Das Böse ruht nie

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Das Böse ruht nie
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Inhalt

1  Cover

2  Titelei

3  Zitat

4  Prolog

5  Graal-Müritz im August

6  Rostocker Heide – Rövershagen

7  Graal-Müritz, Strand

8  Rostock, Polizeirevier am Hafen

9  Rostock, Kriminalkommissariat

10  Rostocker Heide

11  Rostock, Polizeirevier – Am Hafen

12  Rostocker Heide

13  Gelbensande

14  Rostocker Heide

15  Rostock, Kriminalkommissariat und Gerichtsmedizin

16  Rostock, Kriminalkommissariat

17  Rostocker Heide

18  Das Café im Wald

19  Rostocker Innenstadt

20  Rostock, Kriminalkommissariat

21  Rostock, Rechtsmedizin

22  Rostock, Kriminalkommissariat

23  Graal-Müritz, Strand

24  Graal-Müritz, Seebrücke

25  Rostock, Kriminalkommissariat

26  Rostock, Kriminalkommissariat

27  Rostock, Sportcenter am Schwanenteich

28  Graal-Müritz, Strandbar

29  Torfbrücke, Campingplatz

30  Rostock, Kriminalkommissariat

31  Graal-Müritz, Zaunkönigweg

32  Graal-Müritz, Koppenheide

33  B 105

34  Rostock, Sportcenter am Schwanenteich

35  Graal-Müritz, Seebrücke

36  Rostock, bei Grönfingers

37  Rostock, Kriminalkommissariat

38  In der Nacht …

39  Gelbensande, Jagdschloss

40  Der Morgen danach …

41  Uni Rostock, Schillingstr.

42  Rostock, Kriminalkommissariat

43  Eine traumatische Begegnung

44  Graal-Müritz, Seebrücke

45  Uni Rostock, Schillingstr.

46  Rostock, Kriminalkommissariat

47  Uni Rostock, Schillingstraße

48  Rostock, Kriminalkommissariat

49  Lisas Abschied

50  Epilog

Marion Petznick

Das Böse ruht nie

Ein Ostsee-Krimi


Ostsee Krimi

Petznick, Marion: Das Böse ruht nie. Ein Ostsee-Krimi. Hamburg, edition krimi 2020

1. Auflage 2020

ISBN: 978-3-946734-35-2

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

ePub-eBook: 978-3-946734-36-9

Satz: 3w+p GmbH, Rimpar

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, edition krimi

Umschlagmotiv: www.pixabay.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die edition krimi ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg und Mitglied der Verlags-WG:

https://www.verlags-wg.de

© edition krimi, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.edition-krimi.de

„Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen“

William Faulkner

Prolog

Sein Haus grenzte an die Rostocker Heide und lag nahe an der Ostseeküste. Soweit die Augen sahen, streckten sich mächtige Laub- und Nadelbäume in die Höhe. Dagegen wirkten die mit Schilfrohr gedeckten Häuser winzig, wie auf eine Perlenschnur gefädelt. Seines fügte sich bescheiden in die Reihe der anderen Häuser ein, ohne Blumen vor der Tür oder anderem Schnickschnack. Obwohl er die bröckelnde Hausfassade erneuern ließ, war das einzige Auffällige das Unauffällige geblieben und das harmlose Grau des neuen Anstriches hatte nichts daran geändert. Friedlich steht das Haus da und wirkt verlassen und nicht nur, weil der äußere Glanz fehlt. Längst ist die Patina, die nur den mit Leben gefüllten Häusern eigen ist, verloren.

Niemand ahnte, selbst bei näherer Betrachtung nicht, was sich an diesem Ort einst zugetragen hatte. Doch nicht nur das Haus hatte sich von einer auf die andere Minute geändert. Alles was dem Jungen wichtig war, wurde komplett auf den Kopf gestellt. Ohne Ankündigung überschlugen sich die Ereignisse in seiner Familie.

Inzwischen längst im Erwachsenenalter, schien wenigstens seine kräftige Statur von Vorteil zu sein. Wie ein Schutzschild schirmte sein riesiger Körper ihn vor lauernden Blicken der Nachbarn ab. Die fragten ihn ohnehin nicht, wie es ihm in all den Jahren erging. Die meisten Leute hatten sich zurückgezogen, obgleich ihre Neugier ständig präsent blieb. Gern hätten sie gewusst, was tatsächlich am Rande des Waldes mit den Eltern geschah, damals als der Junge allein zurückblieb.

Seitdem waren einige Jahre vergangen und sie wären für den Jungen besser zu ertragen gewesen, wenn sein Körper nicht so oft von Anspannungen und Ängsten heimgesucht wurde. Ständig plagten ihn Zweifel, in deren Stunden sich sein Plan nicht umsetzen ließ. Manchmal erschien ihm selbst alles sinnlos. Immer dann, wenn sein Körper von einem zittrigen Beben gepackt wurde. Das Schlimmste an diesem Zustand war, dass er überhaupt nichts dagegen tun konnte. Ganz im Gegenteil, er wurde immer unsicherer und fiel in ein noch tieferes Loch. Jedes Mal wurde es schwieriger und es gelang ihm nur mit allergrößter Mühe aus dieser Finsternis herauszukommen. War er erst aus dem Gleichgewicht gebracht, setzte ungewollt diese altbekannte Nervosität ein. Ein erbärmlicher Zustand, den er aus seinen letzten Kindertagen kannte. Ob er wollte oder nicht, durch diese Qualen wurde er viel zu früh erwachsen.

Inzwischen hatte er gelernt, seine innere Zerrissenheit zu kaschieren. Nur wer näher mit ihm zu tun hatte, merkte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Wer ihn oberflächlich betrachtete, erkannte zwar das nervöse Zucken in den Augen, hielt das aber eher für eine Marotte oder einen Schönheitsfehler. Begann die Unruhe, mied er den direkten Blickkontakt. Generell aber hielt er dem festen Blick unbekannter Personen schlecht stand. Mit den Jahren unterließ er es deshalb, konsequent über seine seelischen Wunden zu sprechen. Manchmal sagte eine Stimme in seinem Kopf: „Vertrau dich jemandem an, das ist besser für dich, die Last der Erinnerung ist allein schwer zu ertragen.“

 

„Nein, das, was dir passierte, kann niemand wirklich verstehen“, gab bald darauf eine andere Stimme ihm die Antwort.

Je mehr Jahre vergingen, desto stärker wurden die Zweifel, sich überhaupt helfen zu lassen. Wer sollte das schon können? Ihn verstehen?

Als Ergebnis seiner Zwiegespräche blieben meist jede Menge Fragen zurück.

Längst hatte er die Hoffnung, so etwas wie Gelassenheit in sein Seelenleben zu bringen, begraben. Zwar wurden seine Selbstgespräche seltener, aber waren sie erst mal da, packten sie ihn mit voller Wucht. Er schien in ihnen gefangen zu sein. An manchen Tagen litt er wie ein Hund, rein gar nichts schien ihm dann zu gelingen. In diesen Momenten empfand er seine Lage ausweglos und igelte sich total ein. An anderen Tagen fühlte sich sein Herz schwer und weich zugleich an. Es gab Tage, an denen er glaubte, den Dreh für sich herausgefunden zu haben, um wenigstens etwas gelassener leben zu können. Das lag am routinierten Ablauf seiner Arbeit und den planbaren Zeiten seines Studiums. Beides sorgte für eine Balance im Alltag, die ihm gut tat. Manchmal keimte sogar ein winziger Hoffnungsschimmer auf, sein Leben könnte doch noch einen normalen Verlauf nehmen. Er hatte inzwischen gelernt, allein, ohne den Vater, dem Lehrmeister von einst, weiterzumachen. Job und Studium schienen ohnehin nur diesem einen Ziel untergeordnet zu sein, er musste das Angefangene zu Ende bringen. Ein winziges Zeichen seines Vaters würde jedoch helfen, den Sinn seines Tuns lebendig zu halten.

Seit er verlassen wurde, lebte er allein, ja fast isoliert. Er kannte es nicht anders von seinen Eltern, also hielt er es so wie sie. Zu niemanden hatten sie Kontakt, nicht mal zu den Nachbarn. Aber genauso wenig nahmen diese jetzt Notiz von dem Jungen. Er wollte unter keinen Umständen auffallen und setzte deshalb in der Wahl seiner Kleidung darauf, möglichst salopp zu erscheinen. Damit hob er sich kaum von den anderen seines Alters ab. Mit seinem sportlichen Look entsprach er dem allgemeinen Bild junger Leute auf der Straße. Aber da gab es noch die andere Seite von ihm: In regelmäßigen Abständen wiederholte er ein Ritual. Dieses Ritual ließ ihn Höhen und Tiefen gleichermaßen durchleben. Es gehörte wie Essen und Trinken zu ihm. Die Kerze am Fenster als Signal des Wartens. Warten auf ihn, seinen Vater!

Vor etwa zehn Jahren fing alles an. Sein Vater verschwand einfach so nach dem Frühstück. Knapp ein Jahr später, kam auch seine Mutter nicht von der Arbeit zurück. Anders als bei dem Vater deutete ein kurzer Brief von ihr an, dass sie fortgegangen war, um nach etwas zu suchen. Aber nach was? Wonach wollte sie suchen, allein und ohne ihn? Das verstand er als Jugendlicher nicht und suchte auch nach keiner möglichen Erklärung. Er war gerade vierzehn Jahre alt geworden. In ihrem Brief bat die Mutter den Jungen, ihr zu verzeihen. Aber verzeihen, nein, das konnte er nie.

Das Verschwinden der Mutter schien für alle Behörden eindeutig zu sein. Ähnliche Familientragödien kamen hin und wieder vor. Die Frau verließ ihr Kind, um irgendwo ein anderes, neues Leben zu beginnen. Ohne Mutter zu leben, so entschied ein Amt, sei er zu jung. Der Bruder des Vaters und eine weitläufige Tante kamen in unregelmäßigen Abständen, um ihn bei wichtigen Angelegenheiten im Haus zu unterstützen. Schnell bekamen die beiden mit, dass der Junge ihre Hilfe missbilligte und die ohnehin kurzen Besuche wurden seltener, bis sie ganz wegblieben. Der Junge igelte sich fortan ein und lebte ungestört, ohne Bevormundung der Verwandten, sein Leben weiter. Irgendwie wurde er erwachsen.

Einfachheitshalber bewohnte er von Anfang an nur den oberen Bereich im Haus. Nie würde ihm in den Sinn kommen, die einstigen Räume der Eltern zu betreten. Allerdings brachte in letzter Zeit seine Phantasie häufig Bilder zum Vorschein, die ihn mehr verwirrten als trösteten. Trügerisch ließen ihn diese Sinnbilder Umrisse seiner Eltern erkennen. Zwar halfen solche Sinnestäuschungen manchmal, mit dem Alleinsein fertig zu werden, doch meist blieb er deprimierter als zuvor zurück. Und diese Tagträume waren auch der Grund, dass er an der äußeren und inneren Seele des Hauses kaum etwas verändert hatte. Peinlichst genau achtete er auf winzigste Details. Alles sollte im Haus originalgetreu erhalten bleiben. Sämtliche Gegenstände befanden sich auf ihrem ursprünglichen Platz. Haargenau, so wie es war, als sie noch zu dritt hier lebten. Neue Möbel, Teppiche, Geschirr oder derlei Sachen brauchte er ohnehin nicht. Im Wohnzimmer stand auch noch der einstige Lieblingssessel seines Vaters, den er schon sehr früh auf besondere Weise kennengelernt hatte. Dieser Sessel blieb für ihn für immer das hässlichste Relikt aus seinen Kindheitstagen. Niemals durfte er ohne den Vater darauf Platz nehmen. Schon beim Anblick des antiken Ohrensessels lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Dieser Sessel versetzte ihn mehr als alles andere im Haus in die Tage seiner Kindheit zurück. Damals schien sein Vater ganz und gar darin zu versinken und der Junge beobachtete ihn häufig dabei. An einigen Tagen saß der Vater reglos darin und grübelte. An anderen Tagen saß er wie auf einem Thron und las konzentriert in seiner Zeitung. In den vielen Jahren des Alleinseins bemühte sich der junge Mann den Teil seiner Erinnerung, die mit diesem Sessel zusammenhingen, auszulöschen. Das gelang mal mehr und mal weniger. Fühlte er sich einsam, ging er hinters Haus, um einen Blick auf den Sessel zu erhaschen. Manchmal erschien dann das Phantombild des Vaters. Seine Silhouette in der typischen Haltung: Angespannt nach hinten gelehnt und die Hände auf seinem Bauch waren gefaltet. Er sah sie wieder, seine nervösen Augen, die mit langem Blick nach etwas gierten. Wenn er aus seinem Sessel hervorkroch, sahen seine Augen leer und kalt aus. Bei den Gedanken an diese kalten Augen seines Vaters wurde er von Ekel gepackt. Selbst der grobe Griff fiel ihm wieder ein, mit dem er ihn an Händen und Füßen packte. Die damals empfundenen Schmerzen wurden plötzlich real und deutlich zu spüren. Gab es für ihn einen Ausweg aus diesem Martyrium oder sollte er für immer darin gefangen bleiben? Unzählige Fragen tauchten wieder auf. Wo sollte er damit hin? Er blieb gefangen in der Vergangenheit, ohne Licht oder dem Gedanken an einen neuen Tag. Er musste etwas tun, um sich von seinem inneren Wirrwarr zu befreien …

Graal-Müritz im August

In der Luft lag noch immer die letzte Stille der Nacht. Die Sonne war gerade über dem Meer aufgegangen und erste Geräusche eines Tages, der gerade anbrach, wurden im Sekundentakt lauter. Noch bevor die Küstenbewohner ihre Augen richtig offen hatten, wussten sie, dass ein heißer Sommertag bevorstand. Endlich ein Sonntag, der diesen Namen tatsächlich auch verdiente. Die nicht enden wollende Hochdrucklage schob seit Wochen eine derartige Gluthitze vor sich her, dass dieser Sommer mehr an einen am Mittelmeer als an den an der Ostseeküste erinnerte. Jahrelang zeichnete kein Wetterdienst an der mecklenburgischen Küste so ein stabiles Hoch mit Werten über 30 °C auf. Der beste Grund für den Rostocker Meteorologen, Stefan Kreibohm, auf der Insel Hiddensee grienend vor der Kamera zu stehen. Selten genug hatte er so viel Gutes zu berichten. In Fachkreisen der Wetterfrösche wurde der diesjährige Sommer längst als der „Jahrhundertsommer“ gehandelt.

Faszinierende Sonnenuntergänge ließen die zuvor andauernden Regenwochen vergessen. Das waren unzählige Wochen, in denen eine unvorstellbare Menge Wasser, wie aus Kannen gegossen aufs Land klatschte. Überall in Graal-Müritz, auf den Wiesen, im Wald und selbst in den Ortschaften ringsherum, kam es zu Überschwemmungen. Blitzschnell waren die Wiesen voll mit Wasser, riesige Seenlandschaften bildeten sich und verwirrten den Blick des Betrachters, selbst Souterrainwohnungen mussten ausgepumpt werden. Über eine längere Zeit waren die Graal-Müritzer Einwohner mit außergewöhnlich hohen Schäden beschäftigt, nicht nur an den eigenen Häusern. Das viele Wasser zerstörte Pflanzen und Bäume, auch gab es Schäden im beliebten Rhododendron Park. Selbst die größte Buche im Park, um die herum sich im Sommer Lyrikfreunde trafen, um ihrer Muse freien Lauf zu lassen, wurde so stark beschädigt, dass sie ein Opfer der übermäßigen Wassermassen wurde. Obendrein durchzog ein penetrantes Lüftchen alle Ecken des Ortes. Selbst das Meer konnte den Geruch von stinkendem Morast nicht übertünchen. Die hoch gepriesene Meeresbrise, dahin war sie und das für lange Zeit. Noch schlimmer sollte es kommen, weil der eklige Geruch unzählige Insekten anzog, die kamen jetzt aus nicht erkennbaren Löchern gekrochen. Überall schienen sie sich breit machen zu wollen.

Wetterkapriolen sind an der Küste oft zu erleben. Einheimische und Touristen waren an manch ein außergewöhnliches Ereignis gewöhnt, nicht nur die Herbststürme schienen gefährlich zu sein. Aber während der stürmischen Tage dieses Sommers waren sich die Einheimischen in Graal-Müritz ausnahmsweise mal einig.

„So schlimm wier dat noch nie, all gor nich in’n Sommer“, meinte auch Karl Hansen. Er war einer von vier alten Graal-Müritzer, die sich fast jeden Abend um Punkt 19 Uhr zum Klönen auf der Seebrücke trafen. Kamen sie ins Streiten, wurden sie sich meist beim Wetter einig. Beim abendlichen Snack auf Platt kamen interessante Neuigkeiten aus dem Ort ans Licht. Trotz unterschiedlicher Meinung war immer etwas dabei, das sie eher verband als trennte. Jeder von ihnen sorgte Abend für Abend für spannenden Gesprächsstoff. Auf diese Weise standen alle vier Männer wenigstens einmal am Tag im Mittelpunkt. Allein deshalb waren ihnen diese abendlichen Treffen auf der Seebrücke wichtig, denn zu Hause gaben meist ihre Frauen den Ton an.

So war es nicht verwunderlich, dass vor allem die pikanten und frivolen Geschichten in ihrer Altherrenrunde heiß begehrt waren. Selten genug passierte etwas in dem beschaulichen Ort Graal-Müritz. Die vier Alten von der Seebrücke passten auf. Egal, ob es brannte oder ein Einbruch passierte, sie wussten über alles als erste Bescheid. Bei der Überführung harmloser Täter half der eine oder andere schon mal mit. Vor kurzem erst hatte einer von ihnen zwei Jungs erwischt, die ein geschnitztes Holztier im Klangwald zerstören wollten. Alle außer Erwin hatten ihr ganzes Leben hier verbracht, sie waren nicht weit rumgekommen.

„De Krimistoff licht bi uns up de Straat“, wusste Hansen zu berichten. Er war der Älteste der Vier. Mit seiner über jedes Ziel hinausschießenden, kriminellen Phantasie ließ er seine Freunde von der Seebrücke oft irritiert zurück. Doch die spannendsten Geschichten kannte nur er und brillierte in spannender Erzählweise täglich damit. Er wusste von kriminellen Jugendlichen genauso zu berichten, wie von aufgesetzten Hörnern manch eines Ehemanns.

„Dat is so as in anner Kaffs och. Wat fählt, is mal so ein echtet grotet Ding as vör twei Johr“, stellte Hansen spitzfindig fest. „Uns’ Urt ist väl tau ruhig, passiert rein gor nix, von den välen Touristen in’n Sommer mal ganz afseihn.“

Von der Seebrücke, dem zentralen Platz im Ort, ließen sich Neuigkeiten rasant wie ein Lauffeuer verbreiten. Erwin, der einzige Zugezogene unter ihnen, war des Plattdeutschen nicht mächtig. Heute erinnerte er an den einzigen aktiven Detektiv im Ort: „Erinnert ihr euch an Kommissar a.D. Ole Timm? Der hat ja jede Menge auf dem Faden. Wie viele Strolche der wohl inzwischen hinter Gitter gebracht hat?“

„Un nich nur in Graal-Müritz.“

„In letzter Zeit ist es etwas ruhiger um ihn geworden“, erzählte Erwin weiter. „Bestimmt will hei ok bloß mal Rentner sin“, gab Enno seinen Senf dazu.

„Nee, ick heff hürt, dat hei all wedder an einen niegen Fall an is“, ergänzte Karl Hansen.

„Wir passen ja auch noch auf, und wenn nichts passiert, helfen wir eben den Touristen“, so Erwin auf Hochdeutsch. Das sich in dieser Runde immer noch ganz befremdlich anhörte.

Im Sommer wimmelte es an der Ostseeküste nur so von Touristen und für die Alten bedeutete das jede Menge Erzählstoff. Doch am liebsten diskutierten sie, wie die meisten Alteingesessenen im Ort, über alte Zeiten.

Das war die Zeit als die Graaler und die Müritzer eigenständige Orte waren. Müritz stammt aus dem Slawischen und bedeutet so viel wie „Gegend am Meer“. Graal dagegen wurde erst viel später, 1752, in Büdnereien aufgeteilt. 1938 wurden dann beide Teile per Dekret zusammengelegt und seitdem wurde der Ort lediglich mit einem Bindestrich getrennt. Das sollte formal gesehen als Trennung genügen. Nicht so in Graal-Müritz. In den Köpfen einiger alteingesessener Einwohner gab es immer noch Barrieren. Ganz früher machte sich der Satz breit: „Die Graaler leben, aber die Müritzer müssen leben.“ Offenbar gab es noch heute einige Meinungsunterschiede von damals. Einige Einwohner sahen den Teil, in dem sie selbst wohnen, als den Schöneren an.

 

Doch wenigstens einte so ein lang anhaltendes Hoch alle wieder und nicht nur bei den Einheimischen herrschte Freude darüber. Nach dem schlechten Saisonstart sorgte ein Hoch für einträgliche Geschäfte bei allen im Ferienort. Die Küstenbewohner atmeten auf und der Regen schien vergessen.

Aber nicht nur das Meer stand in der Gunst der Erholungssuchenden. Genau genommen schien die Rostocker Heide höher frequentiert zu sein, als die Waldbrandstufe es hergab. Eine erfrischende Kühle mit dem Reiz der besonderen Stille lockte Urlauber und Einheimische gleichermaßen in den Wald. Einige von ihnen empfanden die Luft wie Samt und Seide. Das waren jene, denen die Natur weitaus mehr Erholung als die gnadenlose Hitze am Strand bot. Ein empfindsames Ohr gelangte zur Ruhe und weder hupende Autos noch kreischende Kinder nervten. Unter schattigen Bäumen ließ es sich lang und tief durchatmen. In aller Frühe störte keine Menschenseele den Frieden in der Rostocker Heide. Wenn da nicht eine eher seltene Meldung in der Morgenausgabe der Sonntagszeitung auf sich aufmerksam machen würde.

Die Nachricht war winzig, und wahrscheinlich wurde die Vermisstenanzeige von niemandem richtig wahrgenommen. Nur spärliche Hinweise konnte man lesen: „Wer hat junge, dunkelhaarige Frau gesehen? Seit Freitag wird sie vermisst. Wer kann Angaben machen? Bitte helfen Sie bei der Suche!“

Für die vier Alten von der Seebrücke war so eine Meldung genau das Richtige, um ihre Phantasie zum Blühen zu bringen. Endlich hatten sie eine echte Gelegenheit, ihre Spürnasen mal richtig in Einsatz zu bringen. Aber lasen sie so früh am Tag die Zeitung? Ein Sonnenanbeter sowieso nicht. Die fühlten sich von so einer knappen Nachricht an einem heißen Tag wohl kaum angesprochen, obwohl um Mithilfe der Bürger gebeten wurde. Der Schreiber hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, die gesuchte Person präzise zu beschreiben. Lediglich allgemeine Angaben über Haare und Größe wurden erwähnt. Dabei wusste doch jeder, wie im Sommer die Uhren tickten. In den Orten entlang der Küste gab es jede Menge Veranstaltungen und niemand interessierte sich für eine vage Geschichte in der Zeitung. Wer das las, dachte vielleicht eher an eine Ente, die das berüchtigte Sommerloch stopfen sollte.