Die Wolfssymphonie

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Du hast angefangen, sie zu beißen. Sie hat sich mit ihren Händen an deinem Rücken festgeklammert, du hast in ihre Brüste und ihren Bauch gebissen, sie hat nicht mehr gezittert, und ihr seid beide nass gewesen von eurem Schweiß. Du hast in ihren Hals gebissen und in ihre Beine. Du hast in ihre Waden und ihre Pobacken gebissen. Dein Geschlecht ist in ihres eingedrungen, du hast die Augen geschlossen, du hast sie gebissen, du hast die Augen wieder geöffnet und du hast gesehen, wie sie ihren Kopf auf dem Kopfkissen von einer Seite auf die andere geworfen hat. Deine Hände lagen auf ihren Schultern, und ihre hielten dich an deiner Taille fest.

Am Anfang hat sie sich, während mehrerer Minuten, nicht bewegt. Diese erste Penetration in deinem Leben hat fast eine Stunde gedauert, und am Anfang hat sie dich machen lassen, am Anfang, während mehrerer Minuten, hat sie sich nicht bewegt. Sie hat auch nichts gesagt. Deine Augen waren geschlossen, und aus der Nase kam ein Laut ähnlich dem eines Wolfes, der die Zähne fletscht, und immer, wenn du Liebe machst, kommt dieser Ton aus deiner Nase.

Während du in ihr drin warst, hast du deine Augen zu- und wieder aufgemacht, du hast dich an sie gedrückt, dein Kopf an ihrer linken Schulter, und du hast ihr ins Ohr gehaucht. Sie hat ihren Körper bewegt, und ihre Hände haben dich abwechselnd zu ihr hingezogen und weggestoßen, und du hattest das Gefühl, sie jedes Mal zu verlieren und wiederzufinden. Du hast angefangen, sie zu lecken und ihre Brüste zu küssen, du hast ihre Brustwarzen geleckt, du hast mit deinen Fingerspitzen ihre Brüste gestreichelt, und ihre Vagina hat dein Geschlecht zusammengepresst und sich dann wieder gelöst, du bist tiefer in sie eingedrungen, und sie hat ihren Körper gegen den deinen gestoßen.

Als du gekommen bist, standest du aufrecht. Du hieltest sie mit deinen Händen an ihrer Taille fest, und ihre Hände waren um deinen Hals geschlungen. Ihr Rücken lehnte gegen die Tür des umfunktionierten Schlafraumes, sie biss sich auf die Unterlippe, sie seufzte tonlos, du zogst instinktiv die Oberlippe hoch, du fühltest, wie sich ihr Geruch in deinem Gedächtnis festsetzte, ihr hattet beide mehrere Spasmen. Sie hat sich ohne ein Wort angezogen und hat dich nackt neben dieser Schlafraumtür stehen lassen, am Ende der Mittagspause. An diesem Nachmittag ist sie nicht wieder zur Arbeit erschienen.

Am nächsten Tag ist die junge Buchhalterin in einem langen blauen Rock mit langen Ärmeln zur Arbeit gekommen, und ihr Hals war von einem gelben Seidenschal bedeckt. Du hast sie von ihrem Büro aus in die Kantine gehen sehen, und du hast begriffen, dass sie unter ihren Kleidern die Spuren deiner Bisse versteckt hielt, und du hast nicht mehr daran gedacht zu masturbieren, während du die Bilder ihres Körpers in Erinnerung riefst. Du hast deinen Freunden aus der Klasse nichts von deiner Mittagspause mit der vierundzwanzigjährigen Frau erzählt. Du hast nur mir von diesem Tag erzählt, und ich hatte dir gesagt, dass diese junge Buchhalterin fünf Monate später von deinem Vater entlassen worden sei, weil sie bei den Gehaltsabrechnungen zwei Stellen von fiktiven Schweißern aufgeführt habe.

Seit jenem Tag hast du nicht mehr masturbiert, aber dein Vater wusste es nicht, und er wollte dich immer zu Frauen mitnehmen, und er redete über die Masturbation und sagte, dass es keinen Sinn mache zu masturbieren. Wenn er über die Mitglieder der Einheitspartei sprach, sagte dein Vater, der tot ist, immer, «sie denken nicht: Sie masturbieren den Gedanken!» Auf seine Weise hatte dein Vater recht. Er musste immer mit den Baumateriallieferungen auskommen, die für den Weiterbau oder den Abschluss der Arbeiten notwendig waren. Die Mitglieder der Einheitspartei sagten ihm, «die Arbeiten müssen zwei Monate vor dem vorgesehenen Datum abgeschlossen sein!», und sie taten so, als ob sie nichts vom Mangel an Zement oder Betoneisen oder Trägerbalken oder Baugerüsten wüssten. Dein Vater hat mit vielen Frauen geschlafen. Er hat nie mit Frauen geschlafen, die mit ihm auf der Baustelle gearbeitet haben. Dein Vater hat mit mehreren Frauen von Mitgliedern der Einheitspartei geschlafen. Deinem Vater machte es Spaß, mit Frauen zu schlafen, deren Ehemänner Mitglieder der Einheitspartei waren. Dein Vater nannte die Einheitspartei «die Partei der gehörnten Ehemänner und Masturbierer».

Dein Vater ist gestorben, ohne dass er dir eine Frau hat geben können, und er wollte nicht, dass du masturbierst. Du hast in deinem Zimmer des Hauses, in dem du mit deiner Großmutter wohntest, masturbiert, und sie wusste, dass du masturbierst. Sie hatte die Spermaflecken auf deiner Bettdecke gesehen, und sie war es, die deine Laken und deine Kleider wusch. Sie hat nie etwas über die Masturbation gesagt.

Nach dem Tod deines Vaters, wenn sie dich am Morgen weckte und wusste, dass du mit einem Mädchen auf dem Zimmer warst, klopfte sie gegen die Fensterscheibe, wartete, bis du sagtest, «ist gut, ich bin wach!», und sagte dann mit lauter Stimme, «der Tee steht bereit, ich habe zwei Tassen hingestellt, bring das Mädchen mit!»

Dein Vater wollte das leben, was deine Großmutter mütterlicherseits mit dir lebte. Er ist in Folge dieses Verkehrsunfalls gestorben: Er ist in diesem Laster gestorben, der mit Backsteinen gefüllt war, die für den Anbau von zwei zusätzlichen Zimmern am Haus seiner neuen Frau gedacht waren. Er wollte, dass du in diesen zwei Zimmern wohnst, und er wollte in deiner Nähe sein, um dich zu erziehen. Dein Vater wollte nicht, dass du masturbierst.

Die Freunde aus deiner Klasse masturbierten alleine oder in kleinen Gruppen, und sie masturbierten in den Toiletten der Schule oder trafen sich bei jemandem zu Hause, wenn die Eltern nicht da waren, sie masturbierten zu zweit, zu dritt oder zu viert in einem Zimmer. Manchmal masturbierten sie im Schlafzimmer der Eltern, sie masturbierten, während sie einander dabei zusahen, und sie berichteten in der Schule von ihren Gruppenmasturbationssitzungen. Sie luden dich zu sich ein, um vor ihnen zu masturbieren.

Du bist nur ein einziges Mal bei einem deiner Schulfreunde zu Hause gewesen, und du hast gesehen, wie sie zusammen masturbiert haben. Es waren fünf Jungen in einem Zimmer, und sie haben masturbiert, während sie über die Masturbation und über die verschiedenen Arten, sich zu masturbieren, geredet haben, und du hast ihnen zugeschaut, ohne etwas zu sagen, du hast ihnen zugehört, und sie haben gesagt, «na los!» Du hast geantwortet, «ich habe keine Lust!», und sie haben dich in diesem Zimmer bleiben lassen, in dem sie sich in der Gruppe masturbiert haben, während sie über die Mädchen und die Frauen geredet haben, die sie zum Masturbieren anregten.

Einmal hat dich ein älterer Junge, er sei einer deiner Nachbarn gewesen, hast du gesagt, zu sich nach Hause eingeladen und hat dir seine Angelruten gezeigt, seine Angelhaken und seine Nylonschnüre, dann hat er dir vorgeschlagen, mit ihm zusammen zu masturbieren, er hat dir gesagt, «du holst dir einen auf dem Bett runter, und ich hole mir einen auf dem Teppich runter». Du hast diesen Vorschlag abgelehnt, er hat gesagt, «dann hole ich mir alleine einen runter», und du hast gesehen, wie er sich ausgezogen hat und wie er dann seinen Penis zwischen seinen Handflächen gerieben hat. Er hat sein Geschlecht zwischen seinen Handflächen gerollt, er lag auf dem Rücken, und du hast ihm zugesehen und hast draußen das Gegacker der Hühner gehört, das sie machten, wenn sie Weizenkörner oder Mais gefüttert bekamen, die Hühner waren zufrieden, sie gurrten, du hast dir diese Hühner vorgestellt, wie sie die Körner aufpicken, und du warst bei einem deiner Nachbarn, der vor dir masturbiert hat, und du wusstest, dass dieser Junge aufs Gymnasium ging.

Du dachtest, dass du deinem Vater eines Tages alles würdest erzählen können, was du über die Masturbation wusstest, du hattest vor, ihm zu sagen, dass du mehrere Male Leute beim Masturbieren gesehen hattest. Du hattest vor, ihm zu sagen, dass du bis zum Tag, an dem du mit dieser jungen vierundzwanzigjährigen Buchhalterin Liebe gemacht hast, masturbiert hattest.

Du hast Erwachsene im Park deiner kleinen Provinzstadt masturbieren sehen. Du hast Leute gesehen, die zum Angeln gingen und am Flussufer neben ihrer ausgeworfenen Angelrute masturbiert haben. Du hast Schulkameraden deiner Primarschule im Gebüsch des Parks der Schulanlage masturbieren sehen.

Du wusstest nicht, dass auch die Mädchen masturbieren. Deine Schulfreunde der Primarklasse wussten auch nicht, dass Mädchen masturbieren. Die Mädchen deiner Klasse sprachen mit den Jungen nicht über Masturbation. Deine Freundin der Primarschule hat mit dir nie über Masturbation gesprochen. Du wusstest, dass die Mädchen deiner Klasse die Jungen über Masturbation reden hörten, du hast sie angeschaut, und du hast gesehen, dass sie so tun, als würden sie nichts hören, du hast deine Lehrer angeschaut, und du dachtest, dass auch sie masturbieren. Du dachtest, dass deine Lehrer mit Bildern ihrer Frau im Kopf masturbieren oder mit Bildern von Frauen, die an der Schule unterrichteten.

Du hast dir deine Lehrer beim Masturbieren vorgestellt, du hast sie dir nackt vorgestellt, und jeder von ihnen hat sein Geschlecht gerieben wie du und deine Klassenkameraden. Du wusstest, dass die Mitglieder der Einheitspartei masturbieren, du dachtest, dass sogar der Chef der Einheitspartei masturbiert. Du dachtest daran, was dein Vater über die Masturbation sagte, du hattest instinktiv aufgehört zu masturbieren, und du fingst an zu verstehen, dass «masturbieren» nicht nur bedeutet, dass einer sich Befriedigung verschafft, indem er sein Geschlecht in seinen Händen reibt.

Du warst etwas über dreizehn Jahre alt, du warst aus den Ferien bei deinem Vater zurückgekommen, die Schule hatte wieder angefangen. Es war dein letztes Schuljahr vor dem Gymnasium, du hattest mir einer jungen Frau Liebe gemacht, du hast die Mädchen deiner Klasse betrachtet, und du wusstest, dass jede von ihnen eines Tages nackt in einem Bett neben einem Jungen deines Alters oder neben einem anderen Mann liegen würde. Du wusstest, dass du nackt neben einem Mädchen deines Alters liegen könntest, du wusstest, dass du nackt im Bett deiner Freundin liegen könntest. Du wusstest, dass die junge vierundzwanzigjährige Buchhalterin irgendwo war, vielleicht nackt, in einem Bett, neben einem Mann.

 

Du hast dir deinen Vater nackt neben einer nackten Frau vorgestellt, und du hast sie beide nackt beim Liebemachen gesehen. Du hast dir deinen Vater vorgestellt, wie er mit den Frauen, die er dir vorgestellt hatte, Liebe machte, du hast deinen Vater und eine Frau gesehen, ineinander verschlungen und nackt.

Du hast bekleidete Menschen angeschaut, und dir ist bewusst geworden, wie leicht es ist, sie nackt zu erfassen, du hast verstanden, dass du die Kontur der Körper der Leute durch ihre Kleider hindurch wahrnehmen konntest. Du hast gelernt, die Nacktheit der Menschen zu rekonstruieren, du hast nicht mehr masturbiert. Wenn jemand mit dir geredet hat, galt deine Aufmerksamkeit gleichzeitig seinen Worten und seiner Nacktheit. Du wolltest mit deinem Vater darüber sprechen, was in dir vor sich ging mit den Leuten. Dein Vater ist gestorben ohne zu wissen, dass es zwischen den Jungen deiner Klasse nicht nur die Masturbation gab. Einige von euch gaben sich auch körperlichen Kontakten hin, und diese Körperkontakte imitierten das Liebesspiel zwischen zwei Menschen, du hast diese sexuellen Spiele selber erlebt. Ihr habt so getan, als wärt ihr ein Pärchen, ihr wart nackt. Einer von euch spielte die Rolle der Frau, der andere spielte die Rolle des Mannes, dann habt ihr die Rollen getauscht. Jeder von euch war einmal der Mann und einmal die Frau, ihr seid aufeinander gestiegen, ihr habt euch berührt, ohne dass das Geschlecht von einem von euch in den Anus des anderen eingedrungen ist, ihr habt geschwitzt, und ihr habt eure Körper aneinander gerieben und habt ejakuliert.

Dein Vater ist gestorben, ohne dass du ihm davon hast erzählen können, dass du diese Art von sexueller Lehre kennengelernt hattest. Er wollte, dass du Frauen kennenlernst, und er wollte, dass du mit Frauen Liebe machst, er wollte nicht, dass du masturbierst.

Deine Mutter wusste nicht, dass du masturbiertest, sie kannte deine Spiele nicht, die du mit drei deiner Kameraden triebst. In den Zeiten, in denen du nicht unter demselben Dach wie deine Mutter lebtest, sah sie dich nur selten. Als du bei deiner Großmutter wohntest, lebtest du dein Leben, zu dem die Masturbation und die sexuellen Rollenspiele mit einem deiner drei Kameraden gehörten. Deine Mutter hat nie erfahren, dass du mit der jungen Buchhalterin, die auf der Baustelle deines Vaters arbeitete, Liebe gemacht hattest. Deine Mutter hat angefangen, mit dir über die Sexualität zu sprechen, als du ungefähr sechzehn warst, sie sagte, «du musst dir immer im Klaren darüber sein, was du tust, wenn du mit einem Mädchen ausgehst», sie sagte auch, «du musst dir immer im Klaren darüber sein, was du tust, wenn du mit einem Mädchen schläfst!»

Als deine Mutter mit dir über deine Beziehung zu Frauen gesprochen hat, hast du sie dir nackt vorgestellt, beim Liebesspiel mit deinem Stiefvater, und du hast dir beide nackt in ihrem Bett in ihrer Wohnung im vierten Stock eines Hochhauses mit hundertzwanzig Wohnungen vorgestellt. Es gab Worte, über die du mehr nachgedacht hast als über andere, deine Mutter redete über den sexuellen Akt, du hast sie dir nackt neben deinem Stiefvater vorgestellt, und du hast über das Wort «Stellung» nachgedacht. Dieses Wort dürfte es nicht geben. Du hast über die Sprache einiger deiner Lehrer nachgedacht, über die Sprache der Mitglieder der Einheitspartei, das Wort «Stellung» war mit der Doktrin der Einheitspartei verbunden, es war mit sexuellen Spielen verbunden, es war Teil der Sprache der Jäger, das Wort «Sprache» dürfte es nicht geben. Du hast über den Sinn des Wortes «Schule» nachgedacht, das Wort «Schule» hat mehrere Bedeutungen, das Wort «Schule» dürfte es nicht geben, du hast über das Wort «Rolle» nachgedacht, «Liebe», während deine Mutter dir erklärt hat, wie man sich Frauen gegenüber verhält, du hast über die Wörter nachgedacht, die es nicht geben dürfte.

Das Wort «Schule» hast du schon in verschiedenen Verwendungen gehört, und dein Onkel, der Bruder deiner Mutter, hat oft über das gesprochen, was er «die Schule des Lebens» nannte. Dein Onkel machte einen Unterschied zwischen der Schule, in der man Geographie und Physik lernt, und der «Schule des Lebens». Dein Onkel wusste nicht, dass du masturbiertest, und er hat nie erfahren, wer die erste Frau war, mir der du schliefst. Er nahm dich oft mit, in seinem Dienstwagen, er zeigte dir Leute und Bäume, Häuser und Straßen, Hoftore und viele andere Dinge.

Die Schule, in die du jeden Tag mit einer Tasche voller Bücher und Hefte gingst, war für deinen Onkel ein Bestandteil seiner «Schule des Lebens». Die Schule, in der du deine Freunde und Freundinnen hattest, diese Schule, in der es Lehrerinnen und Lehrer gab, war in der «Schule des Lebens» enthalten, und die «Schule des Lebens» deines Onkels bedeutete alles, was ein Mensch auf Erden erleben und verstehen und lernen kann. Die Einheitspartei war ein winziger Teil der «Schule des Lebens», die Einheitspartei wollte sich durch die Sprach- und Verhaltensweise ihrer Parteimitglieder der Schule des Lebens entziehen, die Einheitspartei war nichts als ein dürres Blatt in der Schule des Lebens, die dein Onkel und der Rest der Welt dir in jedem Augenblick deiner Existenz vorhielten. Die Wörter sind nicht Teil der Schule des Lebens. Die Wörter erfassen kaum etwas von der Welt, sie treiben durch die unendliche Weite dahin und scheinen zu schweben. Die Schule des Lebens hat nichts mit den Wörtern zu tun. Die Schule des Lebens ist all das, was vor jedem Wort und vor allen Wörtern passiert.

Dein toter Vater, vor dir in seinem Sarg aus Holz, war eine Facette dieser Schule des Lebens, die dein Onkel dich zu lehren anfing. Dein Vater, der einige Frauen kannte und der dir jede Frau, die er kennengelernt hatte, vorstellte, benutzte öfters den Ausdruck «sich selber sein», und so gab es zwei Ausdrücke, über die du während deiner Tage und Nächte immer wieder nachdachtest, du dachtest an deinen Onkel und an die Schule des Lebens, du dachtest an deinen Vater und an das Sich-selber-sein.

Deine Mutter wusste, dass ihr Bruder mit dir über die Schule des Lebens sprach, und sie wusste, dass dein Vater mit dir über das Sich-selber-sein sprach. Deine Mutter hat einmal gesagt, «ich hasse die Frauen», und diese Worte deiner Mutter haben inmitten der Worte deines Vaters und derjenigen deines Onkels einen Platz eingenommen. Du hattest Worte, die von deiner Mutter stammten, du hattest Worte, die von deinem Vater stammten und von deinem Onkel, und du hast all diese Worte zusammengetragen, und manchmal hast du dir gesagt, dass es Worte nicht geben dürfte.

Ich weiß nicht, welche Worte du bei mir aufgeschnappt hast. Ich kenne die Worte, welche du von anderen aufgeschnappt hast, ich weiß, dass du alle Worte hörst, und du hast mir mehrmals von deiner Art, wie du dir Worte aneignest, erzählt. Du hast eine eigene Art, dir Worte anzueignen. Du bist ein Herr der Worte, und ich habe dich gesehen, wie du die Blumen in meinem Garten gegossen hast, ich habe dich die Blumen und die Autogarage anschauen sehen, die Blumenerde, den Gartenschlauch und den Wasserstrahl, und du hast an ein Wort gedacht, an ein einziges Wort, das die Blumen, ihre Erde, die Autogarage, den Gartenschlauch und den Wasserstrahl, der aus dem Plastikschlauch kam, miteinander zu verbinden vermag: Und als ich dich damals so sah, warst du zehn Jahre alt, und du masturbiertest.

Einige der Arbeiter deines Vaters masturbieren noch immer, und sie sind gekommen, um sich von deinem Vater zu verabschieden. Du wusstest, dass einige der Arbeiter deines Vaters masturbierten, und du hast einige Arbeiter deines Vaters in dunklen Ecken der Baustelle beim Masturbieren gesehen. Sie masturbierten in Räumen, die sich im Bau befanden, sie masturbierten bei der Arbeit, und sie setzten ihre Tätigkeit nach dem Masturbieren wieder fort. Du kanntest die Arbeiter, die auf der Baustelle arbeiteten, gut, und du konntest an ihren Gesichtern ablesen, ob sie in die Kantine oder in eine der dunklen Ecken der Baustelle masturbieren gingen. Einer der Arbeiter hat dir einmal gesagt, «du bist noch klein und hast keine Ahnung», und du hast geantwortet, «ich weiß, dass du masturbierst und dass du stöhnst, wenn du hinter dem Stoß Dachpappenrollen masturbierst!», und dieser Mann hat nach diesem kurzen Wortwechsel nicht mehr auf der Baustelle masturbiert. Das Wort «Masturbation» dürfte es nicht geben.

Angesichts der sterblichen Überreste deines Vaters sagen dir die Wörter wenig. Du bist bei deinem toten Vater, und ihr seid jetzt zusammen und ohne Wörter. Bei allen Leuten siehst du ihr «ohne Wörter», und du fragst dich, ob «ohne Wörter» in der Schule des Lebens mit eingeschlossen ist, oder ob die Schule des Lebens in «ohne Wörter» mit eingeschlossen ist. Du stellst dir diese Frage mit vierzehn Jahren, und du stehst vor deinem toten Vater, und ich schaue dich mit meinen achtundneunzig Jahren an, und mir wird bewusst, dass du dabei bist, Gott in die anderen Wörter mit einzuschließen, und auch das Gegenteil machst du, du schließt jedes Wort in Gott mit ein, dann vermischst du die Bedeutungen irgendwie miteinander und suchst das Wort, das sämtliche Wörter enthalten wird, du kannst das Wort noch nicht finden, und du weißt nicht, ob es überhaupt ein Wort ist, das du finden wirst, und ich schaue dich an und weiß, dass ich sterben und nicht wissen werde, wie weit du gegangen bist in deiner Wahrnehmung der Welt und der Wörter.

Schau deinen Vater an und durchsuche das Bild, das du von ihm im Sarg hast, so wie du meine Kisten voller Werkzeuge und Nägel durchsucht hast. Du hast diese Kisten mit einem Blick und mit Handgriffen durchsucht, wie ich sie nie zuvor bei jemandem gesehen habe. Mit deinem auf die Werkzeuge und Nägel fixierten Blick hast du den Rest der Welt in meine Kisten gebracht, und meine Nägel und meine Werkzeuge waren Frauen und Männer, waren Lebensgeschichten, meine Nägel waren Soldaten im Schützengraben und Leute, die auf einer Terrasse ein Bier tranken. Meine Werkzeuge waren Blumen und Kochtöpfe, sie waren Kinder in einem Schulhof, du hattest einen Blick wie einen Faden, an dem die Welt hing, und du hast mit diesem Faden meine Werkzeugkisten durchsucht.

Du bleibst alleine bei deinem toten Vater zurück, sie lassen dich alleine mit ihm. Niemand kommt jetzt mehr in das Zimmer des Hauses deiner Stiefmutter zurück, in dem du dich alleine mit deinem toten Vater, in seinen Sarg aus Holz gebettet, befindest. Alle sind draußen, Männer und Frauen, sie reden über die Schuld des Fahrers. Das Wort «Schuld» dürfte es nicht geben. Sie sagen, «der Fahrer ist schuld!», sie sagen, dass der Fahrer nicht in den Leerlauf hätte schalten dürfen, sie sagen, dass er zu spät reagiert habe, sie sagen, er hätte früher bremsen sollen.

Der Fahrer ist hier, draußen, er sitzt auf einem Stuhl neben dem Brunnen, und er denkt an seine Frau und an seine vier Kinder. Er denkt an seinen Prozess, er denkt an den Richter, der über sein Verhalten beim Unfall urteilen wird. Der Fahrer und dein Vater waren mehrere Male zusammen mit diesem Laster unterwegs, der die Backsteine für deine zwei Zimmer transportierte. Der Lastwagenfahrer sagte zu deinem Vater, dass er gerne einen neuen Laster hätte, der Laster, der mit deinem Vater die Schlucht hinuntergestürzt ist, war fünfzehn Jahre alt, dein Vater sagte dem Fahrer, dass die Einheitspartei schon längst nicht mehr daran denke, alte Lastwagen zu ersetzen. Dein Vater sagte dem Fahrer, «die Welt ist aus dem Lot, mit denen da», der Lastwagenfahrer rauchte beim Fahren, dein Vater und der Lastwagenfahrer rauchten während der Fahrt, und der Lastwagenfahrer wiederholte, «ich hätte gerne einen neuen Lastwagen».

Um einen neuen Lastwagen zu bekommen, müsste der Fahrer dem Chef der Transportkolonne der Baustelle ein stattliches Trinkgeld geben. Die Lastwagenfahrer mussten ihren Chefs Trinkgelder geben, um einen neuen Lastwagen zu bekommen, die Lastwagenfahrer warteten jahrelang auf ein neues Fahrzeug. Die Chefs der Lastwagenfahrer sagten, «es gibt eine Warteliste», die Lastwagenfahrer arbeiteten schwarz, um ihren Lohn zu erhöhen und um den Chefs Trinkgelder zu bezahlen, sie transportierten schwarz Zement und Holz, Kies und Möbel, Asphalt und Schotter. Jeder Lastwagenfahrer träumte von einem neuen Lastwagen, während die Einheitspartei Wartelisten für neue Lastwagen erstellte. Zur gleichen Zeit, wie die neuen Lastwagen hergestellt wurden, wurden die Wartelisten für neue Lastwagen erstellt, der Lastwagenfahrer, mit dem dein Vater verunfallt ist, ist hier, draußen, er denkt an seine Frau und an seine vier Kinder, er denkt nicht mehr an einen neuen Lastwagen.

 

* * *

Ich nehme meiner Frau die mit Kaffee gefüllte Tasse aus der Hand, schaue mich um, auf dem Schreibtisch, auf dem Zeitungsstapel, auf den Unterlagen in einer offen stehenden Schublade, auf den Regalen neben der Bibliothek, ich sehe keinen einzigen freien Platz, an dem ich meine Tasse abstellen könnte, ich schaue auf den Boden, bücke mich und stelle die Tasse neben meinen Füßen hin. Die Große kommt mit einer Zeichnung in der Hand auf mich zu, die Zeichnung ist voller Farben, und ihr Blatt zeigt die ganze Familie. Von links nach rechts: meine Frau, die Kleine, die Große, der Hund und ich, wir stehen alle auf einem Bein, und wir tanzen und spielen ein Spiel, bei dem man so lange wie möglich auf einem Bein tanzen muss, unter dem Himmel der Zeichnung und unter dem runden und gelben und vollen Mond; sie zeigt mir die Zeichnung und hält mir das Blatt unter die Nase, sie sagt, dass die Zeichnung von ihr sei, sie sagt, dass sie von mir ein beschriebenes Papier aus einem der Plastikfächer haben wolle, um auf diesem Blatt den Buchstaben «Q» zu suchen und einzukreisen, ich lege meine rechte Hand auf ihre linke Schulter, ich ziehe sie zu mir, ich küsse sie auf die Stirn, ich sage ihr, dass ihre Zeichnung schön sei, ich küsse sie noch einmal auf die Stirn und drücke sie an mich, sie schielt auf meine offene Schublade, in dem sich bedrucktes Papier befindet, sie denkt an ihr Papier, ich nehme mit der linken Hand eines der Blätter und gebe es ihr, der Regen ist eine gehäkelte Spitze an unseren Fensterrahmen wir lieben es hindurchzuschauen durch ihre Maschen und durch ihre gehäkelte Durchsichtigkeit an unseren Fensterrahmen der Regen ist eine gehäkelte Spitze draußen wir lieben es ihre Durchsichtigkeit anzuschauen durch ihre Maschen hindurch ihre Durchsichtigkeit wir lieben es an unseren Fensterrahmen den Regen anzuschauen seine Maschen seine Durchsichtigkeit wir betrachten wie sie zu einer Spitze gehäkelt sind draußen vorbeigehende stumme Passanten eingetaucht in das Fieber der Straße der stummen Straßenpassanten der stummen Straßen Stumme kratzen mit ihren Schritten an den Worten die ich rede ich sage ich trinke mit dir ich trinke diese von den schweigenden Passanten angekratzten Worte durch die Fenster hindurch an dessen Rahmen der Regen gehäkelt ist wie eine Spitze die wir durch ihre Maschen hindurch anschauen, ich lese ihr ein bisschen aus dem Text vor und sage, «setze die Kommas, wohin du willst, schieb den Stuhl in deinem Zimmer ein bisschen zurück und nimm Platz, rück mit deinem Stuhl vor, zur Tischkante hin, schau die geschriebenen Wörter auf dem Blatt an und setze mit deiner rechten Hand, mit einem Farbstift, den du dir aussuchen kannst, wann du willst ein Komma».

Sie nimmt das Blatt und geht in ihr Zimmer zurück, auf dem Flur trifft sie auf die Kleine, sie lässt die Tür ihres Zimmers offen, sie kniet sich auf den Parkettboden, legt das Blatt Papier vor sich hin, nimmt einen der verstreuten Farbstifte vom Boden auf, schaut die Wörter an und setzt die Kommas, wann sie will, wohin sie will.

Die Kleine nimmt einen anderen Farbstift, einen gelben Farbstift, der auf dem Boden liegt, sie zieht mit ihrer rechten Hand diesen Farbstift über das Blatt der Großen, die sagt, «nein, nein, nicht hier!, geh zu Papa, und er gibt dir ein Blatt nur für dich, und dort kannst du selber Kommas setzen», dann hörst du die Große sagen, «Papa, Papa, sie hat mir mein Blatt zerrissen, sie will mich beißen, jetzt hat sie einen meiner Farbstifte genommen, und ich will ein anderes Blatt, um Kommas zwischen die Wörter zu setzen».

* * *

Du stehst neben deinem toten Vater, du schaust in seinen Sarg, und du erinnerst dich, wie er dir gesagt hat, «komm mit!» Er ist mit dir zu einem seiner Lastwagenfahrer gegangen, der in der Kabine seines Fahrzeugs schlief, dein Vater hat ihn aufgeweckt und ihm gesagt, «nimm meinen Sohn und lass ihn ans Steuer!»

Der Lastwagenfahrer hat gegähnt und gesagt, «okay, Chef!», dann hat er sich zu dir gewandt und dich angesehen: «Steig ein!» Dein Vater ist weggegangen, und der Lastwagenfahrer hat den Motor gestartet, hat mit seinem Handrücken seine Augen gerieben und ist mit dem Lastwagen auf ein Gelände in der Nähe der Baustelle gefahren.

Du hast im Kopf das Wort «Lastwagen» buchstabiert, Silbe um Silbe, du hast «Last-wa-gen» gesagt, du hast immer wieder «Last-wa-gen» gesagt, während der Fahrer dir den Schalthebel gezeigt hat, mit dem man die Gänge wechselt. Er hat dich angeschaut und hat dir erklärt, wie das Gaspedal funktioniert. Du hast das Schema der fünf Vorwärtsgänge gelernt, und du hast, mit ausgeschaltetem Motor, die Bedienung des Schalthebels geübt. Du hast auf das Kupplungs- und auf das Bremspedal gedrückt. Der Lastwagenfahrer hat gesagt, «fahr los!», du hast den Motor angelassen, indem du den Zündschlüssel gedreht hast, du hast alleine in den ersten Gang geschaltet und hast die Kupplung losgelassen und gleichzeitig Gas gegeben, sachte.

Der Lastwagen ist angefahren, ganz langsam. Du hast nach vorne geschaut, und du hast die Richtung gehalten, indem du schnurgerade in einer Fahrspur aus gestampftem Sand gefahren bist, auf dem Gelände unweit der Baustelle, wo du die meiste Zeit warst, wenn du die Ferien bei deinem Vater verbrachtest.

Dein Vater wird auf der Ladefläche eines Lastwagens zum Friedhof gebracht werden.

Am Ende der Fahrspur hättest du steuern müssen, du hast auf das Bremspedal gedrückt und auf die Kupplung, der Lastwagen ist stehengeblieben, du hast in den Leerlauf geschaltet, hast die Handbremse gezogen und den Führersitz dem Lastwagenfahrer überlassen, der es übernommen hat, das Fahrzeug zu wenden.

Du hast dich wieder hinters Steuer gesetzt und bist mit dem Lastwagen auf der Fahrspur im gestampften Sand zurückgefahren. Du hast mehrere Fahrten auf dem Gelände gemacht, du hast dich mit dem Lastwagenfahrer unterhalten, er hat dir von seiner Familie erzählt, er hat Fragen gestellt über deine Familie, du hast den Geruch dieses Mannes in der Kabine seines Arbeitsfahrzeuges gerochen, du hast seine Kleidung angeschaut und die Dinge, mit denen er die Fahrzeugkabine dekoriert hatte, du warst durchdrungen vom Geruch von Motoren- und von Treiböl.

Einer der Lastwagenfahrer hat dir einen Deal angeboten: Ihr würdet darum spielen, dass du dich hinter das Steuer seines Lastwagen setzen könnest. Um eine Runde auf dem Gelände zu fahren, müsstest du das Spiel gewinnen. Ihr habt in der Fahrzeugkabine Karten gespielt. Jeder von euch hat seine Karten auf dem Sitz zwischen euch ausgespielt, er hat beim Steuer gesessen und sich auf die rechte Seite gedreht, du bist ihm gegenüber gesessen, bei der rechten Vordertür des Lastwagens. Er ließ sich beim Kartenspielen nicht kampflos schlagen, du musstest wirklich gewinnen, um zu deiner Fahrt zu kommen. Es war ein bekanntes und auch für Kinder einfaches Kartenspiel, man musste bluffen, um zu gewinnen, du hattest dieses Spiel auf der Straße deiner Großmutter gelernt, du hattest es einige Hundert Male mit deinen Straßenkameraden gespielt. Es gab zweiunddreißig Karten. Jeder von euch hatte zu Beginn vier Karten in der Hand, einer von euch legte eine Karte auf den Spielteppich, der aus einem Wäschestück des Chauffeurs bestand, dann legte der andere eine Karte obendrauf. Man musste dieselbe Karte wie der Gegner haben, oder ihn übertrumpfen, auf diese Weise ging die Runde an einen der Spieler. Dann ging das Spiel weiter, jeder nahm eine neue Karte vom Stapel, die zwischen euch lag.