Pink Floyd

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2: DER ENDLOSE SOMMER

„Freiheit ist, wonach ich strebe.“

Syd Barrett

Erst vier Tage nach seinem Ableben erfuhr die Öffentlichkeit davon. Syd Barrett war am 7. Juli 2006 verstorben. Als Todesursache wurde Bauchspeicheldrüsenkrebs angegeben. Sein gesundheitlicher Zustand hatte sich jedoch über viele Jahre hinweg stetig verschlechtert. Syds Familie informierte David Gilmour, der daraufhin die übrige Band sowie den Freundeskreis um Pink Floyd benachrichtigte. Aus Rücksichtnahme auf den Wunsch von Syds Familie hatte seit Jahren niemand mehr von Pink Floyd Syd gesehen oder mit ihm gesprochen. Als die Neuigkeit schließlich am Dienstag, dem 11. Juli, weltweit bekannt wurde, zierten Fotos von Barrett die Titelblätter vieler Tageszeitungen rund um den Erdball. Es war eine ungewöhnliche und so noch nicht dagewesene Reaktion auf den Tod eines Mannes, der seit über 30 Jahren kein Album veröffentlicht und fast ebenso lange über seine Zeit als Popstar geschwiegen hatte.

Die Wege von Pink Floyd und ihrem Freund und ersten Sänger seit Kindertagen hatten sich im Frühling 1969 getrennt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits David Gilmour der Band angeschlossen, um musikalische Stabilität zu garantieren, da Barretts Drogenkonsum und sein zunehmend labiler Geisteszustand ihn zu einer Belastung machten. Im Januar 1969 beschlossen die übrigen Bandmitglieder auf dem Weg zu einem Auftritt, Syd nicht abzuholen. Diese Entscheidung sollte sich massiv auf den Rest ihres Lebens auswirken.

In der Woche vor Pink Floyds Auftritt bei Live 8 entsandte der Londoner Evening Standard einen Journalisten zu Barretts Haus in Cambridge, um eventuell ein Interview mit dem zurückgezogen lebenden ehemaligen Sänger der Band zu ergattern. Dieser weigerte sich jedoch, die Türe zu öffnen. Barretts Schwester Rosemary gab preis, dass sie ihrem Bruder von der unmittelbar bevorstehenden Reunion von Pink Floyd erzählt habe. Er habe dies reaktionslos zur Kenntnis genommen. „Das ist ein anderes Leben für ihn“, erklärte sie. „Eine andere Welt und eine andere Zeit.“ Auch seinen Spitznamen, Syd, den er in ebendiesem vergangenen Leben getragen hatte, hatte er bereits seit geraumer Zeit abgelegt. Seit vielen Jahren hatte er nun wieder unter seinem bürgerlichen Namen Roger Barrett gelebt.

Das anonyme Doppelhaus am St. Margaret’s Square in Cambridge, wo Barrett seine letzten Lebensjahre verbrachte, verriet nur wenig über die wahre Identität seines einzigen Bewohners. So verzichtete Barrett auf die Statussymbole, mit denen Rockstars seit jeher ihren Wohnbereich ausschmückten: weder goldene Schallplatten, auf die man durch einen Spalt zwischen den Vorhang einen Blick hätte erhaschen können, noch teure Sportwägen, die sich in der Einfahrt drängten. Jedoch war das Domizil auch nicht verwahrlost, wie man es vielleicht hätte annehmen können, wenn man den Halbwahrheiten, die über die geistige Gesundheit seines Besitzers kursierten, Glauben geschenkt hätte. Seit dem Tod seiner Mutter 1991 hatte Barrett dort alleine gelebt. Er war nie verheiratet gewesen, hatte keine Kinder und war seit dem Ausscheiden seines Alter Egos bei Pink Floyd in den Sechzigerjahren auch für längere Zeit keiner Beschäftigung mehr nachgegangen.

Gelegentlich drang die Außenwelt in sein privates Universum ein. So tauchten Fotos der marineblauen Eingangstür sowie Bilder des Hausbewohners in Zeitungen auf. Syd, der unvorbereitet vor seinem Haus von Fotografen überrascht wurde, sah jedes Mal verblüfft aus, manchmal auch wütend oder verängstigt. Er war stets nur halb bekleidet und trug das Bäuchlein eines Mannes mittleren Alters vor sich her. Sein heruntergekommenes Äußeres trug das Seinige dazu bei, die Gerüchteküche um Syd Barrett am Laufen zu halten. Syd musste diese Verletzungen seiner Privatsphäre stets dann erdulden, wenn seine Vergangenheit in den Fokus rückte. Als sich nun Pink Floyd reformierten, um bei Live 8 aufzutreten, war klar, dass dadurch auch das Interesse der Presse an ihm wieder auf­flackern würde. Zuletzt war er während der Medienhysterie rund um die Acid-House-Raves in den späten Achtzigerjahren von News of the World belästigt worden, wo man ihn als warnendes Beispiel für die Gefahren von LSD präsentierte. Selbstverständlich wussten sie, dass er sie niemals verklagen würde. Allerdings: Wer wusste schon, wozu er imstande wäre? Seine Nachbarn berichteten von schrecklichen Schreien mitten in der Nacht, wohingegen andere ihn wie einen Hund bellen gehört hatten.

Seit den frühen Neunzigern verbrachte Roger Barrett seine Tage mit seiner Malerei, Büchern sowie Radausflügen, auf denen er in den örtlichen Läden haltmachte. Er führte ein ruhiges Leben und war auch nicht völlig zurückgezogen. Nach jeder Verletzung seiner Privatsphäre löste sich das Interesse an ihm schnell wieder in Luft auf. Nur gelegentlich klopfte vielleicht einmal ein ungebetener Bewunderer an seine Tür.

Egal in welchem Kontext sie stehen mochten: Die Fotos des alten Syd Barrett von früher, die jene Zeitungsartikel oft begleiteten, hatten trotz allem etwas Faszinierendes an sich. Dieselben fast 40 Jahre alten Bilder sollten nach seinem Tod noch einmal abgedruckt werden. Sie zeigten Syd in seinen modischsten Klamotten mit welligem Haar, wie er mit stechendem Blick die Kamera fixierte. Er hatte den verlorenen Rockstar verkörpert, lange bevor zahllose Imitate seine Pose annahmen und zum Klischee machten. „Er war jemand, auf den die Leute auf der Straße mit dem Finger zeigten“, erinnert sich David Gilmour, der mit Syd seit Kindertagen befreundet war. „Syd hatte dieses besondere Charisma, diese Art Magnetismus.“

Die gemeinsame Geschichte der drei zentralen Protagonisten bei Pink Floyd – Barrett, Gilmour und Waters – ist unwiderruflich mit ihrer Heimatstadt, in der sie ihre Jugend verbrachten, verknüpft.

Der Ruf der Stadt Cambridge als Zentrum für Bildung lässt sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Die beeindruckende Architektur der Universitätsgebäude sowie der River Cam, dessen Windungen sich durch die Stadt ziehen, vermitteln etwas typisch Englisches. Wie ein Kontrast zum malerischen Stadtbild wirkt hingegen das raue Moorland, welches das Umland prägt. Dieses Ambiente schien sich von Anfang an in Pink Floyds Musik bemerkbar zu machen. Der Titel ihres erstes Albums, The Piper at the Gates of Dawn, stammte aus Der Wind in den Weiden, jenem Kinderbuch von Kenneth Grahame, welches 1908 veröffentlicht wurde und an einem Flussufer spielte. Im Kapitel selben Namens begaben sich zwei der tierischen Figuren auf eine bizarre spirituelle Suche. „Grantchester Meadows“, jenes sanfte Interludium aus der Feder von Roger Waters, das auf dem Album Ummagumma von Pink Floyd erschien, bezog ihren Titel von einem stark bewaldeten Flussufer, das sich im Süden der Stadt und unweit vom Zuhause der Gilmours befand.

Zu jener Zeit, als die drei wichtigsten Floyds das Licht der Welt erblickten, war Cambridge, wie es einer ihrer Bekannten aus Kindertagen heute formuliert, „ein Ort, wo verbriefte Verschrobenheit akzeptiert wurde. Man traf auf all diese brillanten, aber skurrilen Köpfe wie etwa Francis Crick, den Entdecker der DNA. Er radelte gerne einfach so die Straße hinunter.“ Auch Syds Vater war ein bekannter Exzentriker, den man ebenfalls nicht selten auf seinem Fahrrad die Hills Road hinunterfahren sah.

Dr. Arthur Max Barrett, von allen Max genannt, war University Demonstrator für Pathologie am örtlichen Addenbrooke’s Krankenhaus. Später übernahm er eine Stellung als pathologischer Anatom an der Universität. In seiner Freizeit war er ein renommierter Hobby-Maler und Botaniker, der über seine eigenen Schlüssel zum botanischen Garten der Stadt verfügte. Als Mitglied der Cambridge Philharmonic Society besaß auch Dr. Barrett musikalisches Talent, obwohl erst sein Sohn damit berühmt werden sollte.

Er war mit Winifred Garrett, der Urenkelin von Elizabeth Garrett Anderson, die 1865 die erste Ärztin des Landes wurde, verheiratet. Die Barretts hatten fünf Kinder: Alan, Donald, Ruth, Roger (Syd) und Rosemary. Syd kam am 6. Januar 1946 im ersten gemeinsamen Zuhause der Familie in der Glisson Road 6, im Stadtzentrum von Cambridge, zur Welt. Drei Jahre später zog die Familie in ein nahegelegenes Haus mit fünf Schlafzimmern in der Hills Road 183.

Nur wenige Gehminuten vom neuen Domizil der Barretts entfernt befand sich die Rock Road, wo sich die Familie von George Roger Waters angesiedelt hatte, als jener gerade zwei Jahre alt war. Rogers’ Vater, Eric Fletcher Waters, war im County Durham als Sohn eines Kohlengrubenarbeiters und Labour-Party-Funktionärs aufgewachsen. Er wurde schließlich Lehrer und strenggläubiger Christ. Auch weigerte er sich bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, sich dem Militär anzuschließen. Stattdessen erfüllte er ehrenamtliche Aufgaben, fuhr während der Luftangriffe einen Krankenwagen und trat schließlich der Kommunistischen Partei bei. Doch inmitten des Krieges änderte Eric seine Meinung und nahm als Soldat an den Kampfhandlungen teil, er schloss sich dem City of London Regiment, 8th Battalion Royal Fusiliers als Unterleutnant an.

Roger, der einen älteren Bruder namens John hat, kam am 6. September 1943 zur Welt. Seine Mutter, die im Mädchennamen Mary Whyte hieß, war Lehrerin von Beruf. Als Eric ins Kriegsgebiet versetzt wurde, zog Mary mit ihren beiden Söhnen von Great Bookham in Surrey nach Cambridge, da sie glaubte, dort sicherer vor den deutschen Bombenangriffen auf London zu sein. Eric Waters wurde nach der Landung der Alliierten auf den Stränden von Anzio an der italienischen Küste zuerst als vermisst gemeldet und am 18. Februar 1944 für tot erklärt. Roger war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal fünf Monate alt.

David Jon Gilmour wurde am 6. März 1946 geboren. Damals lebten die Gilmours in Trumpington, einem Dorf außerhalb von Cambridge. Die Familie zog noch einige Male um, bevor sie sich schließlich in der Nähe des River Cam im Bezirk Newnham niederließ. Die Adresse lautete Grantchester Meadows 109. David war damals zehn Jahre alt. Sein Vater Doug und seine Mutter Sylvia hatten sich am Homerton College in Cambridge kennengelernt, wo beide zu Lehrern ausgebildet wurden. Sylvia sollte schließlich als Cutterin bei der BBC arbeiten, Doug Gilmour wurde hingegen Hochschuldozent an der Universität und unterrichtete Zoologie. Das Paar hatte vier Kinder: David, seine Brüder Peter und Mark sowie seine Schwester Catherine. „Cambridge war ein großartiger Ort, um aufzuwachsen“, sagt Gilmour. „Man befand sich in einer Stadt, die von Bildung geprägt war – man war umgeben von klugen Leuten. Dann war da aber auch noch dieser ländliche Touch, der sich bis ins Stadtzentrum hinein bemerkbar machte. Es gab tolle Plätze, wo man sich mit seinen Freunden verabreden konnte.“ Gilmour traf auf Barrett und Waters zum ersten Mal, als die drei Jungs von ihren Eltern für den Kunstunterricht am Homerton College eingeschrieben wurden, der jeden Samstagmorgen stattfand. Sowohl Waters als auch Barrett besuchten die Morley Memorial Grundschule in Blinco Grove, wo Mary Waters als Lehrerin angestellt war. Dort offenbarten sich auch bereits Syds Begabungen. Er war nicht nur ein talentierter Imitator, sondern gewann im Alter von sieben Jahren mit seiner Schwester Rosemary („Roe“) auch einen Preis fürs gemeinsame Klavierspielen. Nick Barraclough, der ebenso die Morley Memorial besuchte und später Musiker wurde und als Rundfunksprecher für die BBC arbeitete, erinnert sich an Syd als „hübschen Knaben, der unglaublich künstlerisch begabt war. Meine Schwester war in derselben Klasse. Sie waren damals vielleicht zehn oder elf und wurden gebeten, ihre Eindrücke eines heißen Tages zu verarbeiten. Die meisten Kinder zeichneten daraufhin einen Strand oder die Sonne. Roger – so wurde er ja damals noch gerufen – zeichnete aber ein Mädchen im Bikini, das sich mit einem Eis am Stiel ankleckerte. Das wirkte alles sehr fortgeschritten, wenn man an sein Alter denkt.“

 

Alle drei Jungs bestanden ihre 11-Plus-Examen, die damals verpflich­tende Prüfung für britische Schulkinder, anhand welcher festgelegt wurde, wer intelligent genug für die Grammar School war. „Mein Vater unterrichtete an der Grundschule“, erinnert sich Barraclough, „und die beiden Rogers wurden ihm zu jeweils unterschiedlichen Zeitpunkten zugeteilt, um auf ihre Prüfungen vorbereitet zu werden.“ Waters besuchte schließlich ab 1954 die Cambridgeshire High School for Boys (vormals Cambridge and County School vulgo „County“) in der Hills Road. Die Schule, die mittlerweile Hills Road Sixth Form College heißt, war damals, wie es ein ehemaliger Schüler beschreibt, „eine Grammar School, die sich selbst für eine Privatschule hielt – inklusive schulmeisterlichem Gehabe, Doktorhüten und Sadismus“. Die Schule rühmte sich auch für ihren hohen akademischen Standard, und eine beeindruckende Anzahl von ehemaligen Schülern schaffte es an die Elite-Unis in Cambridge oder Oxford.

Roger machte sich einen Namen als talentierter Sportler: Er brillierte nicht nur im Cricket-Team, sondern war auch ein beeindruckender Rugby-Spieler. Auch trat er widerwillig der Combined Cadet Force bei, einer Jugendorganisation, die vom Verteidigungsministerium unterstützt wurde, und verbrachte einige Wochenenden auf dem Trainingsschiff HMS Ganges. Seine Ausbildung bei der Force umfasste unter anderem auch Schießkunst und Treffsicherheit, wofür er sich durchaus erwärmen konnte. Allerdings war er auch clever und gewitzt – und seine scharfe Zunge brachte ihn mitunter in Schwierigkeiten. Zumindest einmal wurde er von seinen Mitschülern verprügelt. „Ich glaube, dass mich die meisten Leute, mit denen ich zu tun hatte, hassten“, gab Waters später zu.

„Roger war eine Klasse über mir an der County“, erinnert sich Seamus O’Connell. „Ich war mit einem Jungen namens Andrew Rawlinson befreundet, der auf den Spitznamen Willa hörte. Er war auch richtig dicke mit Roger. In der Schule war meine Beziehung zu Roger ein wenig getrübt, da er mitunter kein sehr angenehmer Zeitgenosse war. Aber dennoch waren wir Freunde.“

Etwas später wurde Roger der Cadet Force überdrüssig und gab seine Uniform im Zorn zurück. Er weigerte sich, an weiteren Trainingseinheiten teilzunehmen, weshalb er unehrenhaft entlassen wurde. Sein ehemaliger Mitschüler Tim Renwick, der Pink Floyd an der Gitarre unterstützen sollte, erinnert sich an den Skandal: „Ich war ein paar Jahre jünger als Roger, aber jeder in der Schule hatte von dem Vorfall gehört. Er sorgte für einen ziemlichen Aufruhr. Allerdings bin ich mir sicher, dass Roger seinen Ausstieg mit Gewissensgründen erklärte.“ Waters’ Kindheitserfahrungen sollten schlussendlich ihren Niederschlag in der Musik von Pink Floyd finden, wobei er auch den oberflächlichsten Zuhörer wissen ließ, wie er über den Alltag an der County dachte. „Roger arrangierte sich mit der Schule“, sagt Mary Waters. „Seine Einstellung war: ‚Du musst dich damit abfinden und das Beste daraus machen.‘“

„Ich hasste jede einzelne Sekunde, abgesehen von den Spielen eben“, meint hingegen Roger. „Die Schulleitung war sehr repressiv und orientierte sich an den Standards der Vorkriegszeit. Man tat verdammt noch mal das, was einem aufgetragen wurde. Natürlich blieb uns nichts anderes übrig, als dagegen zu rebellieren. Es ist schon komisch, dass sich diese Typen in der Schule immer das schwächste Kind aussuchen, um auf ihm herumzuhacken. Dieselben Kinder, die schon von ihren Mitschülern gequält werden, werden auch von ihren Lehrern malträtiert. Als hätte jemand Blut geleckt. Die meisten Lehrer waren absolute Schweine.“

„Ich ging stets davon aus, dass The Wall von den Schulmeistern an der County handelte“, sagt Nick Barraclough. „Der Direktor war ein Mann namens Eagling, der bis heute der angsteinflößendste Mann ist, den ich jemals kennengelernt habe. Die beiden Rogers – Waters und Barrett – dürften das ebenso erlebt haben.“

Obwohl das Schulsystem immer noch in der Zwischenkriegszeit festzustecken schien und sich kaum an den Bedürfnissen von Jugendlichen orientierte, denen der Friede und relative Wohlstand, der ihren Eltern verwehrt geblieben war, zuteilwurde, waren die Fünfzigerjahre wie keine Ära zuvor voller neuer Möglichkeiten für Teenager. Waters brachte später seine Verachtung gegenüber dem Schulsystem auf den Punkt, indem er eine Episode aus seiner Schulzeit beschrieb. Nachdem er beschlossen hatte, sich für eine tatsächliche oder auch nur eingebildete Kränkung am Gärtner der Schule zu rächen, kletterten er und seine Mitverschwörer mittels einer Stufenleiter in den Obstgarten und wandten sich dem Lieblingsbaum des Gärtners zu. Daraufhin aßen sie jeden einzelnen Apfel – ohne sie von den Ästen zu pflücken. Als er diese Anekdote 30 Jahre später gegenüber der Zeitschrift Musician zum Besten gab, erklärte Waters, wie stolz er auf seinen ausgeklügelten Streich gewesen war.

Syd Barretts Weg durch die County, an die er drei Jahre nach Waters wechselte, war gekennzeichnet von seiner großen Leidenschaft für Kunst und sein Interesse an Poesie und Schauspiel. Auch er lehnte sich gegen Autoritäten auf, war aber in der Lage, sich mithilfe seines Charmes, seiner Intelligenz und seines guten Aussehens aus Schwierigkeiten herauszumanövrieren. Wie sich Gilmour erinnert, war er „ein heller Kopf und auf vielen Gebieten sehr bewandert“. Jedoch verfolgte er einen konventionelleren Weg und stieg innerhalb seiner lokalen Pfadfindertruppe bis zum Anführer auf.

Im Juni 1961 begann der 15-jährige Syd eine Beziehung mit Elizabeth Gausden, die von allen Libby gerufen wurde. Sie war Schülerin an der nahegelegenen Cambridge Grammar School for Girls. „Syd hatte bereits eine Freundin – eine sehr hübsches, liebes Mädchen namens Verena Frances“, erinnert sich Libby. „Aber bei uns stimmte die Chemie einfach. Er hat immer gesagt: ‚Du bist zwar nicht das hübscheste, aber dafür das lustigste Mädchen aller Zeiten.‘ Er war ein wunderbarer Junge. Jeder liebte ihn.“

John Gordon traf zum ersten Mal im Kunstunterricht der County auf Syd. „Er brillierte vom ersten Tag an“, erinnert er sich. „Seine Haare waren länger als die der anderen Schüler. Er teilte den Lehrern offen mit, was er sich dachte, und verließ sogar das Klassenzimmer, wenn er zurechtgewiesen wurde.“ Syd weigerte sich regelmäßig, den Blazer seiner Schuluniform zu tragen. Außerdem war es bemerkenswert, dass er seine Schuhe ohne Schnürsenkel trug – eine Angewohnheit, die er auch als Erwachsener beibehalten sollte. Ermutigt von seinen Eltern, kultivierte Syd seine kreative Ader, die sich erstmals an der Grundschule bemerkbar machte, indem er öffentlich Gedichte vorlas und vor Publikum sprach. Doch es sollte ein Schatten auf seine Jugendjahre fallen. Am 11. Dezember 1961 verstarb Dr. Barrett. „Sein Vater war schon lange krank gewesen“, sagt Libby Gausden. „Er litt an Krebs und hatte starke Schmerzen. Ich glaube, dass es fast eine Erlösung für die Kinder war, da er vor seinem Tod so schwer hatte leiden müssen. Syd schrieb wunderbare Tagebucheinträge. Jeder war fast einen halben Meter lang – doch am Todestag seines Vaters schrieb er bloß: ‚Mein armer Dad ist heute gestorben.‘“

Viele Leute stellten bezüglich der Auswirkungen, die der Verlust des Vaters auf Syd hatte, Mutmaßungen an. David Gilmour, der während dieser Jahre viel Zeit mit seinem Freund verbracht hatte, sagt dazu: „Syd sprach nie darüber. Die Leute meinen, dass der Tod seines Vaters ihn verändert hätte, doch damals konnte man nicht wirklich irgendwelche Veränderungen feststellen.“

„Ich kannte weder Syds Vater noch seine Brüder und wusste nicht, welche Aufgaben die Männer in seiner Familie erfüllten“, erinnert sich John Gordon. „Syd wirkte stets weltlicher als ich. Er genoss mehr Freiheiten und war erfahrener. Als sein Vater starb, übernahm er bereitwillig viel mehr Verantwortung als zuvor.“

Nachdem seine älteren Geschwister ausgezogen waren, bewohnte Syd einen großen Raum an der Vorderseite des Hauses, während seine Mutter die anderen Schlafzimmer an Untermieter – in der Regel Studenten – vermietete. Unter ihnen waren auch ein Vertreter des niederen britischen Adels sowie ein zukünftiger japanischer Ministerpräsident.

Falls Waters und bis zu einem gewissen Grad auch Barrett eine obrigkeitskritische Neigung gehabt hätten, wäre ihnen nun auch noch ein amtliches Motiv geliefert worden. Mit dem Erscheinen der Hit-Single „Rock Around the Clock“ von Bill Haley and the Comets im Jahr 1955 verkündeten die Medien die offizielle Erfindung des Teenagers sowie ihres Soundtracks – Rock’n’Roll. Zwei Jahre später verlieh Elvis Presley dieser neuen Musik mit seinem ikonischen Antlitz ein Gesicht und wurde das Vorbild einer ganzen Generation. Syds Bruder Alan spielte Saxofon in einer Skiffle-Gruppe und Syd selbst versuchte sich an einer Ukulele, bevor er seine Mutter davon überzeugen konnte, ihm eine Akustikgitarre der Marke Hofner zu spendieren.

„Nach der Schule trafen Syd und ich uns auf dem Flur, um dann zu ihm zu gehen, schließlich wohnte er praktisch gegenüber von der Schule“, erinnert sich John Gordon. „Mein Vater war Musiker, aber zumindest ein Teil von mir wollte nicht so sein wie er, weshalb ich mich gegen das Klavier sperrte und stattdessen mit Syd lernte, Gitarre zu spielen. Er hatte auch ein paar amerikanische Import-Platten. Außerdem hatte ich einen Onkel, der ein paar 78er- und 45er-Scheiben von Bill Haley und Eddie Cochran beisteuerte. Ich nahm sie mit zu Syd und dann versuchten wir gemeinsam, anhand dieser Schallplatten Gitarre spielen zu lernen. Syd mochte alles. Heute redet jeder darüber, dass er so auf Bo Diddley abgefahren sei, aber in Wirklichkeit war er viel umfassender orientiert.“

Der 14-jährige Waters befand sich im idealen Alter für Rock’n’Roll, stand der Sache anfangs jedoch skeptisch gegenüber. Stattdessen tendierte er musikalisch zu Dixieland- und Blues-Musikern wie Bessie Smith. „Eigentlich alles“, bekannte er später, „außer Rock’n’Roll.“ Nachdem er sich die Gitarre eines Onkels zugelegt hatte, nahm er klassischen Unterricht bei einer ortsansässigen Lehrerin. Später gab er jedoch zu, bald schon wieder aufgehört zu haben, da ihm seine Finger wehtaten: „Ich fand es einfach viel zu schwer.“ David Gilmour teilte die Vorbehalte seines zukünftigen Bandkollegen in Bezug auf Rock’n’Roll kein bisschen. „Ich bin nicht sicher, ob ‚Rock Around the Clock‘ die erste Platte war, die ich mir kaufte, aber zumindest war es eine der ersten“, erinnerte er sich. (Später erwähnte er, dass die besagte 78er-Single zu Bruch gegangen sei, als das Au-Pair-Mädchen der Familie versehentlich darauf Platz genommen habe.) Doch Gilmour war ohnehin vielmehr von Elvis Presleys „Heartbreak Hotel“ angetan, das ein Jahr später folgte. Zuhause umfasste die Schallplattensammlung seiner Eltern außerdem noch zahlreiche Blues-78er. Wie Waters und Barrett entdeckte auch Gilmour Radio Luxemburg für sich und wurde von diesem Sender mit einem abwechslungsreichen Musik-Mix versorgt, der auf keiner britischen Radiostation zu hören gewesen war. Er war nicht allein: Außer ihm lauschte noch eine ganze Generation englischer Rockmusiker den wunderlichen Klängen, die von der anderen Seite des Kanals ausgestrahlt wurden.

 

Obwohl sich auch Gilmours musikalische Ausbildung nun in vollem Gange befand, hatte sein formeller Bildungsweg bereits im Alter von fünf Jahren begonnen, als er ins Internat geschickt wurde. Doug Gilmour hatte beschlossen, einen sechsmonatigen Forschungsurlaub von der Cambridge University anzutreten und diesen mit Sylvia im Mittleren Westen der USA zu verbringen. Die Kinder wurden inzwischen nach Steeple Claydon in Buckinghamshire geschickt, wo sie das folgende Schuljahr verbringen sollten. „Meine Eltern liebten einander und genossen ihre gemeinsame Zeit, und wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass sie uns als eher unpraktisch empfanden“, erzählt Gilmour 2006 in Mojo. „Als wir noch sehr klein waren, machten wir noch zusammen Ferien, doch sobald wir alt genug waren, wurden wir bei den Pfadfindern oder so geparkt. Wir fuhren nie wieder gemeinsam in den Urlaub.“

Jahre später stieß Gilmour auf Briefe und ein Tagebuch aus jener Zeit, als er und seine Geschwister auch nach der Rückkehr der Eltern noch in Steeple Claydon blieben. „Damals kam einem das völlig normal vor. Erst später denkt man sich, dass das gar nicht so toll war.“

Im Alter von elf Jahren, als Barrett gerade an der County eingeschrieben wurde, landete Gilmour an der Perse School for Boys, die sich nur einen Steinwurf vom Haus der Barretts entfernt befand. Die Perse war eine gebührenpflichtige Grammar School, die auf die Einhaltung strikter Verhaltensregeln achtete. Unter ihren Alumni befanden sich Sir Peter Hall, der Gründer der Royal Shakespeare Company und Direktor des Royal National Theatres. Bis ins 17. Jahrhundert zurück waren ein Viertel der Schüler Internatszöglinge und jeder musste verpflichtend am Samstagmorgen dem Unterricht beiwohnen, was dazu beitrug, dass die Schule im Ruf stand, „eine eher versnobte Privatschule“ zu sein, wie es ein ehemaliger Schüler ausdrückte. Obwohl von Natur aus aufgeweckt, ließen Gilmours schulische Leistungen zu wünschen übrig. „Ich war faul“, gesteht er mittlerweile ein. Elvis mag zwar ein erster Einfluss gewesen sein, aber es waren zwei Gitarre spielende, Harmonien singende Geschwister und ihr erster großer Hit von 1957, „Bye Bye Love“, die eine entscheidende Rolle dabei hatten, dass Gilmour die Gitarre für sich entdeckte. „Ich liebte die Everly Brothers. Als ich 13 war, bekam der Nachbarsjunge eine Gitarre. Allerdings war er komplett unmusikalisch und hatte überhaupt kein Interesse daran. Deshalb borgte ich sie mir aus und gab sie nie wieder zurück. Ich fing an, darauf herumzuschrammeln, was meine Eltern ziemlich freute. Sie kauften mir daraufhin ein Pete-Seeger-Gitarrenbuch und eine dazugehörige Schallplatte. Diese ersten Lektionen waren einfach wunderbar.“

Auch Gilmours Freund Rado Klose ackerte sich fleißig durch Seegers Lehrbuch. Später sollte er unter seinem zweiten Vornamen, Bob, Mitglied bei den frühen Pink Floyd werden. „David und ich kannten uns praktisch von Geburt an“, sagt Klose. „Unsere Väter hatten sich kennengelernt, noch bevor sie überhaupt Familien gründeten. Ich weiß nicht mehr, ob David sich von mir etwas beibringen ließ, aber ich erinnere mich daran, wie wir beide die Platte von Pete Seeger und Radio Luxemburg hörten. Da waren Songs, die uns gefielen, und wir fragten uns, wie man sie spielte. Dann machten wir uns daran, es herauszufinden. Bei ‚Walk Don’t Run‘ von den Ventures war das etwa der Fall. David wusste sofort, wie der ging, während wir anderen länger dafür brauchten.“ Klose war ebenso Schüler an der County: „In diesem Alter ist die Schule der absolute Lebensmittelpunkt. Syd war eine Klasse unter mir und Roger eine über mir. Wir hatten alle einen ähnlichen Musikgeschmack. Eine Zeitlang fuhr ich voll auf Jazz ab – aber nur auf den Jazz aus der Zeit vor 1935! Dann Django Reinhardt. Roger stand auf Jimmy Dufree. Den Blues für mich zu entdecken, war wie ein Moment der Offenbarung. Ich erinnere mich daran, wie ich nach der Schule in den Plattenladen ging und eine LP von Leadbelly sah. Ich hatte keine Ahnung, wer er war, mir gefiel nur der Name. Der Verkäufer ließ mich in das Album reinhören. Es war wie die Essenz von allem, was ich an Musik mochte – nur in konzentrierter Form.“ Leadbelly wurde zu einem gemeinsamen Favoriten des Trios Klose, Gilmour und Waters.

Seitdem Roger zwölf war, hatte er regelmäßig Jazz-Konzerte im lokalen Corn Exchange besucht, doch anders als etwa Syds Mutter, hatte Mary Waters nicht viel für Musik übrig. „Sie behauptete, kein musikalisches Gehör zu haben“, erinnert sich ihr Sohn. „Sie machte sich nicht viel aus Kunst. Sie war ein sehr politischer Mensch. Politik stand bei ihr an erster Stelle. Auf jeden Fall wurde ich weder zuhause noch in der Schule ermutigt, mich mit Musik zu befassen.“

1961, dem Jahr, in dem Syd Barrett seinen Vater verlor, kam auch Gilmours Familienleben in eine beträchtliche Schieflage. Seinem Vater Doug Gilmour wurde im Rahmen des sogenannten „Brain Drain“, bei dem britische Akademiker mit hochdotierten Lehrposten ins Ausland gelockt wurden, eine Stelle an der New York University angeboten, wo er schließlich zum Professor für Genetik wurde. Er und Sylvia entschieden sich, für ein Jahr nach New York zu gehen. David Gilmours zehn Jahre alter Bruder Mark begleitete sie, während die anderen Geschwister in England blieben. Davids Schwester Catherine besuchte bereits die Universität. Dem 15-jährigen David wurde angeboten, seinen Eltern und seinem Bruder in die USA zu folgen, doch entschied er aufgrund der musikalischen Möglichkeiten, die er ihn Cambridge vorfand, in seiner angestammten Umgebung zu bleiben. Während dieser Zeit kam er bei einer Familie in Chesterton unter. Unbeaufsichtigt schlich sich Gilmour zu Konzerten, anstatt für seine O-Level-Prüfungen zu lernen.

Waters, Barrett und Gilmour hatten nun zwei Dinge gemeinsam: ihren schulischen Hintergrund sowie die Abwesenheit ihrer Väter. Auf sich selbst gestellt, schickten sie sich an, ihrer Zukunft als Pink Floyd entgegenzustreben.

Auch wenn Gilmour der erste der drei war, der sich für Rock’n’Roll begeisterte, so waren seine zukünftigen Partner auch ohne Elvis nicht untätig darin, gegen das restriktive Klima an der Schule aufzubegehren. Wenn etwa Waters’ akribisches Vorgehen gegen den Obstgarten seiner Schule mehr wie ein kunstvoller Streich als ein einfacher Vandalenakt erscheint, so darf einen dies nicht weiter wundern.

Als Universitätsstadt bot Cambridge auch einen fruchtbaren Boden für die neue Garde nonkonformistischer amerikanischer Autoren und Dichter der Beat Generation. Die betreffenden Schreiber – Allen Ginsberg, Jack Kerouac und William Burroughs – wehrten sich stets gegen diese Bezeichnung und protestierten: „Drei Freunde ergeben noch lange keine Generation.“ Trotzdem gab es zwischen ihnen ausreichend Gemeinsamkeiten in Bezug auf ihre Sichtweisen, um den Begriff zu rechtfertigen. Ginsbergs Geheul und andere Gedichte von 1956 sowie Burroughs’ 1959 erschienenem Roman Naked Lunch wurde große Aufmerksamkeit zuteil, nachdem sie in das Visier der Sittenwächter geraten waren. Und doch war es Kerouacs Roman Unterwegs – 1957 nach einem Gerichtsverfahren, in dessen Fokus Geheul gestanden hat, veröffentlicht –, der der Beat Generation zu größerer Bekanntheit verhalf. Die Geschichte eines poetischen Wandervogels, der mittels Güterzügen und anderer Mitfahrgelegenheiten durch die USA reist, Pillen einwirft und zu einem Soundtrack von Bebop-Jazz dem Gelegenheitssex frönt, wurde zur Pflichtlektüre für smarte Teenager, die in einer Universitätsstadt heranwuchsen.