Die Wolfssymphonie

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Ich werde ihr jetzt die Windeln wechseln. Ich nehme sie hoch und setze sie auf das Bett. Ich gebe ihr einen Plastikwürfel, öffne die drei Knöpfe ihres Bodys, ziehe den unteren Teil des Kleidungsstücks bis zum Bauch hoch, löse die Laschen der Pampers, nehme mit der linken Hand die Füße des Kindes, hebe sie hoch, ziehe die schmutzige Windel hervor und reinige mit mehreren Feuchttüchern die Haut des Kindes, die Schamlippen ihres Geschlechts, von oben nach unten, ihre Hautfalten, ihre Schenkel, ihren Po. Sie dreht und wendet mit ihren Fingern den grünen Plastikwürfel. Ich lasse ihre Füße los, und sie dreht sich im Bett auf die Seite. Ich lasse sie so, nackt, ohne Pampers, ungefähr zehn Minuten liegen. Sie liebt es, die Schiffe auf dem See anzuschauen. Sie winkt ihnen zum Abschied zu, mit der rechten Hand wedelt sie in der Luft zwischen ihr und dem Schiff, das sich vom Ufer entfernt. Mit beiden Händen berührt sie ihren Mund und streckt sie dann aus, seewärts. Sie lächelt und sagt etwas. Sie schaut mich an, sie schaut dich an.

* * *

Du hasst es, das Wort «Seele», und du sezierst es fortwährend und wiegst jedes Stückchen davon auf der Waage eines anderen Wortes ab. Deine Liebe für die Menschen rührt nicht von der Seele her. Die Seelen der Lebenden und die Seelen der Toten bestehen aus sanftmütigen Marionetten. Am außergewöhnlichsten ist, dass du verstanden hast, dass die Marionetten sich gegenseitig zum Tanzen bringen. Jede Marionette lässt andere Marionetten tanzen und so weiter. Es gibt keine Marionette, die nicht wichtig wäre für andere Marionetten. Du hast verstanden, dass auch du eine Marionette bist, und du versuchst nicht, dich vom Zustand einer Marionette zu befreien, was unmöglich ist, sondern du versuchst, diese Tatsache nicht zu nutzen und sie so, durch mangelnden Gebrauch, verkümmern zu lassen. Jedes Mal, wenn sich diese Marionette in dir bemerkbar machen will, enthältst du dich einer Meinung, machst du dich davon, ziehst du dich zurück, greifst du nicht ein, und die Marionette geht in ihrem ungestillten Durst ein. Es sind Stühle an der Wand des Totenzimmers aufgestellt, und mehrere Personen sitzen darauf und reden und nehmen das Wort «Tragödie» in den Mund. Du sagst, dass es Wörter gibt, die es nicht geben dürfte. Du sagst, dass es das Wort «Tragödie» nicht geben dürfte. Auch das Wort «Unfall» nicht. Dir wird bewusst, dass viele Wörter aus dem Bereich der Marionetten stammen, und du sagst, dass es das Wort «Marionette» nicht geben dürfte. Zwischen den Leuten, die sitzen, und dem Tisch, auf dem der Tote liegt, scharen sich einige Personen mit Kerzen und Blumen in der Hand um den Sarg. Einer verscheucht die Fliegen, die sich auf das Gesicht und auf die Hände deines Vaters setzen wollen. Er verscheucht sie mit Handbewegungen seiner rechten Hand, in der er ein Stofftaschentuch hält. Dein Vater ist tot, und seine Augen sind halb offen. Dicht neben seinem Kopf steht der hölzerne Kerzenhalter aus der Kirche. Von Zeit zu Zeit löst der Diakon die Wachsreste der Kerze ab und wirft sie in den Kücheneimer. Das schwarze Gewand des Diakons ist besprenkelt mit gelben und weißen Wachstropfen. Die Leute bekreuzigen sich, mehrere Male. Der Priester tritt ein und stimmt einen Gesang für deinen Vater an, während der Diakon im Zimmer den Duft und den Rauch von verbranntem Harz verbreitet. Alle bekreuzigen sich. Auch du hast dich bekreuzigt, und du denkst an deinen Vater, der nie zur Kirche gegangen war, außer zu seiner Hochzeit und zu Hochzeiten und Begräbnissen anderer. Dein Vater behandelte die Priester so, wie er die Mitglieder der Einheitspartei behandelte. Für deinen Vater waren die Priester und die Mitglieder der Einheitspartei aus demselben Holz geschnitzt. Die Frau deines Vaters war auf mich zugekommen, um mir zu sagen, sie wünsche sich, dass ich mich alleine um das Begräbnis ihres Mannes kümmere. Sie wollte, dass ich meinen toten Sohn in mein Haus nehme und er von uns aus zu Grabe getragen werde. Die Frau deines Vaters wollte nicht für das Begräbnis ihres Mannes aufkommen. Ich habe ihr gesagt, ihr bliebe nichts anderes übrig. Dein Vater und sie hätten als Mann und Frau zusammengelebt, und dein Vater werde von ihr aus ins Jenseits getragen, vom Haus seiner Frau aus. Die Tochter seiner Frau war nicht da. Die Tochter seiner Frau war nicht am Begräbnis deines Vaters. Die Tochter seiner Frau war nicht am Begräbnis ihres Stiefvaters. Du denkst an dieses Mädchen, mit der du ein paar Mal Schach gespielt hast. Allerdings lag ihr mehr an moderner Musik als an Schach. Es war dein Vater, der dir das Schachspielen beigebracht hat. Zuerst hat er dir die aus Holz geschnitzten Figuren und das Brett mit den schwarzen und weißen Feldern gezeigt. Er hat dir zu jeder Schachfigur eine Geschichte erzählt. Es war in einem Park in der kleinen Stadt auf dem Land, wo du mit deiner Großmutter mütterlicherseits lebtest. Er ist dich an einem Wochenende besuchen gekommen und hat dir dein erstes Schachspiel gekauft. Ihr seid in diesen Park am anderen Ufer des Flusses gegangen und habt euch ins Gras gesetzt, das zwischen den Pappeln wuchs. Von der Stelle aus, wo ihr wart, habt ihr die Bäume, die im Hof deines Onkels wuchsen, sehen können. Dein Vater hat die Figuren auf dem Brett hingestellt, und ihr habt angefangen zu spielen. Ihr habt mehrere Partien gespielt. Er hat sie alle gewonnen, und er hat dir erklärt, dass es normal sei für einen Anfänger, dass er nicht gewinne, und er hat dir erklärt, dass der Zeitpunkt kommen werde, in dem du ihn schlagen würdest. Du erinnerst dich an diesen Tag, den ihr zusammen im Park verbrachtet. Während ihr am Spielen wart, hast du dich erleichtern müssen, und er hat dir gesagt, du könnest hinter eine Pappel gehen, er hat dir die Richtung gewiesen, wegen des Windes, der ging, und der euch den Geruch deiner Exkremente hätte herüberwehen können. Dein Vater war stark im Schachspiel. Er spielte um Geld Schach mit den Leuten. Sie schlossen Wetten ab. Dein Vater gewann mit dem Schach Geld und gab mit diesem Geld eine Runde aus. Die Frau deines Vaters muss irgendwo ein Schachspiel in ihrem Haus haben. Du schaust deinen Vater im Sarg an und denkst an seine Frau und an das Schachspiel. Dein Vater hat mit seiner Frau nie Schach gespielt. Sie ist schwarz gekleidet und trägt keinen Schmuck mehr. Die Frau deines Vaters hat nur den Ehering am Ringfinger anbehalten. Sie kümmert sich um das Begräbnis deines Vaters. Sie hat nicht gedacht, dass ihre Ehe auf diese Weise enden könnte. Sie muss wieder von vorn anfangen. Sie setzt ihren Mann in dem Grab bei, das für ihre Großmutter reserviert gewesen war. Ich wollte deinen Vater nicht in dem Friedhof beisetzen, in dem seine Mutter begraben liegt. Es gibt dort nur noch einen Platz. Der gehört mir. Dein Vater wird seine letzte Ruhestätte in einem Grab des Familienzweigs seiner Frau haben. Dein Vater hat ebenfalls nicht gedacht, so früh zu sterben. Ich wundere mich darüber, dass dein Vater die Gefahr nicht gespürt hat. Ich bin erstaunt darüber, dass er das Spiel der Marionette nicht gewittert hat. Normalerweise hat dein Vater die Gefahren gespürt. Er fühlte sie, und er mied sie. Das hatte er von mir, und du hast es von uns. Genaugenommen bist du anders. Denn du spürst auch die Gefahren, die die anderen bedrohen. Wenn du wie ich und dein Vater die Gefahren, die dich umgeben, zu meiden versuchst, vergisst du dabei nicht die Gefahren, die die anderen umgeben. Du dringst in den Kern der Gefahr ein, die jemanden umgibt, und tust alles, um die Fäden, die die Marionette tanzen lassen, zu durchtrennen. Manchmal gelingt es dir. Manchmal kommst du zu spät. Du gibst die Hoffnung nie auf.

* * *

Aus der leeren Konservenbüchse kannst du einen Blumentopf machen. Du brauchst nur ein Loch hineinzumachen, damit der Überschuss an Wasser in den Teller, den du darunter legen wirst, ausfließen kann. Du wirst in den Garten gehen, mit einer kleinen Schaufel in der Hand. Du wirst niederknien und die Erde des Zwiebelbeets ein wenig aufgraben. Du wirst mit der Hand die Erde nehmen, einige Handvoll Erde, die du in einen Plastiksack hineintun wirst. Ich sehe dich: Du leerst die Erde in den Sack, deine Hände kehren zum frisch aufgeschütteten Erdhaufen zurück, senken sich wie eine offene Muschel über den Erdhaufen und graben sich darin ein, dann schließen sie sich wieder, gefüllt mit Blumenerde. Das Kind kann bei dir sein. Sie wird Grashalme im Garten ausreißen. Sie liebt es, Erde in die Hand zu nehmen. Sie sucht Kieselsteine und reibt sie zwischen ihren Fingern. Sie sitzt am Boden, und an ihren Kleidern setzen sich Erdkrümel fest. Von Zeit zu Zeit zeigt sie dir ihre Finger, ihre Hände voller Dreck, und du redest mit ihr, du sagst, «ja!», du sagst, «ja, mein Schatz!» Du wirst deinen mit Erde gefüllten Plastiksack nehmen und zur Terrasse des Hauses zurückkommen, und du wirst die Pflanze in die Konservenbüchse einpflanzen, und das Kind wird neben dir stehen.

Das Kind hat schon ein Boot. Jenes aus rotem und gelbem Plastik, mit dem sie in der Badewanne spielt, wenn man sie badet. Sie sitzt im Wasser und schlägt mit ihren Händen aufs Wasser, das sie umgibt und das ihr bis an die Brust reicht. Sie dreht ihre Hände, als machte sie an Radioknöpfen herum, sie lehnt sich nach vorne, erwischt das Plastikboot, das sich vor ihr beim Wasserhahn befindet, hebt es aus dem Wasser, schaut den Tropfen zu, die in die Badewanne hinuntertropfen, macht mit dem Spielzeug ein paar Bewegungen in der Luft, taucht es bis zum Grund der Badewanne ins Wasser und hält es so einige Sekunden auf dem Emailboden der Badewanne fest. Dieses Plastikboot hat weder Matrosen noch einen Kapitän. Wenn du keine Pflanzen in die Konservenbüchse tun willst, wird das Mädchen eine Flotte von drei Booten haben. Das aus Papier wird Narzisse heißen. Das aus gelbem und rotem Plastik wird Flagge getauft werden. Sie wird sie alle drei ins Wasser setzen können.

* * *

Wegen dir müsste es das Wort «Verzweiflung» nicht geben. Auch dein Vater ist nicht verzweifelt. Er wollte dich in seiner Nähe haben und dachte an die Zukunft. Gott sei mit ihm! Mehrere Arbeiter, die auf der Baustelle deines Vaters arbeiteten, sind gekommen, um Abschied zu nehmen, und sie sind in das Totenzimmer getreten, sind zwischen den Leuten, die auf den Stühlen der Wand entlang saßen und dem Tisch, der den Sarg trug, durchgegangen, haben sich bekreuzigt, haben sich vornüber gebeugt, um die Stirn deines Vaters zu küssen, haben sich erneut bekreuzigt, sind einen Moment lang schweigend stehengeblieben und haben dann den Raum wieder verlassen. Du kanntest die meisten der Arbeiter deines Vaters. Wenn die Arbeiter deines Vaters Fußball spielten, war dein Vater ihr Schiedsrichter. Du warst der einzige Zuschauer des Fußballmatchs, den die Arbeiter deines Vaters austrugen. Dein Vater pfiff das Spiel mit einer Pfeife aus einem Stück Blech und Weißblech. Es war einer der Blechschmiede der Baustelle, der die Pfeife mit dem kleinen Kieselstein darin angefertigt hatte. Die Arbeiter waren je nach Arbeitsteam aufgeteilt. Es gab Matchs zwischen Elektrikern und Betonierern. Es gab Matchs zwischen Maurern und Verwaltungspersonal. Es gab eine Baustellenmeisterschaft, und nach jedem Spiel wurde mit Bier und Wein gefeiert. Sie kauften ganze Kisten Bier, und in jeder Kiste waren vierundzwanzig Flaschen. Jede Flasche enthielt einen halben Liter Bier. Sie kauften zu essen ein. Sie grillten am Rande des improvisierten Fußballfeldes auf dem Gelände der Baustelle. Sie aßen Käse, Salami, Fischkonserven und Schwarzbrot. Die Bauarbeiter liebten das Schwarzbrot aus Kartoffeln. Du hast ihre Matchs geschaut, dann hast du mit ihnen gegessen und sie reden hören. Du hast ihre verschiedenen Gesichter und ihre Sportanzüge angeschaut. Du warst mit deinem Vater bei einigen von ihnen zu Hause. Du kanntest die Familien einiger Arbeiter. Du hast all diese Leute auf der Baustelle arbeiten sehen. Du verbrachtest deine ganze Freizeit beim Fischen oder auf der Baustelle. Wenn du nicht beim Fischen oder auf der Baustelle warst, hast du gelesen. Du hattest mit drei oder vier Bauarbeitern Schwierigkeiten. Sie schikanierten dich. Sie zogen über deinen Vater her oder machten Masturbationsgesten. Du hast ein paar Arbeiter deines Vaters hinter dem Betonmischer oder hinter einem Steinhaufen beim Masturbieren gesehen. Du hast die Angelegenheit mit diesen drei oder vier Arbeitern sofort geregelt. Bevor auch sie zu deinen Freunden wurden, hast du sie bestraft. Du hast ihnen gezeigt, dass du auf eine andere Art und Weise Scherze triebst als sie. Dein Vater hat mir davon erzählt, was du mit ihnen angestellt hast. Du hast beinahe einen umgebracht. Er badete in einem der Wassertanks, die der Abkühlung von gewissen Arbeitsgeräten der sich im Bau befindenden Tabakfabrik dienten. Dieser Tank war ein riesiger Betonzylinder, und um ins Wasser zu gelangen, hatten die Arbeiter eine Art Leiter aus Betoneisen zusammengebastelt, die bis zum Wasser hinunterreichte. Zwischen dem Rand des Tanks und der Wasseroberfläche waren zwei Meter. Während dieser Mann badete, hast du die Leiter entfernt. Du hast ihn dazu gezwungen, bis zur Erschöpfung zu schwimmen, und du hast ihm zu verstehen gegeben, dass du ihn ertrinken lassen könntest. Er hat zu schreien angefangen. Du hast ihn angeschaut und hast gesagt, dass ihn keiner hören könne. Er wusste, dass niemand seine Schreie hören würde. Der Tank befand sich einige Hundert Meter von der Baustelle entfernt. Du warst zwölf Jahre alt. Der Mann im Wasser war fünfzig. Du hast die Leiter wieder angebracht, und er hat sich daran festgeklammert. Du hast gesagt: «Das nächste Mal lasse ich dich ertrinken, wenn du mich nicht in Ruhe lässt!»

 

Er hat Angst gehabt. Er ist zu deinem Vater gegangen und hat ihm gesagt, dass du ihm Angst eingejagt hättest. Dein Vater hat dir Fragen gestellt. Dein Vater wusste, dass einige seiner Arbeiter dich hänselten. Bei einem anderen Arbeiter, der dich hänselte, hast du auf alle seine Werkzeuge Kugellagerschmieröl getan. Er hat Stunden gebraucht, sie wieder zu reinigen. Dieser Mann hatte dich beleidigt. Er machte Anspielungen auf deine Mutter. Er sagte, er wolle, dass du ihm deine Mutter vorstellst, und du hast ihm gesagt, dass du ihm etwas antun könntest, aber er hat es dir nicht geglaubt. Er hat gemerkt, dass du es ernst meinst, als du eine Eisenstange neben ihm hast fallen lassen. Er kam mit einer mit frischem Beton gefüllten Schubkarre vorbei, und du hast diese Stange aus dem zweiten Stockwerk des Baugebäudes fallen lassen. Du hast sie einige Meter von ihm entfernt fallen lassen. Als er gestoppt hat, hat er nach oben geschaut und hat dich gesehen. Du hast gesagt: «Wenn du nicht aufhörst, mich zu schikanieren, werfe ich sie dir auf den Kopf!», und er hat dir nie wieder etwas getan. Später wurde er ein Freund von dir. Er hat dir sein Handwerk beigebracht. Einige Arbeiter deines Vaters erzählten dir von ihrem Handwerk, du hörtest ihnen zu, und sie schätzten es, dass du interessiert und aufmerksam zuhörtest. Irgendwann schikanierte dich niemand mehr. Man akzeptierte dich. Die Arbeiter sprachen über alles in deiner Gegenwart, und du warst über alle ihre Probleme auf dem Laufenden. Du hast deinem Vater nie davon erzählt, was du die anderen reden hörtest. Du hast den Arbeitern deines Vaters Geld gepumpt, und sie haben es dir an ihrem Zahltag zurückgegeben. Du hast Geld von deinem Taschengeld, das dein Vater dir gab, ausgeliehen. Auch dein Vater hat seinen Arbeitern Geld geliehen. Jeden Monat gab es Leute, die anderen Geld pumpten. Am Tag der Beerdigung deines Vaters sind mehrere Arbeiter zur Frau deines Vaters gegangen und haben ihr Geld gegeben, das den Schulden entsprach, die sie bei deinem Vater hatten, der gestorben und in diesem Sarg auf dem Tisch aufgestellt war. Alle sagten «Gott sei mit ihm!» Dein Vater war nicht zufrieden mit seinem Nachtwächter. Jede Nacht wurde Baustellenmaterial gestohlen. Sein Nachtwächter schlief während seines Dienstes. Er schlief in einer kleinen Blechbaracke. Er machte seine Rundgänge nicht. Eines Nachts, gegen ein Uhr morgens, hat dich dein Vater geweckt und hat gesagt, «zieh dich an!», und er hat dich mitgenommen, um die Arbeit des Baustellenwächters zu überprüfen. Ihr seid ganz nahe an die Blechbaracke des Wächters herangegangen, dann seid ihr eingetreten und habt ihn auf einem aus mehreren Matratzen improvisierten Bett schlafen sehen. Dein Vater hat ihm die Mütze vom Kopf genommen, hat die Pistole vom Gürtel gelöst, und ihr seid wieder gegangen, während er noch immer schlief.

Du hast eine Weile mit der entladenen Pistole und der Mütze des Nachtwächters gespielt. Am nächsten Morgen hat ihn dein Vater entlassen. Alle Nachtwächter schliefen während ihres Dienstes, und jede Nacht stahlen Leute aus dem Dorf Blech, Backsteine, Betoneisen, Nägel oder Bretter. Die Baustelle benötigte immer mehr Material als geplant. Dein Vater hat den Mitgliedern der Einheitspartei immer gesagt, dass die Leute des Dorfes das Material, das sie für die Reparatur ihrer Häuser benötigten, auf dem Markt nicht finden können. Dein Vater sagte, dass die Kosten für Baumaterial für Private viel zu hoch seien. Die Regionalführer der Einheitspartei sagten ihm, dass es in diesem Land keine Privatwirtschaft gebe. Dein Vater ist gestorben, und mehrere Mitglieder der Einheitspartei sind gekommen, um ihm zu sagen: «Gott sei mit dir!»

* * *

Ich werde jetzt einen Kaffee machen. Einen für dich und einen für mich. Ich stehe auf, schiebe den Stuhl unter den Tisch, bis die Stuhllehne das blaue Tischtuch berührt, drehe mich zum Wandschrank, in dem die Blechdose mit dem gemahlenen Kaffee steht, öffne die Schranktüren, und mit der rechten Hand nehme ich die Kaffeedose und stelle sie hinter mir auf den Tisch. Ich gehe an dir vorbei, zwischen der Wand und deinem Stuhl, mache drei Schritte bis zur Kaffeemaschine, nehme den Kaffeeportionierer und gehe zum Spülbecken, ich nehme einen Kaffeelöffel und säubere den Portionierer, dann gehe ich zurück zum Tisch, gebe Kaffee in den sauberen Portionierer und bringe ihn an der Kaffeemaschine an. Das Kind wird auf den Knopf der Kaffeemaschine drücken wollen. Sie liebt es, Knöpfe zu drücken. Du bist ihr ein kleines Plastikpiano kaufen gegangen, mit mehreren Tasten, etwa zehn, glaube ich. Sie liebt es, auf die Tasten des Plastikpianos zu drücken. Du hältst sie im Arm, und sie drückt, eine Hand um deinen Hals gelegt, auf den Knopf der Kaffeemaschine. Sie sieht nur, wie ein kleines grünes Licht hinter dem Knopf aufleuchtet. Sie hört den Lärm der Kaffeemaschine und sieht die braune Flüssigkeit, die in die Tasse läuft. Sie wird etwas sagen, ihre eigenen Wörter.

* * *

Das Wort «Gott» dürfte es auch nicht geben. Das Wort «Partei» ist ebenfalls überflüssig unter den Wörtern. Das Wort «Partei» dürfte es nicht geben. Dein Vater hat dir beigebracht, Partei außerhalb jeder Partei zu ergreifen. Er akzeptierte die Einheitspartei nicht, und er akzeptierte auch keine andere Partei. Er ergriff lediglich Partei. Du hast etwas gemeinsam mit ihm. Du ergreifst unaufhörlich Partei und analysierst jede Partei. Du möchtest verstehen, wie diese Parteien funktionieren. Du möchtest verstehen, wie die Einheitspartei vorgeht gegen andere Parteien, die nicht anerkannt sind. Es gibt andere Parteien, aber sie sind nicht legal. Die anderen Parteien sind Überreste der Parteien von vor dem Zweiten Weltkrieg. Es gibt Tausende von Leuten, die nicht der Einheitspartei angehören. Ich bin einer von denen, die unter der Einheitspartei gelitten haben. Du weißt das. Du weißt, dass die Einheitspartei uns zwei Häuser und alles Land, das uns dein Urgroßvater vermacht hatte, genommen hat. Du weißt, dass die Einheitspartei mir untersagt hat, meinen Beruf als Grundschullehrer in der Stadt auszuüben. Du weißt, dass ich mich von deiner Großmutter scheiden lassen musste, damit meine beiden Söhne, dein Vater und dein Onkel, auf die Universität gehen konnten. Du weißt, dass die Einheitspartei alle meine Jagdgewehre konfisziert hat. Du weißt, dass die Einheitspartei uns heute Brot gegen Marken ausgibt, und dass jede Person eine Brotmarke hat, auf dem jeden Tag das Pfund Brot, das man kauft und das man isst, angekreuzt wird. Du weißt, dass wir für das Begräbnis deines Vaters Extramarken beantragen mussten, für das Brot, das die Leute, die zur Beerdigung deines Vaters kamen, essen würden. In dem Haus, in dem ich mit meiner zweiten Frau, deiner Stiefgroßmutter, wohne, hat mich die Einheitspartei dazu gezwungen, drei Zimmer unterzuvermieten. Einmal, vor fünf Jahren, glaube ich, bist du mit deinem Vater zu uns gekommen, und ihr wart dreckig wie Schornsteinfeger. Dein Vater und du, ihr hattet auf einer seiner Baustellen Verstecken gespielt, und ihr seid zu uns gekommen, ohne euch zu waschen, und eure Kleider waren voller Farbe, Teer, Zement und Staub. Ihr habt euch bei uns gewaschen, ihr habt euch zu uns an den Tisch gesetzt, und wir haben auf die Gesundheit aller unserer Familienmitglieder getrunken und zu essen angefangen. Während dieses Essens habe ich deinem Vater meine Probleme mit meinen Untermietern anvertraut. Die Untermieter damals waren allesamt Mitglieder der Einheitspartei. Sie verachteten mich und nannten mich «Volksfeind!» und «Drecksbourgeois!» Ich hatte ihnen mehrfach gesagt, dass ich zwei Weltkriege mitgemacht hätte, und dies als Soldat, aber ich war ihnen nicht wert genug, normal behandelt zu werden. Ich habe beim Bürgermeisteramt eine Beschwerde eingereicht, und die, die auf meine Beschwerde geantwortet haben, meinten, ich solle meine Vergangenheit hinter mir lassen. Das alles habe ich deinem Vater erzählt. Du erinnerst dich daran: Er hat sein Glas auf dem Tisch abgestellt, ist aufgestanden, und du hast ihm folgen wollen. Er hat gesagt «bleib hier!», er ist zur Küche hinausgegangen, und eine halbe Stunde später sind die drei Mitglieder der Einheitspartei, alle drei Beamte eines Textilunternehmens, mit all ihren Möbeln und ihren Sachen auf der Straße gestanden. Sie haben die Polizei gerufen, und dein Vater hat mit den Polizeibeamten der Einheitspartei gesprochen. Er hat ihnen gesagt, dass Respekt etwas Essenzielles sei, und dass diese drei Mitglieder der Einheitspartei sich gegenüber den Leuten und dem Leben respektlos verhalten hätten und dieses Haus verlassen müssten. Dein Vater hat den Polizeibeamten gesagt, dass diese drei Mieter keinen Platz hätten in einem Haus, das sie nicht respektieren würden. Am nächsten Tag mussten dein Vater und ich auf dem Polizeiposten erscheinen, und wir haben uns vor dem Polizeichef des Viertels gerechtfertigt. Einige Tage später haben uns die Vertreter der Einheitspartei neue Mieter geschickt. Seit jener Geschichte habe ich nur noch respektvolle Mieter gehabt. Ich respektiere sie, und sie respektieren mich. Ich will nicht wissen, ob meine Mieter Mitglieder der Einheitspartei sind oder nicht. Dein Vater hat mir in meinen alten Tagen sehr geholfen. Mein Sohn ist für mich zu früh gestorben.

 

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