Die Mineralwasser- & Getränke-Mafia

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Wo bleibt der Aufschrei der Massen? Der Journalisten?

Einen Tag vor Heiligabend 2015 sprach ich das erste Mal mit Yasmine Motarjemi, der Frau, die den Konzern Nestlé verklagt hat. Ich stellte ihr all die Fragen, die mir so sehr unter den Nägeln brannten. „Sie sind wirklich Fachjournalistin?“ fragte Motarjemi. Ich bejahte. „Wissen Sie, Sie sind die erste Wissenschaftsjournalistin, die mir diese Fragen stellt. Kein Fachmann, kein Kollege, keine Behörde hat mir diese Fragen gestellt, nicht einmal Verbraucherschutzorganisationen.“ Ich war sprachlos, und es sollte nicht bei diesem einen Mal bleiben.

Der Fall Motarjemi ist kaum bekannt. Die ehemalige Nestlé-Managerin führt ihren Kampf gegen den Konzern nahezu alleine und praktisch unbemerkt von der Öffentlichkeit. Nur wenige Medien haben darüber berichtet. Das Magazin Spiegel beispielsweise hatte bisher nur einen einzigen kläglichen Artikel für sie übrig – und das auch nur, weil im Dezember 2015 der CEO von Nestlé vor Gericht erscheinen musste. Ja, wenn Manager vor Gericht gezerrt werden, ist das einen Artikel wert. Besonders traurig: Im Artikel wird der Umgang des Konzerns mit Lebensmitteln als „bisweilen schludrig“ bezeichnet. Das ist eine bodenlose Untertreibung und ein Armutszeugnis für ein renommiertes Nachrichtenmagazin. Dabei könnte der Fall brisanter nicht sein. Es geht um gefährlich hohe Vitamingehalte in Säuglingsprodukten, um Babys, die fast erstickt wären, um Tinte in Babynahrung, um Hunde, die an Tierfutter krepierten, um lebensgefährliche Bakterien in Keksteig. Und um einen Hersteller, dem das offenbar ziemlich egal ist. „Good Food. Good Life“ – das ist der Slogan von Nestlé. Vertrauen Sie mir – Ihnen wird gleich übel werden.

Yasmine Motarjemi verfügt über einen Master of Science in Lebensmittelwissenschaft und -technologie sowie über einen Doktortitel in Lebensmitteltechnik. Im Jahr 2000 warb Nestlé Motarjemi von der Weltgesundheitsorganisation ab. Bei der WHO war Motarjemi maßgeblich an der Entwicklung des Präventionssystems HACCP für Lebensmittelsicherheit beteiligt gewesen. Sie sprach für die WHO auf Konferenzen, beriet Regierungen und publizierte wissenschaftliche Artikel sowie Bücher. Die Encyclopedia of Food Safety beispielsweise, das erste Werk seiner Art und mit 2.304 Seiten nicht nur vom Umfang her ein Schwergewicht, wurde von Lebensmittelsicherheitsexperten weltweit gelobt. Motarjemi leitete rund 300 Experten für dieses Mammutprojekt. Ihr internationales Renommee und ihre Position als leitende Wissenschaftlerin machten sie für Nestlé zum perfekten Aushängeschild. Als Global Food Safety Manager war sie bei Nestlé zuständig für die weltweite Lebensmittelsicherheit und als Assistant Vice President weit oben in der Hierarchie des Konzerns angesiedelt. Im Jahr 2010 erhielt sie ihr Kündigungsschreiben. „Die Auffassungen zwischen ihr und ihrem Vorgesetzten über das Management der Lebensmittelsicherheit waren unterschiedlich“, heißt es darin lapidar.

Tatsächlich verbirgt sich dahinter ein jahrelanger und erbitterter Streit um unterlassene Vorsichtmaßnahmen bei Lebensmitteln. Denn kaum hatte Motarjemi bei Nestlé angeheuert, entdeckte sie zahlreiche Lücken in der Lebensmittelsicherheit und eine Managementkultur, die in krassem Widerspruch zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Lebensmittelsicherheit steht. 2001 bekam sie auch schon Wind von einem äußerst heiklen Fall. Es ging um Babynahrungsprodukte. Die Mengen von Vitamin A und D, so Motarjemi, waren viel zu hoch. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt – die Gesundheit von Babys stand auf dem Spiel. Sie reagierte sofort und vehement, doch ihre Warnungen wurden in den Wind geschlagen. Monatelang. Immer und immer wieder. Erst als drei Säuglinge starben, weil in einem Produkt des Lebensmittelherstellers Humana eine zu geringe Konzentration von Vitamin B1 enthalten war, wurde man schließlich auch bei Nestlé nervös. „Solange nichts Schlimmes passiert, bewegt sich Nestlé nicht“, sagt Motarjemi. Im Jahr 2002 kamen ihr zwei Berichte zu Ohren, bei denen Babys an einem Kinderkeks von Nestlé fast erstickt wären. Als sie dem Fall nachging, entdeckte sie, dass dieses Problem bei Nestlé bereits seit mindestens zwei Jahren bekannt war. „Man sagte mir, das seien nur sporadische Fälle und ich solle mir keine Sorgen machen. Aber ich wollte wissen, ob es noch mehr Fälle gab. Schließlich fand ich heraus, dass inzwischen fast 40 Fälle bekannt geworden waren. Und man weiß aus Erfahrung, dass dies immer nur die Spitze eines Eisbergs ist!“ Das Problem, so Motarjemi, hätte umgehend behoben werden können, denn es lag schlicht und ergreifend an der Qualität des verwendeten Mehls. Das Mehl verklumpte sich im Mund und wurde hart, anstatt sich aufzulösen. Es dauerte einen ganzen Monat und erforderte zahlreiche Interventionen von Motarjemi, bis die Produktion endlich umgestellt wurde. 2005 enthielten Säuglingsprodukte, die in China verkauft wurden, zu viel Jod. Nestlé war das Problem bekannt, hielt es aber nicht einmal für nötig, die Anfrage der dortigen Behörden zu beantworten. Die Behörden forderten schließlich eine komplette Rückrufaktion der Produkte, weil der Konzern einfach nicht reagierte. Anfang 2005 gelangten mehrere Tonnen vergiftetes Hundefutter der Nestlé-Tochter Purina in Umlauf. Nahezu 500 Tiere in Venezuela starben an Aflatoxin. Mitte 2005 wurden in Italien Nestlé-Babynahrungsprodukte mit der Tintenchemikalie ITX entdeckt. Nestlé nahm die Produkte nicht sofort vollständig aus den Regalen. Das italienische Gesundheitsministerium ließ das betroffene Lagerhaus schließlich von Polizisten stürmen. 2007 gelangte melaminverseuchtes Weizengluten zur Tierfutterproduktion in die USA. „Nestlé war also vorgewarnt“, sagt Motarjemi, „und wenn so etwas passiert, dann überprüft man alle anderen Produkte, aber das geschah nicht. Ich habe das sofort beanstandet. Aber man teilte mir lediglich mit, dass ich den Mund halten solle, denn man würde die Besitzer der verstorbenen Tiere einfach mit Geld ruhigstellen.“ Es kam, wie es kommen musste: 2008 erwischte es den Konzern erneut. Diesmal waren Säuglingsprodukte in China mit Melamin kontaminiert. „Die Mengen waren zwar nur sehr gering, aber wenn Nestlé seine Produkte überprüft hätte, wäre es gar nicht erst dazu gekommen. Nestlé kann von Glück reden, dass in diesem Fall keine Babys gestorben sind! Allerdings wurden niemals Daten erhoben. Wir wissen also nicht, ob die Melaminmengen zuvor viel höher waren und Babys vielleicht Gesundheitsschäden davongetragen haben …“ Ein Jahr später entdeckte die US-Lebensmittelbehörde FDA gefährliche E-coli-Bakterien in einem rohen Nestlé-Keksteig. Das ist das Bakterium, an dem 2011 in Deutschland 50 Menschen starben. „Und stellen Sie sich vor“, so Motarjemi weiter, „wie Nestlé sich zuvor verhalten hatte, als 2009 bekannt wurde, dass die Peanut Corporation America (PCA), ein Zulieferer der Lebensmittelindustrie, für den Tod von neun Menschen verantwortlich war, weil deren Produkte mit Salmonellen kontaminiert waren. Nestlé hatte diesen Zulieferer abgelehnt, weil man ihn vor Ort überprüft und große Hygienemängel festgestellt hatte. Das ist natürlich gut und richtig. Aber weshalb hat Nestlé das nicht an die Behörden gemeldet? Dadurch hätten diese neun Menschen womöglich gerettet werden können!“ Ich untersuchte den Vorfall. Mir wurde übel. Medien wie die Washington Post hatten Nestlé damals sogar gelobt. Wir leben in einer kranken Welt mit dummen, ignoranten Journalisten.

„Das Problem war“, so Motarjemi, „dass meine Warnungen immer öfter ignoriert wurden. Mein Job war es, auf Lücken und Fehler in der Nahrungsmittelsicherheit hinzuweisen, aber je öfter ich das tat, desto mehr wurde ich ignoriert. Man warf mir sogar vor, ich hätte einen zu theoretischen Ansatz und meine Forderungen seien ‚WHO-Quackquack‘. Ich bitte Sie – wenn Babys fast ersticken oder Hunde sterben, dann kann man doch nicht so tun, als gäbe es überhaupt kein Problem? Meine Empfehlungen wurden nicht auf Managementebene berücksichtigt – stets haben wirtschaftliche Interessen den Ausschlag gegeben.“

Motarjemi sagt, sie habe schließlich versucht, sich bei leitenden Managern im Konzern zu beschweren und auf diese Missstände aufmerksam zu machen. Sie versuchte es beim Betriebsleiter. Beim Personalleiter. Bei vielen anderen Managern. In ihrer Not wandte sie sich schließlich an den Hauptgeschäftsführer. Doch niemand wollte sie anhören. Sie erhielt keine Antwort auf ihre schriftlichen Eingaben. Sie wurde zu Meetings und Konferenzen nicht mehr eingeladen, und wenn, dann fand sie ihren Namen auf der Teilnehmerliste unter den Sekretärinnen wieder. Ihre Arbeit durfte sie nicht präsentieren, wurde in der letzten Stuhlreihe platziert. Nach und nach wurden ihr Mitarbeiter und Kompetenzen entzogen. Zum Schluss war sie im Unternehmen komplett isoliert. Sie konnte ihre Arbeit nicht mehr tun.

„Nestlé behauptet, die Lebensmittelsicherheit im Unternehmen sei perfekt. Das stimmt – aber nur auf dem Papier! Das System wird nicht konsequent in die Praxis umgesetzt“, sagt Motarjemi. „Und die Mitarbeiter, die im Unternehmen dafür verantwortlich sind, wissen das nicht nur – sie akzeptieren es sogar.“ Im Jahr 2005 gab es sogar einen Plan, Prämien an die Anzahl von Rückrufaktionen und von gemeldeten „Vorfällen“ zu knüpfen – je geringer die Anzahl, desto höher falle für den Mitarbeiter der Bonus aus.

Motarjemi sagt, sie hatte bis zum Schluss gehofft, sie würde die Gelegenheit erhalten, ihre Erkenntnisse auf höchster Konzernebene zu präsentieren. Als Antwort erhielt sie schließlich die Kündigung. Das Angebot für eine gut bezahlte Position an anderer Stelle im Konzern hatte sie zuvor abgelehnt, weil die Konzernleitung sich ebenfalls geweigert hatte, ein Audit für ihre Abteilung durchzuführen – der einzige andere Weg, um die riesigen Lücken in der Lebensmittelsicherheit des Konzerns aufzeigen zu können.

 

Als Motarjemi geendet hatte, stammelte ich: „Das ist ja ein riesiger Skandal!!!“ Yasmine Motarjemi war einige Sekunden lang ebenfalls still. „Ja, das ist es“, sagte sie schließlich leise, „und ich bin froh, dass Sie das genauso sehen. Aber Sie sind eine der ganz wenigen, die so denken.“

Ich fragte sie, ob sie sich das erklären könne. „Nein“, antwortete sie, „ich hatte gehofft, Sie könnten mir das erklären. Ich verstehe nicht, warum es keinen Aufschrei gibt. Ich habe alle möglichen Leute angeschrieben, darunter Behörden, Politiker und Parlamentarier. Ich habe auch die New York Times angeschrieben. Ich durfte ihnen meine Unterlagen schicken, aber danach hat die Redaktion nicht mehr geantwortet.“ Ob ihre Kollegen aus der Lebensmittelsicherheit zu ihr hielten, wollte ich wissen. Es sei eine große Stille, antwortete sie mir. Und was sei mit unabhängigen Experten, beispielsweise von der WHO? Kein Ton, erwiderte Motarjemi.

Ich fragte, wie es sein könne, dass bei derart vielen Sicherheitslücken nicht mehr passiert sei? Motarjemi sagt, das sei eine gute Frage, die sich aber leicht erklären lasse. Zum einen müsse nicht jede Lücke automatisch zu einem schlimmen Vorfall führen – das Risiko werde aber erhöht. Zum anderen habe sie, als sie bei Nestlé noch alle Kompetenzen hatte, viel dafür getan, dass Lücken geschlossen werden. Zudem seien es gar nicht so wenige Vorfälle, wie man vielleicht denkt. In ihrer Zeit bei Nestlé gab es mindestens ein oder zwei Vorfälle pro Woche, die so ernst waren, dass sie an die Zentrale gemeldet werden mussten. Und es gab durchschnittlich ein oder zwei wirklich schwere Vorfälle pro Jahr. „Man hört jedoch nicht immer etwas darüber, weil diese Vorfälle sehr diskret behandelt werden“, so Motarjemi, „und Konzerne wie Nestlé haben großen Einfluss darauf, was die Medien berichten. Außerdem sind Behörden sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, gegen Konzerne vorzugehen. Und die, die das doch tun – zum Beispiel beim Bleiskandal in Indien –, riskieren empfindliche Vergeltungsmaßnahmen. Oder wie erklären Sie sich sonst, dass es in Entwicklungs- und Schwellenländern nicht mehr Produktrückrufe gibt? Die meisten Rückrufaktionen gibt es in den USA, und die USA haben das ausgefeilteste Lebensmittelkontrollsystem der Welt! Ein Mangel an Vorfällen ist also kein Beweis dafür, dass es keine Vorfälle gab.“

Ich fragte Motarjemi, ob sie noch einmal für einen Lebensmittelhersteller arbeiten würde. „Zum jetzigen Zeitpunkt nicht“, antwortete sie. Sie habe übrigens auch kein Angebot erhalten. Und bis jetzt sei kein einziger Lebensmittelhersteller auf sie zugekommen, um Fragen zu stellen, zum Beispiel darüber, welche Fehler in der Lebensmittelsicherheit gemacht werden.

Wir können also getrost davon ausgehen, dass die Hersteller diese Thematik überhaupt nicht interessiert. Vermutlich deshalb, weil sie genauso unverantwortlich mit ihren Produkten umgehen und auch gar nichts daran ändern wollen.

Ich wollte wissen, ob sie keine andere Möglichkeit gesehen habe, die Praktiken von Nestlé an die Öffentlichkeit zu bringen – gab es wirklich nur die Klage wegen Mobbing? Sie habe natürlich sehr lange überlegt, sei aber zu dem Schluss gekommen, dass es nichts gebracht hätte. Der Fall Snowden liege zum Beispiel komplett anders – hier seien ganz klar Regeln verletzt worden, und dies sei nachweisbar. Sie hingegen könne beispielsweise keine toten Babys präsentieren, und solange niemand stirbt, sagt sie, hört niemand zu. Wenn die Besitzer von verstorbenen Haustieren mit Geld ruhiggestellt werden, fallen auch diese Zeugen weg. Sie habe verschiedene Behörden angeschrieben und versucht, sie auf die Schwächen bei der Lebensmittelsicherheit bei Nestlé hinzuweisen. Sie habe keine Antwort erhalten. In der Schweiz gäbe es auch kein Gesetz, das „Whistleblower“ schützt. Letztlich habe sie sich entschlossen, Nestlé wegen Mobbing zu verklagen.

Ich wollte wissen, ob sie bespitzelt werde. „Ich gehe davon aus“, antwortet Motarjemi. „Als ich bei Nestlé arbeitete, wurde ich bereits von unserer Abteilungssekretärin ausspioniert. Und wenn man bedenkt, dass Nestlé nachweislich Mitarbeiter von Attac hat ausspionieren lassen, dann wäre es ein Wunder, wenn man das bei mir nicht täte.“

Yasmine Motarjemi wurde in den Medien hin und wieder als gebrochene, schwache Frau beschrieben. Ich hingegen habe eine sehr willensstarke, hochintelligente, äußerst kluge und fest entschlossene Frau kennengelernt. „Wenn ich nicht all diese Jahre und all das Geld in diesen Prozess investiert hätte, wüssten die Menschen heute überhaupt nichts darüber“, sagt sie. Diese Frau verdient den allerhöchsten Respekt. Doch vor allem verdient sie, endlich gehört und wahrgenommen zu werden, damit Praktiken wie die bei Nestlé ein und für allemal der Vergangenheit angehören.

Yasmine Motarjemi hat Nestlé wegen Mobbing verklagt, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Sie will, dass endlich an die Öffentlichkeit kommt, wie unverantwortlich dieser Weltkonzern mit der Gesundheit seiner Kunden umgeht. „Indem das Management mich gemobbt hat, ließ man zu, dass die Lebensmittelsicherheit kompromittiert wurde – warum sonst sollte man seinen eigenen Food Safety Manager entmachten? Die Anhörungen vor Gericht haben auch gezeigt, dass die Nestlé Manager lügen. Das ist respektlos und zeigt, dass diese Leute nicht glaubwürdig sind.“

Der Prozess findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, Zugang haben nur akkreditierte Journalisten – das hatten die Anwälte von Nestlé durchsetzen können. Das Verfahren wird wohl noch mindestens bis in den Frühsommer 2016 dauern.

Inzwischen hat Nestlé auch Yasmine Motarjemi verklagt. Und zwar wegen Verletzung der Geheimhaltungspflicht. Motarjemi sagt, sie habe sich keinerlei Informationen unrechtmäßig beschafft, sie habe keinerlei technologische oder Produktinformationen preisgegeben. Alle von ihr enthüllten Informationen hätten einen direkten Bezug zu ihrer unterschiedlichen Auffassung über Lebensmittelsicherheit im Unternehmen und seien auch dem Gericht übergeben worden. „Weshalb sollten Verbraucher über Themen, die mit Produktsicherheit und Gesundheit zu tun haben, nicht informiert werden?“

Ob sie etwas darüber wisse, wie Nestlé die Ausbeutung des Wassers weiter forcieren will, fragte ich. Ja, antwortete sie. Im Jahr 2007 oder 2008, sie könne sich nicht mehr genau daran erinnern, habe sie gehört, dass der CEO von Nestlé Waters, John Harris, in einem Meeting seine Strategie vorgestellt hatte, wie man den Abverkauf von Flaschenwasser erhöhen könne. Er habe vor, in der Öffentlichkeit verbreiten zu lassen, dass das Leitungswasser kontaminiert sei. Dann würden die Menschen aus Angst vor einer Vergiftung zu Flaschenwasser greifen.

Arglistige Täuschung oder listige Werbung?

Von verführerischen Fantasienamen über köstlich-appetitliche Abbildungen und clevere Werbeaussagen bis hin zu unverständlichen, fehlenden oder falschen Angaben auf dem Etikett – was uns Verbrauchern manchmal an Irreführung aufgetischt wird, ist mitunter so dreist, dass man sich vor Verwunderung die Augen reibt. Die Hersteller versuchen oft, dies mit der Begründung abzutun, der Verbraucher wisse doch ganz genau, was damit gemeint sei. Zuletzt zeigte Teekanne ganz offen, was sie von uns, den Verbrauchern, hält: nicht viel.

Verbraucher erwarten keine Ehrlichkeit

Im Dezember 2015 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) per Gerichtsbeschluss bekräftigt, was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte: Was auf der Verpackung abgebildet ist, muss auch drin sein. Die Firma Teekanne hatte dazu eine völlig andere Meinung, denn auf ihrem Kinder-Früchtetee „Himbeer-Vanille-Abenteuer“ war ein Häschen abgebildet, das zwischen Vanilleblüten und Himbeeren herumhüpft. Das Problem war nur, dass im Tee weder Vanilleschoten noch Himbeeren enthalten waren, noch nicht einmal deren Aromen, sondern künstliche Konstrukte, die den Geschmack lediglich nachahmen. Das Unternehmen, das den Tee mittlerweile aus dem Sortiment genommen hatte, versteht die ganze Aufregung nicht:

„Der Durchschnittsverbraucher wird mit der Abbildung von stilisierten Himbeeren und Vanilleblüten auf dem Produkt […] nicht ein Produkt mit Himbeeren und Vanille erwarten.“

Nein, natürlich nicht. Der Durchschnittsverbraucher ist auch mit Gänseblümchen zufrieden, wenn auf dem Tee Kamillenblüten abgebildet sind. Und wenn auf der Verpackung Haferflocken zu sehen sind, erwartet der Durchschnittsverbraucher auch keine Haferflocken, sondern schüttet sich mit demselben Appetit auch Holzspäne ins Müsli.

Repräsentative Studien zeigen natürlich etwas ganz anderes: Abbildungen auf Verpackungen – vor allem auf Lebensmittelverpackungen – bestimmen sehr wohl, was Kunden kaufen oder nicht. Und genau mit diesem Wissen spielen die Hersteller. Teekanne argumentierte jedoch noch weiter und betonte, die Angaben auf der Packung würden den Leitsätzen der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission für Tee entsprechen. Ich argumentiere damit, dass diese Leitsätze demnach dringend überarbeitet werden müssen …

Edelwasser aus dem Wasserhahn

Im Jahr 2004 musste Coca-Cola mit einem höchst peinlichen Geständnis an die Öffentlichkeit gehen. Das Mineralwasser Dasani, das pro halbem Liter für 95 Pence (damals etwa 1,43 Euro) verkauft wurde, war einfaches Leitungswasser aus einem Londoner Vorort. Doch es kam noch besser: Der Konzern versuchte, den Flaschenpreis mit einer „Veredelung“ zu begründen – das Wasser habe nämlich einen „ausgeklügelten Reinigungsprozess“ durchlaufen. Die örtlichen Wasserwerke quittierten dies mit feinem englischen Humor: „Wir denken nicht, dass es irgendwelche Unreinheiten im Leitungswasser gibt. Dass unser Wasser sauber ist, ist auch die Meinung der amtlichen Prüfer, die etwa drei Millionen Stichproben pro Jahr machen.“

Täuschung auf Kosten von Kindern

Es ist nicht nur besonders dreist, sondern auch völlig unverantwortlich: Irreführung auf Kosten von Kindern. Sie sind eindeutig das schwächste Glied in der Kette. Vielen Herstellern ist das egal.

Die Firma Zott bewarb ihren Monte Drink als „ausgewogene Zwischenmahlzeit“ und „idealen Pausensnack“, doch das Produkt ist alles andere als ausgewogen oder gesund. Sage und schreibe acht Stück Würfelzucker stecken in dem kleinen Fläschchen – mehr als in einem Cola-Getränk. Für diese Frechheit in Form einer Zuckerbombe erhielt Zott im Jahr 2010 die Auszeichnung „Goldener Windbeutel“, die jährlich von foodwatch vergeben wird.

Auch die SiSi-Werke erhielten diese Auszeichnung: für ihr Traditionsgetränk Capri-Sonne, das als „sportliches Getränk“ und mit „gesunden Früchten“ beworben wurde und ein guter Durstlöscher für Kinder sei. Die Verbraucher urteilten zu Recht, dass lediglich 12 Prozent Saft, der mit Wasser, einer Ladung Zucker (die auf der Verpackung verschwiegen wurde) und künstlichen Aromen aufgepeppt wurde, nicht gesund, sondern ungesund sind.

2014 wurde Nestlé von foodwatch abgewatscht, und zwar für ihre Alete Trinkmahlzeiten, die sehr kalorienreich sind, aber wie ein gesundheitsförderndes Produkt vermarktet wurden. Ärzte warnen seit langem davor, Babys hochkalorische Trinkmahlzeiten zu geben, weil sie Karies und Überfütterung fördern – Eltern können solche Produkte mit Getränken verwechseln. Auch die Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) bewertet solche Trinkmahlzeiten als unverantwortlich, weil sie die Kindergesundheit gefährden. Nestlé änderte den Namen in Alete Mahlzeit zum Trinken, machte den Hinweis auf Karies besser sichtbar und ergänzte die Verpackung um „ersetzt einen Milch-Getreidebrei zum Löffeln“. Damit wüssten die Eltern nun ganz genau, dass es sich nicht um ein Getränk, sondern um eine vollwertige Mahlzeit handle. Ja, man verweist einfach auf die Verpackungsaufschrift, statt das Lebensmittel gesünder zu machen.

Selbstverpflichtung funktioniert nicht

Zahlreiche Lebensmittelunternehmen hatten 2007 im Rahmen einer Initiative der Europäischen Union in einer Selbstverpflichtung zugesichert, bestimmte Regeln einzuhalten, wenn sie Produkte für Kinder bewerben. So sollten beispielsweise nur noch Lebensmittel, die besondere Anforderungen an die Nährwerte erfüllen, an Kinder unter zwölf Jahren beworben werden. Die Verbraucherorganisation foodwatch prüfte, ob diese Selbstverpflichtungserklärung tatsächlich bewirkt hatte, dass nur noch ausgewogene Lebensmittel an Kinder vermarktet werden. Dazu wurde das Marketing der Unterzeichnerfirmen untersucht, darunter Kellogg’s, Ferrero, Danone, Nestlé und Coca-Cola. Das Ergebnis: Von insgesamt 281 Produkten im Test erfüllten lediglich 29 die WHO-Kriterien. 90 Prozent (252) der Lebensmittel sollten nach Meinung von Gesundheitsexperten nicht an Kinder vermarktet werden.

 

Kellogg’s rückt Zucker ins rechte Licht

Kellogg’s will uns weismachen, dass eine Portion Frosties mit Milch weniger Zucker enthält als ein Apfel.3 Das konnte ich nicht glauben. Ich rechnete deshalb einmal nach: Kellogg’s behauptet, ein Apfel enthalte über 13 Gramm Zucker. Das mag sein, ist dann aber mit rund 140 Gramm schon ein überdurchschnittlich großer Apfel (das BVL setzt für einen durchschnittlichen Apfel lediglich 112 Gramm an). 100 Gramm Frosties enthalten laut Hersteller 37 Gramm Zucker. Kellogg’s vergleicht aber nicht Gewicht, sondern „Portionen“. Eine Portion Cerealien, so Kellogg’s, wiege 30 Gramm, also entspräche dies 11,1 Gramm Zucker (wobei ich sagen muss, dass ich von 30 Gramm Frosties zum Frühstück nie satt werden würde). Fehlt noch die Milch. Wieviel Milch in der Portion von Kellogg’s mit 30 Gramm Frosties ist, weiß ich nicht und erhielt auch keine Antwort darauf, aber nehmen wir einmal 50 Milliliter Vollmilch, das wären dann noch einmal mindestens 2 Gramm Zucker. So ergibt sich für eine Frosties-Portion ein Gesamtzuckergehalt von über 13 Gramm – also mindestens ebenso viel wie der Apfel! Wir fragten beim Unternehmen nach. Die Antwort war Gold wert. Obwohl Kellogg’s auf der Website eindeutig von Frosties spricht (die relativ viel Zucker enthalten), argumentierte man in der Antwort damit, dass beispielsweise eine Portion Corn Flakes nur 2,4 Gramm Zucker enthielte. Von Corn Flakes ist auf der Website allerdings überhaupt nicht die Rede.

Bezeichnend ist auch diese völlig nichtssagende und meiner Ansicht nach unhaltbare Aussage: „Zucker […] regt besonders in Kombination mit Obst und Milchprodukten zum Verzehr von Ballaststoffen, Vitaminen und Mineralstoffen an.“

Kellogg’s rückt Zucker nicht ins rechte Licht, sondern führt die Verbraucher hinter selbiges!

Wunderbare Wandlung

Im August 2009 war eines der bekanntesten Mineralwässer in Bayern – Adelholzener Alpenquell Classic – bei Ökotest mit „mangelhaft“ durchgefallen. Der Grund: Es wurden die als krebserregend eingestuften Schwermetalle Uran und Arsen nachgewiesen. Das Image des Unternehmens litt stark, viele verunsicherte Verbraucher stiegen auf andere Marken um – eine Katastrophe für den Betrieb, der zur Kongregation der Barmherzigen Schwestern gehört.

Doch einige Zeit später begann das Unternehmen, dasselbe Mineralwasser mit der Auszeichnung „sehr gut“ zu bewerben, und das völlig legal. Was war passiert? Nun, die Schwestern sind offenbar nicht auf den Kopf gefallen, oder, wie man in Bayern sagen würde, nicht auf der Brennsuppe dahergeschwommen. Das Wasser war deshalb durchgefallen, weil es gleichzeitig mit der Werbeaussage „Geeignet für die Zubereitung von Babykost“ versehen war. Mineralwasser ist den gesetzlichen Vorschriften zufolge für Säuglinge nur dann geeignet, wenn bestimmte Grenzwerte eingehalten werden. Ökotest bewertet jedoch strenger und vergibt gute Noten nur dann, wenn solche Werte deutlich unterschritten werden. Diese Werte hatte das Wasser nicht erreicht und erhielt deshalb ein „mangelhaft“. Die Werte für Erwachsene wurden jedoch problemlos unterschritten, auch nach den strengen Kriterien von Ökotest, und nachdem das Unternehmen den Zusatz „säuglingstauglich“ entfernt hatte, durfte es das Wasser mit der Ökotest-Auszeichnung „sehr gut“ bewerben.

Man muss es den Schwestern (beziehungsweise ihren Werbeagenturen) lassen: Sie sind kreativ, wenn’s um Werbung geht. So bewarb das Unternehmen sein Produkt Active O2 als „Powerstoff mit Sauerstoff“ und „mit der 15-fachen Menge an Sauerstoff“ und suggerierte eine positive Wirkung auf den Stoffwechsel sowie eine erhöhte sportliche Leistungsfähigkeit. Es gibt keine, ich wiederhole keine Beweise dafür, dass sich mit Sauerstoff angereicherte Getränke auf die Leistungsfähigkeit auswirken. Auf Ihre Geldbörse wirken sich solche Mogelpackungen natürlich aus, und zwar spürbar. Auf der Internetseite hieß es damals: „Ohne Sauerstoff können wir nur wenige Minuten überleben.“ Eine derartige Glanzleistung wissenschaftlicher Erkenntnis und mentaler Leistungskraft müsste man eigentlich auszeichnen!

Volle Pulle daneben

Immer mehr Menschen ernähren sich vegetarisch oder vegan, und für all diese Menschen ist es besonders wichtig, dass Inhaltsstoffe so präzise wie möglich angegeben werden. Ich kam jedoch heftig ins Grübeln, als ich die Werbeaussage der Berliner Firma Spreequell auf deren Internetseite mit der Überschrift „Volle Pulle Leben“ las: „Unser Mineralwasser ist natürlich auch vegan.“ Haben wir all die Jahre etwas übersehen? Hat uns jemand wieder etwas verschwiegen? Wird Mineralwasser vielleicht in Tankwagen transportiert, in denen zuvor Schweineblut geliefert wurde? Oder spuckt schon mal ein Ziegenbock hinein? Baden Wildschweine darin oder pinkeln da nachts Frösche rein? Nichts von alledem (so hoffen wir zumindest) ist der Fall. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich diese Produkte als Mineralwässer mit Fruchtsaftanteil. Häufig wird Fruchtsaft mit Hilfe von Schweinegelatine „geklärt“, und auf diese Schweinegelatine hat Spreequell verzichtet. So weit, so gut. Doch die Aussage „Unser Mineralwasser ist natürlich auch vegan“ bereitet mir immer noch Kopfzerbrechen …

Doch die Berliner sind nicht die einzigen, die – nein, ich sage nichts weiter dazu …

Oregon Rain Natural Virgin Water sagt: „100 Prozent Regenwasser. Über dem Pazifischen Ozean, wo frische, kalte Luft vom Nordpol auf warme Luft vom Äquator trifft, entstehen Wolken voller natürlich sauberer, purer Wassertropfen. Diese Wolken gleiten über den Ozean, wobei sie bewohnte Regionen vermeiden, und kommen schließlich über dem Tal von Willamette an. Und dort, auf einer ganz besonderen Farm, fängt Oregon Rain das Wasser auf, schickt es durch einen Mikronenfilter und ozoniert es in der Flasche. Das Ergebnis ist wahrhaftig der Himmel im Wasserglas.“

Ich sage: So einen Blödsinn habe ich schon lange nicht mehr gehört.

Gerolsteiner sagt: „Durch seinen einzigartigen Ursprung ist Gerolsteiner von Natur aus vollkommen rein, ausgewogen mineralisiert und zu hundert Prozent natürlich. Gefiltert durch die verschiedenen Gesteinsschichten der Vulkaneifel sammelt es sich bis zu 200 Meter tief unter der Erde. Hier bleibt das Wasser vor Verunreinigungen und Umwelteinflüssen geschützt.“

Ich sage: Ein Orangensaft aus 100 Prozent Orangen ist zwar ein natürliches Produkt, aber deswegen noch lange nicht frei von Rückständen wie Pestiziden oder anderen Kontaminanten. Beim Mineralwasser ist es genauso: Ein natürliches Mineralwasser entstammt der Natur – inklusive aller enthaltener Rückstände.

Auf unsere Anfrage antwortete Gerolsteiner: „Erst seit 2006/2007 ist eine neuartige, hoch empfindliche Analysemethode (LC-MS/MS) verfügbar, mit der in sehr niedrigen Spurenbereichen Stoffe nachgewiesen werden können, deren Nachweis bis dahin außerordentlich schwierig war. Zu diesen Stoffen gehören sog. nicht-relevante Metaboliten, das sind Abbauprodukte von Pflanzenschutzmitteln. Sie haben selbst keinerlei Wirkung mehr und sind für den Menschen und die Umwelt völlig unschädlich.“

Wir haben Gerolsteiner daraufhin auf die Studie von Andreas Kortenkamp von der School of Pharmacy der University of London (siehe Kapitel „Extrem gefährlicher Cocktail“) aufmerksam gemacht, in der nachgewiesen werde konnte, dass es auch dann zu Gesundheitsrisiken kommen kann, wenn mehrere Chemikalien in derart niedrigen Dosen vorhanden sind, dass die einzelne Substanz für sich genommen keinerlei Wirkung hat, und baten um Stellungnahme. Man werde unser Schreiben „mal an die Fachabteilung weiterleiten“ und sich wieder melden. Wir mussten dann noch einmal nachhaken, bevor dann – umgehend! – die Antwort kam: Man verwies uns lapidar auf die Mineralwasser- und Tafelwasserverordnung. Wir haben uns daraufhin beschwert, dass die Frage nicht beantwortet wurde. Gerolsteiner entgegnete, man habe offensichtlich aus unseren Informationen nicht die richtige Frage herausfiltern können, und bat uns, die Frage als Frage formuliert zukommen zu lassen. Grundgütiger! Wir haben unser Ansinnen dann – grammatisch korrekt mit Fragezeichen – noch einmal formuliert. Denn wenn der Verbraucherservice von Gerolsteiner glaubt, uns mit Hinhaltetaktik mürbe machen zu können, ist er schief gewickelt. Nach einem weiteren Erinnerungsschreiben kam dann endlich die Reaktion von Gerolsteiner: Man könne die Studie leider nicht beurteilen, denn man verfüge nicht über die notwendigen Fachkenntnisse. Mit „nicht-relevanten Metaboliten“ und „neuartigen Analysemethoden“ kennt man sich also aus, aber eine Studie kann man nicht beurteilen? Liegt’s vielleicht daran, dass man sie nicht beurteilen will?