von Brown beschriebene Verschiebung – von einer Linken, die selbstbewusst davon ausging, ihr gehöre die Zukunft, zu einer Linken, die aus ihrer eigenen Handlungsunfähigkeit eine Tugend zu machen versucht – scheint ein Paradebeispiel für den Übergang vom Begehren (das im Lacan’schen Sinn immer ein Begehren des Begehrens ist) zum Trieb (das heißt zur genussreichen Selbstquälerei). Die Art der Melancholie, die mir vor Augen steht, zeichnet hingegen nicht Resignation aus, sondern vielmehr die Weigerung nachzugeben – das heißt die Weigerung, sich dem anzupassen, was unter den gegenwärtigen Bedingungen »Realität« heißt, selbst um den Preis, sich in dieser unserer Gegenwart als Außenseiter zu fühlen…

 

Die zweite Art Gefühlszustand, gegen den die hauntologische Melancholie abzugrenzen wäre, ist die von Paul Gilroy beschriebene »postkoloniale Melancholie«. Definiert sieht Gilroy sie durch Strategien der Vermeidung, die darauf ab­zielen, der »schmerzhafte Verpflichtung [auszuweichen], sich mit den düsteren Details der Geschichte des Imperialismus und Kolonialismus auseinanderzusetzen und die paralysierende Schuld in eine produktivere Scham zu verwandeln, die dazu beitragen könnte, eine multikulturelle Nationalität zu schaffen, die auf die Möglichkeit der Begegnung mit dem Fremden oder Anderen nicht mehr phobisch reagiert«.24 Die postkoloniale Melancholie ergibt sich aus einer »Niederlage phantasierter Allmacht«. Wie auch die von Brown beschriebene linke Melancholie ist die postkoloniale eine verleugnete Form von Melancholie; ihre »Sig­natur vereint«, schreibt Gilroy, »manische Euphorie mit Traurigkeit, Selbstekel und affektiver Ambivalenz«.25 So weigern sich postkoloniale Melancholiker nicht nur, Veränderungen zu akzeptieren, sondern in gewisser Hinsicht weigern sie sich sogar anzuerkennen, dass sich überhaupt etwas verändert hat. Charakteristisch ist die Inkohärenz, mit der an Allmachtsphantasien festgehalten wird. Veränderungen wer­­den nur als Niedergang und Scheitern erfahren; die Verantwortung dafür wird dem migrantischen Anderen angelas­tet. (Hier ist die Inkohärenz unübersehbar: Wäre die Allmacht des postkolonialen Melancholikers real, welchen Scha­den könnten Migranten anrichten?) Bei oberflächlicher Betrachtung ließe sich die hauntologische Melancholie für eine Variante der postkolonialen halten: noch mehr weiße Jungs, die über den Verlust ihrer Privilegien jammern… Doch hieße das anzunehmen, angesichts des Abhandengekommenen könne sich einzig Ressentiment der schlimmsten Art zeigen – oder bestenfalls eine Haltung, die Alex Williams »negative Solidarität« genannt hat, die nicht ein Mehr an Freiheit zelebriert, sondern stattdessen bejubelt, dass auch andere nun schlechter dastehen (was umso trauriger ist, als es dabei im Wesentlichen um die Arbeiterklasse geht).26