Mörderisches aus dem Saarland

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»Aber Sie wollten uns doch noch den Flyer mit den Mitmachaktionen …«, beklagt sich eine der Mütter. Svenja hört ihr nicht zu. Stocksauer zerrt sie sich im Gehen das Gewand über den Kopf. Dabei löst sich ihre hübsche Flechtfrisur. Ein Jammer, findet Regine.

Wie all die anderen, die jetzt ratlos herumstehen, hätte sie gern noch ein bisschen mehr über die Fürstin erfahren. Sie musste jemand Besonderes gewesen sein, wenn man wegen ihr einen solchen Aufwand betrieb. Vielleicht gab es einen Mann, der sie nach ihrem Tod so sehr vermisste, dass er der Fürstin den riesigen Grabhügel bauen ließ. Wie beim Taj Mahal, wo dem Großmogul für seine verstorbene Ehefrau nichts gut genug war. Die edlen Grabbeigaben sprechen allemal für eine gefühlvolle und letztlich auch traurige Liebesgeschichte. Regine mag solche Romanzen mit einer Portion Tragik. Zumindest dann, wenn sie ihr Familienglück nicht stören.

Wieder an der Kasse, fordert sie die Hälfte des gezahlten Eintrittsgeldes zurück. Eine lückenhafte Führung habe sie schließlich nicht gebucht. Danach fährt sie nach Hause. Der Morgen ist äußerst spannend gewesen und sie tippt darauf, dass der Nachmittag ebenfalls Aufregendes bereithalten wird.

Als es gegen vier bei Regine läutet und sie die Tür öffnet, ist sie nicht überrascht, die beiden Polizisten zu sehen.

»Frau Baumgarten, entschuldigen Sie, wir haben schlechte Nachrichten«, eröffnet ihr die hübsche Beamtin mit der runden silbernen Brille. Einer Familie unerfreuliche Botschaften zu überbringen, fällt der jungen Frau augenscheinlich nicht leicht.

»Schlechte Nachrichten?«, wiederholt Regine. Das ist eher unwahrscheinlich, sagt sie sich.

»Es geht genau genommen um Ihren Mann …«, fährt der Kollege neben ihr fort, der offenbar schon länger im Dienst ist und mit solchen Situationen umzugehen gelernt hat.

»Ja?« Regine ist für jede Art von Nachricht offen. Sie hat sich in Toleranz geübt, jahrelang.

»Herr Doktor Sebastian Baumgarten, das ist doch Ihr Mann?«

»Ja, richtig!« Ungeduldig schaut Regine zwischen den beiden Beamten hin und her, sie machen es verteufelt spannend.

»Nun, es gab heute einen Unfall an der Ausgrabungsstelle in Reinheim.«

Regine kostet es enorme Mühe, ihre Emotionen im Zaum zu halten. Jetzt bloß nicht grinsen, ermahnt sie sich, denn dies ist der richtige Moment für die erschrockene Miene, die sie seit Tagen vor dem Spiegel geübt hat.

»Wir wissen noch nicht genau, wie und warum Ihr Mann …«, stammelt die Polizistin und hält betroffen inne.

»Es war wohl ein unglücklicher Zufall«, ergänzt der Kollege.

»Ein unglücklicher Zufall? Was ist denn passiert? Ist Sebastian im Krankenhaus?« Regine erschrickt. Alles, nur das nicht, hofft sie inständig. Diese Svenja wird doch wohl keine halben Sachen machen? Jemand Wehleidigeres als Sebastian, wenn er auch nur einen Schnupfen hat, kann man sich kaum vorstellen.

Regine hat Glück. Das Polizistenpärchen schüttelt fast synchron den Kopf.

»Nein, er ist nicht im Krankenhaus«, sagt die Beamtin mit schwerer Stimme. »Jemand hat ihn beim Rückwärtsfahren irgendwie, wohl aus Versehen, mit dem Bagger angefahren. Oder eher überfahren. Vor Schreck hat die Mitarbeiterin ihn sogar …« Sie stockt und wirft dem Kollegen einen Blick zu, der vermutlich bedeuten soll, dass er wieder an der Reihe ist.

Der Beamte seufzt. »Nun, die Mitarbeiterin hat ihn, nachdem sie fast über ihn hinweg war und er bereits am Boden lag, mit der Baggerschaufel am Kopf erwischt. Das war großes Pech.« Er macht eine Pause und beäugt Regine kritisch, anscheinend um abzuschätzen, ob sie noch mehr vertragen kann.

Sie nickt ihm zu. Er soll fortfahren, verdammt noch mal, sie hat nicht den ganzen Tag Zeit!

»Eine ziemlich verrückte Geschichte«, fasst ihr Gegenüber die Geschehnisse zusammen. Ihm ist vermutlich bewusst, dass es nichts bringt, ewig um den heißen Brei herumzureden. So hart es ist, die Ehefrau muss die Wahrheit erfahren – so lernt man das sicher in der Polizeischule, mutmaßt Regine. Und ja, jetzt geht er endlich in die Vollen: »Der Rettungswagen traf in kürzester Zeit vor Ort ein. Aber man konnte nichts mehr für Herrn Baumgarten, also für Ihren Mann, tun. Er ist noch vor Ort …« Jetzt schluckt der Beamte auch.

Regine kommt ihm zur Hilfe: »… verstorben?«

Ihr Herz macht einen Riesensprung, während sie das sagt. Äußerlich bleibt sie angemessen freudlos.

»Ja, es tut uns leid, Ihnen so eine schlechte Nachricht überbringen zu müssen.«

Schade, sagt sich Regine. Offenbar nimmt dieses Ereignis die beiden ziemlich mit. Das trübt ein wenig ihre gute Stimmung.

Was nun auf Regine als Witwe zukommt, ist – das versteht sich von selbst – nicht angenehm. Sie muss Magnus über die neuen familiären Gegebenheiten informieren, nach der LAN-Party logischerweise, die zu dieser Zeit noch in vollem Gange ist. Es wird ein gewaltiger Einschnitt werden für einen Jungen, der seinen Vater so gut wie nie zu Gesicht bekam, einen Vater, der ihm fast alles, was Spaß macht, verbat.

Eine harte Zeit steht ihnen beiden bevor. Sie bleiben allein mit dem Haus, mit all dem Ersparten und dem Geld aus der Lebensversicherung zurück. Jeder würde Rücksicht nehmen und womöglich auch verstehen, dass sich eine Familie nach einem solchen Schicksalsschlag Ruhe und Abstand gönnen muss.

Wobei sie natürlich trotz all der Trauer nicht vergessen sollten, gleich Montag den Vertrag bei der Musikschule zu kündigen, überlegt Regine, während sie ihren Ehering vom Finger zieht und auf dem Kaminsims ablegt. Die Klavierstunden sind in dieser veränderten Situation schließlich sinnlos verschwendetes Geld.

Es wäre vermutlich wichtig, sich abzulenken in der kommenden Zeit, sagt sich Regine und sieht sich in der Wohnung um. Sie muss aufpassen, in kein dunkles Loch zu fallen, so wie viele, die in Trauer sind.

Ihre Therapeutin sei sicher auch der Meinung, sie brauche eine Art Ventil, um auf andere Gedanken zu kommen und die Alltagsprobleme zu vergessen. »Wandel ist gut. Trauen Sie sich, Frau Baumgarten! Wagen Sie sich an neue Dinge heran.« Daran appelliert Tietze-Meiermann genau genommen bei fast jeder Gelegenheit, und eine Psychologin wird es doch wohl am besten wissen. Gerade weil es Sebastians Idee gewesen ist, dass Regine wegen ihres aufbrausenden Gemüts eine Therapie beginnen sollte.

Also, schlussfolgert sie und geht die Treppe hinauf in Richtung Büro, warum soll sie nicht sofort mit dem neuen Leben beginnen? Magnus ist beschäftigt und die nächsten Tage werden ohnehin schwer genug.

Sie setzt sich an Sebastians Schreibtisch und schaltet den Computer ein. Die Datingseite, auf der sie sich die letzten Wochen häufiger aufgehalten hat, ist auf dem Rechner unter »Favoriten« gespeichert. Praktisch, sagt sich Regine.

Sie tippt ihren Nickname ein. Coconut28.

Am Wochenende ist in dem Chatportal enorm viel los, und es dauert keine fünf Sekunden, bis sich die erste Abwechslung bietet.

»Auch alleine?«, fragt MisterLoverLover.

Regine schreibt: »Mutterseelenalleine und entsetzlich einsam!«

Als frische Witwe, findet Regine, ist die Behauptung doch kein bisschen übertrieben. Sie befindet sich in einem beklagenswerten Zustand, und vielleicht kann dieser Loverlover ihr echten Trost bieten. Er könnte jemand werden, der ihr über diese schwere Zeit hinweghilft. Mag sein, dass sie mit ihm, zur Erinnerung an ihren Sebastian, ein paar von dessen ungewöhnlichen Ideen in die Tat umsetzt. Ganz klar würde es sie Überwindung kosten, doch wer, wenn nicht Regine, hatte gelernt, offen und tolerant zu sein.

Wir haben es uns nicht ausgesucht

Manche ergänzen sich perfekt, so wie Tim und Struppi oder Flipper und sein Freund Sandy, andere wiederum stoßen sich ab wie die Pole zweier Magneten. Sie sind so harmonisch wie Feuer und Wasser oder – um es noch eindrücklicher zu beschreiben – wie die Kombination von Fleischkäse und Tofuwurst. Da passt rein gar nichts, und es liegen ganze Welten, wenn nicht sogar Sonnensysteme, dazwischen. Genau diese Rahmenbedingungen treffen auf Wolfgang und mich zu. Ich kann den Kerl nicht ausstehen, und ihm geht es allem Anschein nach mit mir kein bisschen anders.

Ungeachtet dessen haben mich Siggi und Hanne dieser Situation ausgeliefert, aus reinem Egoismus. Während sie die Sechstageradtour auf dem Saar-Radweg antreten, ihr Aufbruch ist noch keine drei Stunden her, soll ich die Zeit bei Gabriele in ihrem Haus in Besseringen verbringen. Ein pures Lockangebot, einzig um mich gefügig zu machen, und ich bin eiskalt auf die Nummer hereingefallen. So wie die armen Omas beim Enkeltrick.

Ein paar Tage bei Gabriele, das klang in meinen Ohren wie ein Wellnessurlaub. Hannes beste Freundin liebt mich abgöttisch, und genau wie ich pflegt sie mit Hingabe ihre romantische Ader. Immer nennt sie mich »Güntherlein« und überdies schaut sie nicht nur für ihr Leben gerne Liebesfilme, sie liest auch unglaublich viel. Allesamt Romanzen. Während ich also an diesem ersten Morgen der Fremdunterbringung zu ihren Füßen liege und von der südenglischen Küste träume, lausche ich Gabrieles zarter Stimme und meine Nase verrät mir, der Tag wird noch besser. Schließlich köchelt der Schmorbraten seelenruhig in der Küche. Gabriele ist kulinarisch eine Virtuosin, was man von Herrchen und Frauchen leider nicht behaupten kann. Nur deshalb gönne ich Siggi und Hanne die Woche Urlaub von Herzen. Sollen sie sich ruhig in ihren freien Tagen abstrampeln, ich habe hier mein ganz eigenes kleines Paradies.

Zumindest hat es zu Beginn diesen Anschein. Viel zu schnell muss ich erkennen, dass es sich lediglich um halbherzige Zusicherungen gehandelt hat, die der Realität schon am ersten Tag nicht standhalten. Gerade eben haben Siggi und Hanne den Drahtesel bestiegen und sind damit für mich unerreichbar, da klingelt bei Gabriele das Telefon.

 

»Och ne, oder? Das ist die Nummer vom Gartenbistro, da muss ich leider ran«, höre ich neben mir. Meine Vorleserin klappt »Mitten hinein in den Sturm der echten Liebe« zu und legt das Buch zurück auf den Wohnzimmertisch. Verstört schaue ich auf: Was ist denn das? Genau jetzt, wo es spannend wird. Ich will unbedingt wissen, ob der französische Winzersohn Didier der bezaubernden, aber etwas naiven Gutsbesitzerin Rose trotz Verlobung mit einer gutdotierten Bauunternehmertochter einen Antrag macht. Oder ob er sich von den gemeinen Intrigen seiner Mutter täuschen lässt. Sie arbeiten mit perfiden Methoden dort in Südengland.

Ungnädig spähe ich von der Kuschelecke auf der Ledercouch hinaus in die doch oft so ungerechte Welt. Gabriele hat mir ein federweiches Lager bereitet, damit ich nicht wegen des kalten Leders friere, und mein festes Vorhaben ist es, diese perfekten Umstände maximal zum Essen zu verlassen und höchstens einmal, um einen Bach zu machen. Obwohl mir gerade eben der Gedanke im Kopf herumgeschwirrt ist, dass es Gabriele sicher eine Freude bereiten würde, mich direkt vor Ort zu füttern. Sie liebt es, andere zu bemuttern, und ich tue alles dafür, dass es ihr gut geht.

Doch all diese wundervollen Pläne stehen mit einem Mal auf der Kippe.

»Aber diese Woche sollte ich eigentlich frei haben. Das war doch …« Kurze Pause. Mein Teilzeit-Frauchen legt die Stirn in Falten. Von der anderen Seite hört man erneut hektisches Gemurmel. Keine Ahnung, was die Kollegen vom »Garten der Sinne« von meiner Gabriele wollen. Was immer es ist, sie ist fest gebucht für die kommenden Tage, sage ich mir. Die Gartenanlage oben auf der Ell wird auch mal eine Woche ohne Gabriele zurechtkommen müssen. Da gibt es kein Wenn und Aber und Diskutieren! Versprochen ist versprochen.

Gabriele allerdings ist, was die Bedürfnisse anderer angeht, viel zu gutherzig, und so sagt sie doch wahrhaft den Satz, der das Kartenhaus schon halb zum Einstürzen bringt: »Ich komme!«

Na super!

Kurz darauf beendet sie das Telefonat und setzt mich schonungslos über ihr Vorhaben in Kenntnis: »Güntherlein, kleine Programmänderung. Was hältst du davon, wenn du Hendrik für ein paar Stündchen besuchst? Vielleicht hat er Zeit. Gegen sechs bin ich wieder da.«

Ich überlege. Zugegeben, die Idee ist noch recht okay. Hendrik, Gabrieles Sohn, der in Saarbrücken in einer Studenten-WG wohnt, ist ein cooler Typ. Es ist zwar nicht ganz das, was mir versprochen wurde, doch wir könnten mit dem alten 3er, den Gabrieles Sohn meinem Herrchen Siggi abgeschwatzt hat, auf Tour gehen.

Na gut, denke ich mir, wenn jemand flexibel ist, dann wohl ich. Gabriele zuliebe akzeptiere ich das Angebot, erwarte jedoch für das selbstlose Einlenken später die doppelte Portion Schmorbraten. Von dieser Idee getragen, erhebe ich mich gut gelaunt aus dem Kuschelnest und signalisiere mit aufgeregter Rute meine Bereitschaft, den Deal einzugehen.

»Na, mal schauen, ob er überhaupt Zeit hat.« Gabriele lächelt mir zu, während sie seine Nummer eingibt.

Auf der anderen Seite der Leitung meldet sich jemand mit: »Jep.«

»Hendrik, hab ich dich geweckt?«

Ich rücke dichter an Gabriele heran, um mitzuhören. Hendrik klingt verschlafen. Aber kein Problem: Soll er erst mal eine Tasse starken Kaffee trinken, und wenn wir später bei all der Frischluft im Cabrio durch die Gegend touren, wird er schon richtig munter werden.

»Ähm, hab bis eben gedöst«, nuschelt mein potenzieller Aufpasser. Er hört sich nicht gut an, Gabriele muss die Nummer mit der Vertretung wohl oder übel canceln. Der Stimme nach zu urteilen, hat ihr Sohn eine beachtliche Menge Restalkohol im Blut.

»Ist Leonie da?«

»Öh, ne. Ich glaube … Moment, warte, sie ist gerade auf der Toilette …« Hendrik redet im Flüsterton. »Ich glaube, sie heißt Svenja.«

»Svenja? Kenne ich nicht.«

»Na, ich auch erst seit gestern Abend. Ist ein bisschen älter als ich, aber ganz lustig. Sie hatte ziemlichen Liebeskummer und na ja …« Hendrik ist weit ehrlicher, als es für seine Mutter nötig wäre.

Gabriele sieht mich an und schüttelt den Kopf. Ganz eindeutig: Ihr Sohn ist für heute keine Lösung. Da sind wir beide einer Meinung.

»Nun, da will ich nicht länger stören. Ich melde mich später. Bis dann«, beendet sie das Gespräch und legt auf.

Na gut, denke ich mir. Wir haben es versucht, aber da ist leider kein Ersatz in Sicht. Demzufolge muss Gabriele wohl die Geschichte mit dem Garten der Sinne abblasen. Doch meine Aufpasserin ist da anderer Ansicht. Statt das Telefon zur Absage zu nutzen, verfügt sie: »Ach, weißt du was? Ich rufe einfach mal den Wolfgang an. Er hat heute frei und wollte am Mittag sowieso zu uns kommen. Ist doch prima! Vielleicht kann er einspringen.«

Äh ne, der Wolfgang, schießt es mir durch den Kopf. Dass Gabriele unbelehrbar ist und ihrem Exmann eine zweite Chance gibt, ist für mich nicht zu verstehen. Wo die Liebe hinfällt, kann man da nur sagen. Oder vielleicht eher: Liebe macht blind. Im Falle von Gabriele so blind wie ein Maulwurf.

Was das angeht, muss jeder selbst entscheiden. Da bin ich tolerant, solange mir dieser überkorrekte Hilfssheriff, der Hanne und Siggi immerzu predigt, mich mit einem der furchtbar engen Halsbänder an die Kette zu legen, von der Pelle bleibt. Mich dem zu überlassen, grenzt an Fahrlässigkeit.

Tag und Nacht prahlt er, wie wahnsinnig toll ihre Polizeihundestaffel im Saarland sei und was da für pfiffige Strebertypen dabei wären. Durch die Blume will er Siggi und Hanne damit natürlich etwas anderes sagen: Das sind alles keine verwöhnten Vierbeiner wie euer Günther. Wenn der selbstgefällige Freund und Helfer so daherredet, hört er sich an wie diese Opas, die stundenlang vom Krieg erzählen. Dass heute bei einem Hund andere Werte zählen, checkt er nicht.

Auf die Nummer mit Oberschlauberger Forsberg, dem Spaßkiller schlechthin, hat mich niemand vorbereitet und den Wolfgang wiederum auch nicht. Gabriele überfährt ihn am Telefon einfach mit ihrer Frage. Als sich Herr Neunmalklug von der Idee ebenfalls nicht sehr begeistert zeigt, sagt sie sofort: »Früher wolltest du immer einen Hund.«

»Ja, einen Hund, aber Günther …« Er bringt den Satz nicht zu Ende. Einzig und allein, weil er es sich nicht mit Gabriele verscherzen möchte. Statt hart zu bleiben und mir den Nachmittag zu retten, lässt er sich erweichen: »Nun gut, wenn du Hilfe brauchst, springe ich natürlich ein!«, balzt er durchs Telefon. »Für dich, mein Schatz, mache ich alles. Sogar auf den verzogenen Fiffi aufpassen.«

Verzogenen Fiffi! Ich vergrabe mich in meine Kuschelhöhle, und ich schwöre, bis 18 Uhr – denn dann ist Feierabend an der Kasse der Gartenanlage – nicht herauszukommen. Das gehörte nicht mit zur Abmachung. Mir hat vorab niemand mitgeteilt, dass Herr Oberlehrer Dauergast in meinem Feriendomizil sein wird.

»Hast du gehört? Der Wolfgang kommt. Das wird ein Spaß«, droht mir Gabriele in bester Laune an, nachdem sie aufgelegt hat. »Ich mache schnell noch den Schmorbraten fertig, und dann habt ihr zwei das Haus für euch alleine.«

Beim Wort Schmorbraten hebe ich kurz den Kopf. Immerhin gibt es noch den Braten zum Trost, sage ich mir. Immerhin!

Es dauert keine Viertelstunde, da ist der Gute-Laune-Killer vor Ort und setzt sich prompt an die gedeckte Tafel.

»Oh, schau an. Da habe ich ja richtig Glück gehabt, als Hundedompteur engagiert worden zu sein.« Mit lüsternen Augen fixiert er den Schmorbraten auf dem Tisch, genau wie ich. Die Rotweinsoße kitzelt in meiner Nase. Gabriele hat das kulinarische Kunstwerk mit ganzen gedünsteten Möhren und Kohlrabi-Stiften drapiert, über die sie einen Klecks zerlassene Butter gegeben hat. Was für ein Anblick – was das angeht, sind Wolfgang und ich uns zu 100 Prozent einig.

»Die Möhrchen mit etwas Grün sehen toll aus«, stellt er fest und Gabriele lächelt. »Und erst die Spätzle«, schleimt er sich weiter ein. »Sag nur, das sind …«

»Kastanienspätzle!«, vollendet meine Gabriele seinen Satz und gibt dem Superkommissar dazu auch noch einen Kuss auf die Wange. Bäh! Ich schaue lieber weg und sinne über die Aufteilung nach: Gemüse und Spätzle für den Herrn, der Braten für mich, entscheide ich großzügig und mache mit einem Wimmern auf mich aufmerksam – anders geht es heute anscheinend nicht.

»Gibst du Günther bitte auch gleich ein Stück? Sein Napf steht in der Küche.«

»Du willst dem Hund doch nicht etwa vom Tisch geben?«, brummt Wolfgang.

»Hanne meinte, das wäre kein …«

»Dass die beiden den Hund restlos verziehen, ist mir klar«, wirft der Besserwisser ein.

Da ist er eingeladen in unserem Haus und lässt die Gastgeberin nicht mal ausreden, denke ich empört. Gabriele schluckt ebenfalls und springt heldenhaft für mich in die Bresche. Die Gutherzige. »Die eine Woche kann doch wohl kaum schaden«, hält sie dagegen. »Güntherlein soll sich schließlich wohl bei uns fühlen.«

»Güntherlein«, murmelt Wolfgang in einem Tonfall, der Bände spricht. Mir wird ganz komisch und ich lasse die Ohren hängen.

Ein weiteres Mal versucht Gabriele zu vermitteln. »Ach, Wolfgang. Gibt dir einen Ruck, unser Güntherlein ist so ein süßer Kerl. Machst du das bitte? Versprochen?« Sie sieht Wolfgang mit großen Augen an und dem Blick kann niemand widerstehen – schon gar nicht der Hilfssheriff vor uns.

»Hm, also gut«, lenkt er ein und sein Mund verzieht sich zu einem Grinsen. Es ist ein eiskaltes, frostiges Lächeln, das mir Angst macht.

Gabriele offensichtlich nicht. »Super, du bist ein Riesenschatz«, lobt die Gutgläubige den Widerling, der sie noch zur Tür begleitet. Dort folgt wieder Knutscherei, und schon fällt die Tür ins Schloss. Ich schlucke. Jetzt bin ich mit dem Bluthund allein.

»So, Güntherlein«, tönt es bissig aus dem Flur. Wolfgang kehrt zurück, um erneut am Tisch Platz zu nehmen. Provozierend setzt er sich mir gegenüber, nimmt sich eine Scheibe vom Schmorbraten und legt ihn auf seinen Teller. Er überlegt kurz und platziert dann ein zweites Stück darauf.

»Jetzt kommt die Zeit der Neuorientierung«, kündigt er an und greift zur Sauciere. »Es weht ein anderer Wind, verstehst du, was ich meine, Güntherlein?«

Nein, ich verstehe gerade rein gar nichts. Der Geruch und der Anblick des Essens auf Wolfgangs Teller nehmen meine Sinne vollends in Anspruch. Er will mir doch hoffentlich nicht noch mehr von meinem Anteil rauben, befürchte ich. Da langt das Monster wieder zu.

Ein, zwei, drei, nein, sogar vier Schöpflöffel ergießen sich über den mittlerweile in Soße ertrunkenen Braten. Die Maronenspätzle häufelt Wolfgang von allen Seiten dazu, um zuletzt drei Möhrchen obenauf zu stapeln. Der Teller ist so brechend voll, dass ein einziges Reiskorn vermutlich eine mittelschwere Lawine auslösen würde.

Nervös tripple ich von einem Pfötchen auf das andere. Huhu! Ist da nicht noch etwas? Ein Versprechen? Für einen Paragrafenreiter wie den Forsberg muss so was doch eine Bedeutung haben?

»Ah, du wolltest auch was?«, reagiert Wolfgang endlich. Wie gesagt, ich mag den Kerl nicht, aber ich schätze, was sein Wort betrifft, ist er zuverlässig. Voller Vorfreude schlecke ich mir mit der Zunge über meine Schnauze. Hunger, das ist das Gefühl, das in dieser Sekunde vorherrscht. Wolfgang nimmt den Salatteller, den Gabriele für ihn bereitgestellt hat, und platziert darauf das winzig kleine Endstück vom Schmorbraten. Einen Daumen oder höchstens anderthalb breit.

»Versprochen ist versprochen«, sagt Wolfgang in einer derart gehässigen Weise, dass ich ihn am liebsten ins Hosenbein beißen würde. Aber bei einem Polizisten spare ich mir das besser, die wissen sich zu wehren.

»Das kleine Güntherlein kommt dann mal mit«, fordert er in einem zuckersüßen Ton und steht auf. Von der gedeckten Tafel greift er sich im Vorbeigehen noch ein paar Kohlrabistifte und zwei, drei Möhrchen. Was soll denn das, frage ich mich. Will er mich etwa zum Veganer umerziehen? Davon kann ich krank werden.

»Vitamine können nie schaden«, behauptet mein Aufpasser, trabt in die Küche und macht sich auf einem Schneidebrett an sein ungeheuerliches Werk. Mit einem großen Fleischmesser hackt er alles, was er zuvor aufgetürmt hat, lieblos in hässliche Fetzen – das Drama schiebt er mit der Klinke vom Brett direkt in meinen Plastikfressnapf. Den, den Siggi und Hanne nur pro forma eingepackt haben, denn für gewöhnlich speise ich von feinster Keramik. Ich blicke geknickt auf das Ergebnis im Napf, fiepe und sehe Wolfgang erwartungsvoll an. Das traurige Etwas da soll ich doch nicht ernsthaft meinem Körper zuführen? Das kann nicht sein Ernst sein: Erst mal ist das viel zu spärlich und zweitens absolut unter meiner Würde.

 

»Ist das nicht gut genug für den kleinen Feinschmecker?«, stellt Wolfgang nun endlich die richtige Frage.

Korrekt, denke ich, der Junge hat es erkannt.

Doch gar nichts checkt er. Wolfgang packt das Trockenfutter aus der Ecke, das Gabriele sicherheitshalber besorgt hat, falls es mir nicht schmecken sollte, was eigentlich bis eben außer Frage stand. Er reißt die Packung auf und schüttet eine Ladung davon in den Napf. Mir wird fast übel bei dem Anblick.

»Besser so?«, fragt der Soziopath gehässig.

Ich drehe meinen Kopf weg – schon lange hat mich niemand mehr so beleidigt. Bevor ich den Fraß anrühre, sterbe ich lieber.

»Ist dem Herrn Günther wohl nicht exquisit genug«, säuselt Wolfgang. »Na, da kann ich helfen.«

Er greift in Gabrieles Kräutertopfecke und pflückt ein Stück Petersilie heraus, das er zwischen die Trockenfutterkringel steckt. Die Freude, die ihm all das bereitet, ist unübersehbar. Mit einem fiesen Lächeln fügt er hinzu: »Lass es dir schmecken, Güntherlein.«

Ich hasse ihn. Abgrundtief. Weit mehr, als je ein Hund einen Menschen gehasst hat. Doch auch das kümmert den Tierfeind wenig. Als wäre nichts geschehen, macht er auf dem Absatz kehrt und lässt mich mit dem Elend an Hundefraß allein.

Aus dem Wohnzimmer höre ich ihn schmatzen und das, während ich in der Küche quasi am Verhungern bin. Das interessiert Wolfgang nicht die Bohne, anscheinend hat er sich sogar den Fernseher angemacht. Irgendetwas Brutales, das passt zu ihm. Laute Schüsse fallen und ich wünsche mir, die wären echt.

Eine gute halbe Stunde tripple ich in der Küche auf und ab. Bei Hanne und Siggi zieht das immer. Irgendwann traben sie mit einem schlechten Gewissen an, und spätestens da ist eine dicke Scheibe Lyoner fällig. Doch Wolfgang ist immun gegen jede Form von Mitgefühl – ein Herz aus Vulkangestein. Er gibt nicht nach und ich schon fünfmal nicht. Keinesfalls! Die Pampe im Napf rühre ich nicht an, selbst wenn mein Magen bereits ein wahres Konzert veranstaltet.

Keine Ahnung, wie lange ich in der Küche schon vor mich hin geschmort habe – ganz ohne Schmorbraten –, als die Unglücksbotschaft eintrifft. Die Titelmusik vom Tatort, der Klingelton des Hilfssheriffs, mischt sich in die Dauerschießerei im Wohnzimmer und bereitet der Essenstragödie urplötzlich ein Ende. Wie schnell werden solcherlei Querelen nebensächlich – wenn ein echtes Unglück passiert.

»Hallo, Hase. Ist bei dir alles klar?«, höre ich. Im gleichen Moment schweigt der Fernseher.

Heimlich, still und leise tapse ich in den Flur. Das will ich haarklein mitbekommen. Bombensicher macht Gabriele Wolfgang wegen der Schmorbratenaktion in dieser Sekunde die Hölle heiß, überlege ich.

»Was sagst du? Ein Kerl mit Sturmmaske … schließt die Türen! Sofort! Und bringt euch in Sicherheit. Weiß die Polizei Bescheid? Gabriele, hallo … Hase, hörst du mich?« Wolfgangs Miene verdüstert sich. Als er noch einmal versucht, Gabriele an den Apparat zu bekommen, meldet sich niemand. »Gar nicht gut«, murmelt er und tippt erneut auf seinem Handy herum. »Herbert, hier ist Wolfgang. Schick bitte mal zwei Streifenwagen hoch zur Ell zum Garten der Sinne. Da scheint sich ein vermummter Typ herumzutreiben. So schnell wie es geht, bitte!«

Mir wird heiß. Irgendetwas stimmt bei Gabriele nicht. Das macht mir Angst. Was, wenn ihr etwas passiert? Das wäre eine Katastrophe. Wo soll ich dann die Woche über unterkommen?

»Super. Danke! Ich bin auch gleich da«, sagt Wolfgang in meine Gedanken hinein und springt auf. Der Teller mit dem Schmorbraten steht halb verzehrt vor ihm. Was für eine Verschwendung!

Obwohl …, denke ich. Mit ein bisschen Glück bin ich den Knaben bald los. Was soll ich als Dackel dort schon ausrichten können? Ich halte hier die Stellung, und er kann den großen Retter spielen und am besten Gabriele gleich danach mit nach Hause bringen. Doof nur, dass jetzt der Fernseher aus ist.

»Los, auf, Günther!«

Der Schlachtplan von Wolfgang sieht offensichtlich anders aus: Ich soll mit. Warum gerade ich? Sonst heißt es doch immer, ich sei ein verhätscheltes, kleines Schoßhündchen. Sind in einer solchen Angelegenheit die Helden von der Hundepolizeistaffel nicht weit eher gefragt?

Doch Herr Hauptkommissar kennt keine Gnade. Ein paar Augenblicke später stehen wir vor seinem Kombi.

»Rein mit dir!«, sagt Wolfgang mit einer Stimme, die keinerlei Widerspruch zulässt. Der Kerl bugsiert mich in den Kofferraum und dort muss ich hinter den hochgezogenen Gittern verharren wie ein Strafgefangener. Voller Angst und halb verhungert, so fährt er mich in einem Affenzahn in die Kampfzone, dabei bin ich Pazifist.

Von Besseringen aus brauchen wir länger als Wolfgangs Kollegen. Als wir oben am Parkplatz des Gartens der Sinne vorfahren, sichern Beamte das Gelände ab.

»Mensch, was ist denn hier los?«, höre ich Wolfgang zu sich selbst sagen.

Sogar ein Krankenwagen mit Blaulicht steht parat. Das komplette Programm. Die Atmosphäre ist noch finsterer als bei einer Folge vom Saar-Tatort, und da kann ich schon kaum hinsehen.

Wolfgang steigt aus und ich bete, dass er mich hier hinten vergisst. Doch Pustekuchen, auch dieser Wunsch erfüllt sich nicht. Herr Kommissar öffnet mir mit der Instruktion »Du bleibst bei Fuß« den Kofferraum. Bedauerlicherweise, denn im Auto hätte ich mich weitaus sicherer gefühlt als dort draußen, wo es nur so von aufgeregten Sicherheitskräften wimmelt.

Wolfgang zückt seinen Dienstausweis und zeigt ihn einem Kollegen, der nervös an einem Polizeiwagen mit dem Funkgerät hantiert und vermutlich auf weitere Anweisungen wartet.

»Forsberg, Kripo Saarbrücken, was ist passiert?«, erkundigt Wolfgang sich.

»Fiedler. Es gab eine Bombendrohung.«

»Was?« Wolfgang schüttelt ungläubig den Kopf. »Das ist bestimmt ein Dummejungenstreich. Kommt doch ständig …«

»Diesmal eher nicht«, fällt ihm der Kollege ins Wort. »Der Bombenleger hat sich mit einer Reihe von Geiseln im Bistro verschanzt, und so wie er sich eben angehört hat, ist es ihm todernst.« Nervös knabbert der Beamte auf seinen Lippen herum und blickt auf das Bistrogebäude, das circa 150 Meter von uns entfernt liegt.

»Geiseln?« Wolfgang wird blass. »Wissen Sie, wer sich dort drinnen aufhält?«

»In jedem Fall der Attentäter, ein paar der Angestellten vermutlich und eine Handvoll Gäste. Wir schätzen etwa zehn bis zwölf Personen.« Der Polizist wirkt überfordert. »So was hatten wir noch nie hier. Die Saarbrücker schicken das SEK. Bis dahin müssen wir die Stellung halten.«

»Hat der Geiselnehmer sonst noch was gesagt?«

Der Beamte strafft die Schultern, als er weiterredet: »Ja, hat er. Das ist ein Psychopath, wenn Sie mich fragen. Als wir am Eingang eintrafen, sahen wir den Kerl hinter der Scheibe. Komplett in Schwarz, er wirkte vollkommen irre. Er hatte einen Fernzünder in der Hand und drohte uns, die Bombe zu zünden, falls wir auch nur einen Schritt näher kommen. ›Zwei Millionen!‹, brüllte er. ›Und keinen Cent weniger.‹ Er will einen Wagen. ›Sonst geht hier innerhalb von Sekunden alles in die Luft‹, das waren seine Worte. Wir haben nur eine Stunde, um Geld und Auto zu besorgen.«

»Zwei Millionen? In einer Stunde?«, wiederholt Wolfgang und schüttelt fassungslos den Kopf. Er denkt wohl das Gleiche wie ich, die Forderung wird man in der Kürze der Zeit nicht erfüllen können.

Dieser Fiedler nickt. »Wahnsinn«, sagt er mit gepresster Stimme. »Eigentlich hatte ich heute frei und bin nur für einen kranken Kollegen eingesprungen.«