Die Wolfssymphonie

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Die Mädchen wissen nicht, dass sie sich Trickfilme ansehen, die nicht bei den Städtischen Werken bezahlt sind. Wir reden mit ihnen über den französischen Text: «Le plombage ne peut être enlevé qu’avec l’assentiment des Services industriels. Les contrevenants seront poursuivis juridiquement.» Und sie lachen. Sie wissen noch nicht, was «Plombierung» bedeutet, dieses Wort dürfte es, normalerweise, nicht geben, sie stellen Fragen über das Wort «Rücksprache», wir beantworten ihre Fragen, und alle vier lachen wir. Wir haben den Mädchen erzählt, wie in anderen Ländern Menschen in Gefängnissen oder auf den Polizeiposten sterben, und wie die Familien den Leichnam dieser Toten in einem plombierten Sarg erhalten, und dass niemand das Recht habe, die Plombierung zu entfernen und die Kiste des Toten zu öffnen. Die Mädchen wissen noch nicht, dass die Särge plombiert werden, damit man das Gesicht und den Körper des Toten nicht sehen kann, der bei lebendigem Leibe von Polizisten in Uniform oder in Zivil gefoltert wurde. Sie wiederholen immer wieder, «plombierter Sarg, plombierter Toter!», und lachen. Wir lachen mit ihnen mit. Wir haben ihnen von plombierten Zugwaggons erzählt. Es beginnt ihnen bewusst zu werden, dass man alles plombieren kann, die Große sagt, «Papa, stell dir plombierte Toiletten vor!», die Kleine möchte mit der runden Plastikabdeckung ihre Spielküche aus Plastik plombieren, wir erzählen ihnen von plombierten Lastwagenladungen. Das Verb «plombieren» ist kein Verb, das zu «plombier», dem Spengler, gehört. Wir lachen mit den Mädchen, als wir über den Beruf des Spenglers sprechen, und sie wissen jetzt, was Leitungsrohre reinigen und Schläuche ersetzen heißt, sie wissen, was ein «Engländer» ist, sie wissen, wie man einen Schraubenzieher in der Hand hält. Unsere Mädchen wissen noch nicht, wie dieser Fernseher funktioniert, sie stellen uns Fragen über die Spiele, die die Erwachsenen im Fernsehen spielen, sie schauen die Werbesendungen mit Kindern an, und die Kleine sagt, «Papa, hast du das Mädchen gesehen, das sich einen runden Käse auf ihre Augen getan hat?!» Manchmal essen wir im Wohnzimmer vor dem laufenden deplombierten Fernseher, und die Große isst mit ihren Fingern und schaut auf den Bildschirm, auf dem die Nachrichten vorbeiflimmern, die Kleine weiß, dass das die Fernsehzeitung ist, sie sieht die Toten am Fernseher, und sie sieht in den Filmen jemanden umfallen und sagt, «er ist tot!», und die Große lacht und sagt, «Papa, er ist plombiert!» Wir lachen. Es gibt viele plombierte Dinge auf der Welt, auch das Leben ist plombiert. Die Mädchen spielen mit dieser plombierten Abdeckung, sie schmeißen sie auf dem Boden hin und her, sie werfen sie in die Vorhänge. Die, die die Fernsehgeräte plombieren, sind keine plombiers, keine Spengler, den Mädchen fällt es schwer, das zu verstehen, die Große stellt uns die Frage: «Wie heißen die Leute, die das machen, was für einen Beruf haben sie?» Wir lachen, weil wir ihnen gesagt haben, «das sind die Anschisser!», die Mädchen sprechen das Wort «Anschisser» aus, die Kleine sagt, «das ist aber nicht nett, Papa!», die Große lacht und sagt «Anschisser», ohne das Wort auszusprechen, sie sagt es nur mit ihren Lippen, wir lachen, als wir dieses Wort von den Lippen der Großen ablesen. Wir sind plombiert in dieser Wohnung, und wir lachen über eine deplombierte Fernsehsteckdose. Die Mädchen stellen sich vor, dass sie einige Puppen plombieren könnten. Wir lachen, als wir uns vorstellen, Bustüren und Kaufhaustüren zu plombieren. Die Große möchte ihren Schulranzen plombieren, die Mutter schlägt vor, den Kühlschrank zu plombieren, die Kleine ruft, «das Haus plombieren!» Der Hund spielt auf dem Boden mit der runden Abdeckung der Fernsehsteckdose, er nimmt sie zwischen seine Fangzähne, er schüttelt seinen Kopf mit diesem Ding im Mund hin und her, er lässt die Abdeckung auf den Boden fallen, stürzt sich dann mit seinen Vorderpfoten auf sie und schiebt sie auf dem Parkett vor sich her wie einen seiner Bälle, wie sein Spielzeug. Wir lachen. Wir sagen den Mädchen, dass es bald Abfallsäcke zum Plombieren geben wird. Sie hören zu, wie wir ihnen vom Vorgang der Abfallsackplombierung erzählen, sie lachen und wollen, dass wir den Hund plombieren, jetzt. Sie wissen noch nicht, dass das Verb «plombieren» eng mit dem Verb «überwachen» verbunden ist. Wir denken, dass es das Verb «überwachen» nicht geben dürfte, wir lachen und denken darüber nach. Ich plombiere. Du plombierst. Er, sie, es plombiert. Wir plombieren. Ihr plombiert. Sie plombieren. Wir lachen, und die Mädchen lernen das Verb plombieren. Das Fernsehgerät ist oft die ganze Nacht über an. Die Sendungen folgen auch ohne uns aufeinander, die Mädchen schlafen, und wir schlafen und wissen, dass der Fernseher ganz alleine im größten Zimmer des Hauses vor sich hin läuft. Am Morgen macht einer von uns den Fernseher aus, und wir lachen. Wenn sie vor dem Fernseher sitzen, lachen die Mädchen nicht. Sie schauen die Tiere an und die Trickfilme und die Nachrichten und die Filme für die Großen und die Spiele für ihre Eltern, und sie lachen nicht. Sie stellen andauernd Fragen: «Warum hat die Frau ihn geschlagen?», «warum hat der Mann sie geschlagen?!», und wir beantworten ihre Fragen. Die Kleine sagt, dass sie sich vor einem der Wölfe fürchte, die in einem der Trickfilme vorkommen. Wir haben ihr erklärt, dass das kein echter Wolf sei, und dass sie keine Angst zu haben brauche vor den Wölfen, die in den Filmen vorkommen. Sie sagt, «Papa, kann man einen Wolf plombieren?», wir lachen. Wir haben zwei kleine Mädchen in einem Haus mit einem Fernsehanschluss, der deplombiert ist, und wir schauen uns schwarz Fernsehsendungen an. Und wir lachen nicht. Wir machen uns auf die Plombierung gefasst, wir sind bereit, plombiert zu werden, für einen Tag, für einige Tage, für einen Monat, für ein Jahr und mehr. Die Kinder sind die einzigen, die andauernd lachen.

* * *

Seit ein paar Stunden kannst du deinen Vater anschauen, der vor dir liegt und sich nicht bewegt. In seinem Sarg ist er nun einer der Toten der Welt. Du denkst an ihn und an die Toten, die du gesehen hast. Einer der ersten Toten, die du gekannt hast, ist dieser Mann, den ihr, die Erstklässler, «Brückler» nanntet, weil er ein Obdachloser war und unter einer der Brücken der Stadt lebte. Die Einheitspartei will die Obdachlosen des Landes nicht zeigen. Du hast diesen Mann nie bei seinem Spitznamen gerufen wie deine Schulkameraden. Du hast nie «Brückler» zu ihm gesagt. Im Kopf hast du über ihn gesprochen, du hast über ihn gesprochen und dabei seinen Spitznamen benutzt, weil du seinen richtigen Namen nicht kanntest. Er lebte dort unter seiner Straßenbrücke, zwischen vertrockneter Scheiße und Scherben von Flaschen, die irgendwelche Besoffene zerschlagen hatten. «Brückler» war kein Säufer, aber er war der beste Freund von denen, die alkoholsüchtig waren. Er beherbergte sie bei sich, in seinem notdürftigen Obdach, manchmal tranken sie bis in den Morgen hinein. Sie machten sich über ihn lustig, sie hatten Familie und ein Dach über dem Kopf, er war für sie ein Penner, ein Verlorener, ein lebendiger Toter. Er hörte ihnen allen zu. Sie hängten sich an ihn und flennten an seiner Brust. Er verbrachte die meiste Zeit im Lärm der Autos, die die Brücke überquerten. Es gab die Lastwagen, beladen mit aller Art Waren, es gab die Autos der Einheitspartei und die ganzen Autos des Regionalverkehrs und der einheimischen und ausländischen Touristen. Du hast mehrmals beobachtet, wie die Jungen deiner Schule plötzlich auf ihn losgingen, auf dem Nachhauseweg nach dem Unterricht, sie erblickten ihn auf einem Gehsteig, und sie rannten auf ihn zu und schrien «Brückler», «Brückler», «Brückler», auf diese Art und Weise amüsierten sich die Kinder deiner Schule. Als er starb, war er ungefähr siebzig Jahre alt. Während die anderen Schüler ihm unzählige Schimpfwörter an den Kopf warfeb, hieltest du dich raus und schautest, wie dieser Mann sich verhielt. Du betrachtetest seinen Gesichtsausdruck, du hörtest ihm zu, und du nahmst seine Gesten wahr. Er hatte nie jemandem etwas getan, und er musste jeden Tag die Gedankenlosigkeit der Kinder erdulden. Er wurde von allen behandelt, als sei er eine Stadtratte, er war einer der Gegenstände ihres Gespötts. Er meisterte sein Leben dank sich selbst, dank seiner körperlichen und mentalen Stärke. Er hatte mit der Einheitspartei nichts am Hut, und auch nicht mit der Menge und mit den Einzelnen, die ihn zu einem Zirkusobjekt machten. So läuft es im großen Zirkus der Einheitspartei, wie du weißt. Du schautest zu und hörtest die Worte, die deine Kameraden an diesen Mann richteten, der einsam und zugleich frei von jeglichem Zwang war, die Jungen deines Alters spuckten ihn an, sie steigerten sich in einen Wahn hinein, in dem es den anderen auszumerzen, zu töten galt. Wenn sich ihm die Bengel deines Alters zu sehr näherten und ihm Fußtritte verpassen wollten, spielte er den Clown, um sie zu vertreiben. Er tat so, als wolle er ihnen Angst einjagen. Er drehte sich unvermittelt um und streckte die Zunge heraus. Er schrie lachend: «Haltet den Dieb!, Haltet den Dieb!» Alle wussten, dass «Brückler» nicht ausgeraubt worden sein konnte. Er lebte von den Almosen anderer und von seiner Arbeit. Er ist bei sich zu Hause gestorben, unter der Straßenbrücke. Er hatte niemals gestohlen, und er hatte niemals gebettelt. Sie fanden ihn ganz kalt auf, unter seinem alten Militärmantel, den er als Decke benutzte. Er hatte sich sein Brot mit dem Ausladen von Lastwagen verdient, die mit Bierkisten gefüllt waren und mit Mehlsäcken, er arbeitete wie ein Wahnsinniger, er arbeitete wie drei kräftige Arbeiter zusammen.

«Brückler» war zehn Jahre vor deiner Geburt von zu Hause weggegangen, er hatte eine Frau und zwei Kinder, und sie lebten zusammen im Haus seiner Mutter. Er war wegen seiner Frau davongelaufen, die nicht arbeitete und den ganzen Tag nur trank, und wenn er nach seiner Arbeit als Metzger mit einem guten Stück Fleisch in der Tasche nach Hause kam, schlug ihn seine Frau, sie schickte ihn zu den Nachbarn, um Wein zu kaufen. Nur wenige kennen die Geschichte von «Brückler». Du stehst neben deinem toten Vater, und der erste Tote, der deinen Vater begleitet, ist dieser Mann, den du als Obdachlosen kanntest und der unter einer Straßenbrücke starb.

 

«Brückler» war keine Marionette, er war einer der wahrhaftesten Schauspieler. Er war Direktor des Theaters, das er unter seiner Brücke geführt hatte. Er ist während der Herbstzeit gestorben, zusammen mit den Blättern der Pappeln und der Weidenbäume. Wenn er untertags nicht auf seinem Schlaflager aus Karton war, das er sich unter der Brücke hergerichtet hatte, haben sich die Leute unter die Brücke geflüchtet, um sich zu erleichtern. Sie haben ihr Geschäft neben der Hütte von «Brückler» erledigt. Sie haben ihre Unterhosen festgehalten und sich die Sachen von «Brückler» angeschaut, die nahe den Betonpfeilern ausgebreitet lagen. Er hat diese Schweinereien niemandem verübelt. Er hat sie mit Hilfe von Holzstücken in den Fluss geworfen, und manchmal hat er rund um seinen Platz herum mit Hilfe von Karton und Ästen sauber gemacht. Du wirst «Brückler» niemals vergessen, so wie du deinen Vater niemals vergessen wirst. Dein Vater und «Brückler» sind tot. «Brückler» ist zum Schulbeginn gestorben, dein Vater ist während deiner Sommerferien gestorben. Die Schule hatte vor dem Tod von «Brückler» angefangen, deine Ferien hatten vor dem Tod deines Vaters angefangen. Du weißt, dass man «Brückler» steif unter seiner Brücke gefunden hatte, und dass es jemand war, der sich erleichtern wollte, der diesen leblosen Mann entdeckt hat, der auf zwei Zeitungen der Einheitspartei lag. Sie haben die Mitglieder der Einheitspartei angerufen, die ihren Sitz in den Büros der Gemeinde hatten, und diese haben einem Arbeiter die Aufgabe übertragen, «Brückler» auf den Friedhof zu bringen. «Brückler» war, ohne dass du je mit ihm geredet hast, einer deiner ersten Freunde. Manchmal, wenn du zugeschaut hast, wie er vor deinen Kameraden, die ihn ärgerten, den Clown spielte, haben sich eure Blicke gekreuzt, und er hat dich abseits der anderen stehen sehen, er hat gesehen, wie du diesem Zirkus zuschaust, und seine Augen haben gelächelt, er hat dich angeschaut, und du hast gesehen, wie sich seine Augen in Funken verwandelt haben. Bis zu diesem Moment war dein Vater dein bester Freund gewesen. Der Arbeiter, der «Brückler» begraben hat, hat ihn mit einer Schubkarre abgeholt. Er hat ihn quer in diese Schubkarre gelegt und hat ihn so mitgenommen, abends, und alle haben es gesehen. Das Grab von «Brückler» ist ein Grab am Rande des Friedhofs, in der Gemeinschaftsgrube der Obdachlosen. «Brückler» hat kein Kreuz bekommen mit seinem Familiennamen und seinem Spitznamen darauf: «Brückler». Dein Vater hat ein Kreuz, auf dem sein Name und sein Vorname geschrieben stehen, er wird ein eigenes Grab haben auf einem Friedhof ohne Gemeinschaftsgrube, dein Vater wird ein Grab an der Seite der Verstorbenen seiner angeheirateten Familie haben, er wird morgen begraben werden.

Dein Vater liegt vor dir, tot, und du siehst «Brückler» in seiner Schubkarre und deinen Vater in seinem letzten Gewand. Dein Vater und «Brückler» stehen für einen Teil deiner Schule des Lebens, der Schule der Wörter, die es nicht geben dürfte.

* * *

Die Mädchen haben mich mehrmals im Bad vor dem Spiegel stehen und mich rasieren sehen. Die Kleine hat mich angeschaut, auf dem Kunststoffdeckel des Klos stehend, die Große hinter mir hat meine Handgriffe verfolgt, die ich mit der Rasierklinge gemacht habe. Ich sage den Mädchen, dass das Ding, auf das ich das Schaumkonzentrat auftrage, «Rasierpinsel» heiße, ich sage ihnen, dass es dieses Wort «Rasierpinsel» nicht geben dürfte, die Große fragt mich, woraus dieses Ding gemacht sei, ich sage das Wort «Haar», sie sagt, dass es die Haare eines Hundes sein könnten. Die Kleine beugt sich nach vorn, um mich besser sehen zu können, ich drehe mich zu ihr hin, zur Hälfte weiß im Gesicht, und mit meinem Rasierpinsel tupfe ich auf ihre Nase, und es bleibt ein weißer Klecks zurück, vom Rasierschaum, auf ihrer Nasenspitze. Ich schäume mein Gesicht weiter ein, meine Wangen, mein Kinn. Rund um meine Lippen herum ist der Schaum fein und dicht, die Kleine hat sich mit ihrem rechten Ärmel den Schaum von der Nase abgewischt. Die Große befürchtet, ebenfalls mit Rasierschaum eingeschmiert zu werden und entfernt sich, sie bleibt bei der Badezimmertür stehen.

Ich habe einen alten Rasierer, mit alten Klingen, die man von Hand in eine Fassung legen muss. Ich rasiere mich. Die Große und die Kleine schauen mein Gesicht an, das ganz weiß ist vom Schaum, sie lachen. Die Kleine und die Große mögen es nicht, dass mein Bart sie sticht, wenn ich sie küsse. Die Mutter kommt herein und sagt, «lasst Papa in Ruhe!», und ich tupfe mit meinem schaumigen Rasierpinsel auf die Nasenspitze meiner Frau.

Die Kleine sagt: «Papa, warum hat denn Mama keinen Bart?», die Große antwortet, «weil Mama eine Frau ist und nur Männer Bärte haben!», die Kleine fährt fort, «ich will, dass Papa mir sagt, warum er einen Bart hat, der wächst!», die Große will ihr erneut die Sache mit dem Bart erklären, ich halte den Rasierer in meiner rechten Hand, ich drehe mich zu den Mädchen um und sage, «der Bart und alles, was wächst oder irgendwo sprießt, das ist Energie!»

Ich sehe, wie die Mädchen sich anschauen, als hätten sie ein Spielzeug bekommen, mit dem sie nichts anfangen können, die Kleine schaut zu, wie ich mit dem Rasierer über meine Wange fahre, sie sieht, wie ich den Schaum voller Haare im Waschbecken abschüttle, und sie sagt, dass das Waschbecken verstopft sein wird, und sie steigt vom Klodeckel hinunter, um das Ding zu holen, das wir zum Entstopfen der Abflüsse brauchen. Die Große fährt sie an, «das ist schmutzig!, bitte, fass das nicht an!», die Kleine weint, weil sie dieses Ding haben will, ich unterbreche: «Ab in eure Zimmer!»

Sie sind auf der Türschwelle des Badezimmers stehengeblieben und schauen mir weiter zu, ohne dass sie mein Gesicht im Spiegel sehen, sie halten sich an den Schultern, und sie können nur meine linke Wange und meine Hände und meinen Rücken sehen.

Mein Gesicht ist fast frei von Schaum, Bluttropfen treten aus einigen Hautzellen am Hals und an den Wangen. Ich suche den Blutstillerstift, ich drehe mich zu den Mädchen um, um eine Grimasse zu schneiden, ich denke nicht daran, dass mein Gesicht voller Blut ist, die Kleine fängt an zu weinen, die Große sagt zu ihr, «das ist nicht schlimm!» Ich erkläre den Mädchen: «Wenn man mit etwas, was schneidet, spielt, können wir uns schneiden, ich rasiere mich, ich spiele nicht, wenn man etwas macht, können wir sagen, dass wir am Spielen sind; ich habe gerade den Rasierer benutzt, mit einer Rasierklinge, die sehr scharf ist, ich habe mir ein wenig in die Haut geschnitten, und ich werde das heraustretende Blut mit meinem Blutstillerstift stoppen.» Die Kleine will diesen Blutstillerstift in die Hand nehmen, ich sage ihr, dass es ein Stift für Erwachsene sei, sie will nicht auf mich hören, sie nimmt diesen Stift, sie reißt ihn mir aus den Fingern, und sie schaut ihn an und sagt, «das ist gar kein Stift!», und sie lächelt und zeigt ihrer Schwester diesen Blutstillerstift, den sie aus seiner Plastikfassung gezogen hat. «Das da ist gar kein Stift, Papa!, du bist ein Schwindler!»

Ich habe noch immer Blut im Gesicht, die Kleine sieht dieses Blut und weint nicht mehr, sie will jetzt mit ihren Fingern das Blut anfassen, das ich auf meinen Wangen und meinem Hals habe, die Große sagt, «ich will auch!» Ich sehe, wie die beiden Mädchen mein Blut an ihren Fingern betrachten. Ihre Blicke kreuzen sich, stoßen aufeinander, werden vertraulich. Auf der Verpackung des Blutstillerstiftes steht auch «Matita hemostatica», ich kenne dieses Wort nicht, und ich kenne die Sprache dieses Wortes nicht, ich denke, dass dieses Wort «Blutstillerstift» bedeuten soll.

Die Große will wissen, was das Wort «hemostatica» heißen soll, ich will mein Gesicht waschen und das austretende Blut mit Hilfe dieses Dings, genannt «Blutstillerstift», stoppen. Die Kleine hält einen kleinen Plastikzylinder in der Hand, und sie merkt, dass sie diesen Zylinder öffnen kann, indem sie einen Teil davon fest in der Hand hält und einen anderen Teil mit ihren Fingern dreht, sie sagt, «hier, Papa, hier ist dein Blutilertift!» Sie reicht mir die richtige Hälfte, und vor dem Spiegel streiche ich damit über die winzigen Verletzungen von der Rasierklinge.

Ich habe mein Gesicht mit einem der Tücher, die hinter mir aufgehängt sind, abgetrocknet, die Blutstropfen sind verschwunden, und an deren Stelle hat es nun weiße Tupfen vom Blutstillerstift. Die Große sagt, «Papa sieht aus wie ein Clown!», die Kleine sagt, «dreh dich um, Papa!», sie möchte die weißen Tupfen sehen, die über einen Teil meines Gesichts verstreut sind, ich versuche den Blutstillerstift zuzumachen, die Mutter kommt wieder herein und sagt, «wie schön du bist!»

«Matita hemostatica», ich denke, dass das «Blutstillerstift» in einer anderen Sprache bedeuten soll, die die Mädchen und ich nicht kennen. Auf der Kartonverpackung dieses Blutstillerstiftes, den man nach der Rasur anwenden kann, steht «Von Kindern fernhalten. Tenir hors de portée des enfants. Tenere fuori dalla portata dei bambini», ich lese diesen Text in drei Sprachen, ich verstehe ihn nur auf Französisch, dann gebe ich meinen Blutstillerstift und seine Verpackung den Mädchen und sage ihnen, «geht spielen damit, bis später, auf Wiedersehen, danke!»

Die Mutter kommt ins Badezimmer, sie umfasst mich von hinten mit ihren Armen, ihre Hände auf meiner Brust, ich will mir eine «After Shave»-Flüssigkeit aufs Gesicht auftragen, sie zieht mich zu sich, ich drücke sie mit meinen Ellenbogen weg, sie fährt mit ihren Händen über meine Hüften, dann über meine Beine, ich lasse die Flasche, die diese «After Shave»-Flüssigkeit enthält, auf dem Regal stehen, meine Frau küsst mich auf eines meiner Ohren, sie streichelt mit ihrer Hand meinen Hals und meine Wangen, ich höre die Mädchen in ihrem Zimmer reden, ich drehe mich zu meiner Frau um, ich reibe meine Wangen an ihren Wangen, ich reibe meine Wangen an ihrer Brust, sie streicht mit ihren Händen über meinen Rücken, ich bin frisch rasiert, sie sagt, «du riechst gut!», ich nehme sie in meine Arme, und sie sagt, «langsam!, langsam!», dann rückt sie mit der Sprache heraus: «Weißt du, die Mädchen sind daran, all ihren Puppen den Blutstillerstift zu verabreichen, die Kleine leckt immer wieder an deinem Stift und legt ihn danach auf die Möbel und auf andere Dinge, die Große fährt damit über ihre Beine, die Puppen haben ganz weiße Gesichter, die Kleine will ihrer Schwester den Stift nicht geben, die Große schubst sie, um an den Stift zu kommen, voilà!»

* * *

Sie geben dir zu essen, in einem Zimmer in der Nähe von jenem, in dem dein Vater in seinen weißen Laken ruht, du sitzt am Tisch vor dem Teller mit einem Schweinskotelett aus der Bratpfanne, mit Bohnen und gekochtem Reis. Du hast deine Hände auf deine Beine gelegt, du schaust die Speise an, die vor dir liegt, und die Leute, die schweigend neben dem Toten essen. Du denkst an den Ertrunkenen aus dem Fluss deiner Kindheit. Du warst fast sieben Jahre alt, als sie ihn in der Mitte des Wasserlaufs gefunden haben, mehrere Dutzend Meter flussaufwärts von der Eisenbahnbrücke. Sie sagten, es könne sich nicht um einen Selbstmörder handeln, der sich von der Brücke gestürzt habe, da er weit von der Brücke entfernt war und sich flussaufwärts befand. Seine Leiche war von einem Jungen deines Alters, der in der Nähe des Ertrunkenen am Fischen gewesen war, entdeckt worden. Dieser Freund war es, der die Hand des Toten aus dem Wasser hat ragen sehen. Das Wasser war niedrig an jener Stelle des Flusses, das Flussbett war im Sommer breit, und der Körper des Mannes war im Sand steckengeblieben. Du hast seine Augen gesehen.

Du hast zuerst diese Hand gesehen, die aus dem Wasser ragte, dann hast du gesehen, wie sie eine Art Absperrung errichtet haben mit Baumstämmen und Wellblechbögen, sie haben um das faulige Fleisch herum gegraben. Der tote Mann war seit drei Wochen aus seinem Dorf verschwunden, die Leiche des Ertrunkenen stank erbärmlich, und du hattest dein Stofftaschentuch fest vor deine Nase gebunden, du hattest dieses Taschentuch hinten am Nacken zusammengeknotet. Es waren mehrere Polizeibeamte da, die die ganze Nacht hindurch arbeiteten, um diese Leiche aus dem Wasser zu schaffen, ohne sie zu versehren, sie ließen nur die Kinder in die Nähe, die Erwachsenen schauten aus der Ferne zu, sie wussten, wer der Tote war, und es ging das Gerücht um, dass er vom Geliebten seiner Frau umgebracht worden war.

Du vergleichst beim Essen die Leiche des Ertrunkenen mit der Leiche deines Vaters, der in deiner Nähe ist, im anderen Zimmer. Der Ertrunkene hatte ein weißes und aufgedunsenes Gesicht, dein Vater hat ein glattes Gesicht, seine Farbe ist wie die der rostigen Blätter im Herbst. Du hättest deinen Vater nicht ertrunken sehen wollen, aufgefunden in einem Bett aus Sand, unter dem Wasser und nur mit einer Hand, die herausragt und sichtbar ist, dein toter Vater ist seinen Tod gestorben, er ist unter Backsteinen gestorben, die dein Zuhause hätten werden sollen. Die Polizisten waren alle in Unterhosen und hantierten um die Leiche herum, um sie aus dem Wasser zu schaffen, und ihr, die Jungen der Straße, die neben dem Fluss gebaut worden war, ihr schautet ihnen zu, unmittelbar neben dem Toten, die Polizisten baten euch manchmal um eure Hilfe, einer von ihnen sagte, «kommt her, ihr Bengel, haltet diesen Balken gut fest, stemmt ihn gegen mich, damit das Wasser nicht in den trockenen Wall des Toten eindringen kann!», und ihr, ein gutes Dutzend Kinder, ihr stemmtet euch gegen diesen Balken und gegen das Wellblech, das ihn stützte, und ihr hieltet einige Minuten lang gut fest und konntet sehen, wie die Polizisten rund um die Leiche herum den Sand entfernten und wie die Augen des Toten weit offen standen.

 

Dein Vater konnte im Wasser nicht ertrinken, er war ein guter Schwimmer, er liebte es zu baden, und er ist kein Risiko eingegangen. Du hast Leichen von Ertrunkenen immer gehasst, und du hast mehrere Ertrunkene gesehen, bevor du deinen Vater in seinem Sarg gesehen hast. Der Mann, der von den Polizisten deiner kleinen Stadt tot aus dem Wasser geborgen wurde, war dein erster Ertrunkener. Als sie ihn aus dem Sand gegraben haben, hast du ihn starr in einer Position gesehen, die du noch nie zuvor gesehen hast, bei niemandem, er sah aus wie ein Tänzer, der mitten im Tanz gestorben und so erstarrt ist, im Tanzschritt, den er gerade vollführte, um sich dem Publikum zu präsentieren, die Hand, die aus dem Wasser ragte, war die Hand, die über dem Kopf erstarrt ist, die andere Hand lag an seiner Hüfte, wie in einem modernen Tanz. Du hast gesehen, wie sie ihn auf eine Totenbahre aus Blech gelegt haben, der Gestank des Kadavers des Ertrunkenen ist durch eure Taschentücher gedrungen und in eure Hälse gelangt, du hattest den Drang, dich zu übergeben, und du hast dich zurückgehalten, du bist ihnen gefolgt bis zum Strand, wo sie ihn obduziert haben.

Seine Frau war da, du kanntest sie, und du fandest, dass sie eine der hübschesten Frauen ihres Dorfes war, sie hatten drei Kinder, sie hatten zwei Mädchen und einen Jungen, und alle drei waren jünger als du. Sie haben ihn in einer kleinen Lichtung obduziert, im Gestrüpp neben dem Strand, die Polizisten haben versucht, nun auch euch Kinder zu verscheuchen, dich und noch vier Kameraden von dir, ihr seid in der Nähe dieses notbehelfsmäßig unter freiem Himmel aufgebauten Operationssaals geblieben, am Flussufer, umgeben von Pappel- und Weidenbaumsprösslingen.

Manchmal hast du die Frau des Toten angeschaut, die von Kopf bis Fuß schwarz angezogen war, und auf dieselbe Weise schaust du deine Stiefmutter an. Du schaust die beiden an, so wie man jemanden anschaut, der gerade in Ohnmacht fällt, und man schaut und geht hin und will ihn beim Fallen stützen, und die beiden Frauen haben sich, als du dich ihnen erst mit deinem Blick, dann mit deinem Körper nähertest, alle beide wieder gefangen von diesem Ohnmachtsanfall, und du hast gesehen, wie sie alle beide den Kopf geschüttelt haben, aufgehört haben zu weinen und sich den Leuten um sie herum zugewandt haben.

Deine Mutter war nicht so, sie gab nicht vor, in Ohnmacht zu fallen wie die Frau des Ertrunkenen und wie deine Stiefmutter. Sie war wie jemand, der ein Gemälde im Museum betrachtet, sie betrachtete es mit Tränen in den Augen und mit einer Art von Lächeln auf den Lippen, das du kanntest.

Du hast die Hände des Leichenbeschauers gesehen und die Skalpelle, die er in seinen Händen gehalten hat, und die Schnitte im Fleisch des ertrunkenen Toten, du hast gesehen, wie er den Bauch des Toten geöffnet hat, und du bist weggegangen, du bist dem Fluss entlang nach Hause gegangen. Die Frau des Ertrunkenen hast du öfters auf der Straße gesehen, sie brachte ihre Kinder zur Schule, sie war ganz im Schwarz der Trauer gekleidet, sie ging umringt von ihren drei Kindern, und sie ging aufrecht und mit erhobenem Haupt. Man hat nie herausgefunden, ob ihr Mann von ihrem Liebhaber getötet worden war oder von jemand anderem. Du isst deinen Reis, dein Fleisch und deine Bohnen mit Hilfe einer Gabel und eines Messers, du weißt nicht, was aus der Frau des Ertrunkenen und aus ihren Kindern geworden ist, dein Vater wartet auf seine Beisetzung, du erinnerst dich nicht mehr, ob der Fluss, in dem du für gewöhnlich angeltest, in jenem Jahr Hochwasser führte.

* * *

Sie treten beide in den Eingangsraum der Wohnung, sagen guten Abend, geben den Familienmitgliedern der Reihe nach Küsschen, nehmen ihre Jacken und hängen sie an den Garderobenständer, machen ein paar Schritte Richtung Küche, betrachten die Bilder an den Wänden, und dann zieht sie, nachdem sie zwischen Salon und Schlafzimmer stehengelieben ist, ein in gestreiftes Papier eingepacktes Paket hervor, weiß und blau, mit Chrysanthemen darauf, und sagt: «Da ist eine Plüschschnecke drin, in den Farben: gelb, grün, blau, gelb, rot, rot, gelb, grün, blau, gelb, gelb, blau, grün, gelb, rot, rot, grün, blau, rot, gelb, grün, gelb, rot, gelb, blau, grün, gelb, gelb, blau, rot, für die kleine Tochter, die bald zwei Monate alt wird.»

* * *

Die Großmutter mütterlicherseits ist nicht mit dir an das Begräbnis deines Vaters gekommen, sie hat in ihrem Leben viele Menschen sterben sehen, sie hat ihre Eltern sterben sehen und Leute aus ihrer Straße. Sie ist bei ihren Verpflichtungen geblieben, bald muss sie ihren Mais ernten, du weißt ja, dass sie sich ganz alleine um ihre Getreidefelder und um ihren Gemüsegarten kümmert, sie arbeitet unermüdlich für sich und ihre Neffen, die sie gerne bei sich hat, es ist ihr nicht möglich, an alle Begräbnisse zu gehen, du erinnerst dich daran, wie sie manchmal nur eine Kerze am Kopf des Toten anzündete und dann wieder nach Hause ging, sie ging nach Hause, um ihre Hühner und ihr Schwein zu füttern, ihren Hund und ihre zwei Katzen, die du oft mit einem Wollknäuel hast spielen sehen. Dein toter Vater und deine lebende Großmutter mütterlicherseits, dein Vater, dem du nicht mehr zusehen kannst, und deine Großmutter, die immer dabei ist, Maiskörner zu säen auf ihrem Acker, der an den Hinterhof des Hauses grenzt: Sie nimmt eine Schnur, etwa zwanzig Meter lang, die an einem Stück Holz ohne Rinde aufgewickelt ist, es ist eine Wollschnur, dick wie einer deiner kleinen Bubenfinger. Sie nimmt diese aufgewickelte Schnur und geht damit auf ihr frisch von einem Traktor der Einheitspartei gepflügtes Feld. Sie nimmt aus der großen Tasche ihrer Bauernschürze ein zweites Stück Holz von der Länge zweier Esslöffel hervor und drückt dieses Stück Holz in die Erde hinein, am Anfang ihres Ackers, der etwa vierzig Meter breit und fast dreihundert Meter lang ist. Dann befestigt sie das Ende der Schnur am Holzstück und geht langsam über ihr Feld, während sie ihre Schnur abwickelt. Sie geht immer so weiter, bis die Schnur ganz abgewickelt ist, sie geht noch ein paar Meter vor und zieht an der Schnur, um sie satt zu spannen, und du siehst, wie diese sich aus der Ackerscholle hebt und in der Luft hängen bleibt, gespannt zwischen zwei in die Erde gerammte Holzstücke.