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Rittmeister Brand; Bertram Vogelweid

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VI

Die Familie war vollzählig im kleinen Salon versammelt, als Bertram, sauber gewaschen und elegant angethan, eintrat. Im selben Augenblick wurden beide Flügel der Thür, die in den Speisesaal führte, geöffnet, der Gast bot der Hausfrau seinen Arm und erhielt am zierlich gedeckten Tisch den Platz zu ihrer Rechten und zur Linken des Hausherrn. Neben diesem saß der »Professor« und zwischen ihm und Hagen die ernste »Kirchenmaus«. Dann kam Sieglinde, die ihren Sessel so nahe als möglich an den der Mutter gerückt hatte.

»Schau dir das Obst an,« sagte Hugo, »die selben Sorten haben wir in deinem Garten gepflanzt.«

Bertram sah den Freund glückverklärt an. »Wann werd’ ich ihn sehen, meinen Garten? Und solches Obst hab’ auch ich?«

Entzückt betrachtete er die goldigen Aprikosen, Himbeeren, die dem Rothkäppchen als Kopfbedeckung hätten dienen können, purpurne Kirschen, durchsichtige Weichseln, Erdbeeren von märchenhafter Größe und Gestalt.

»Nehmen Sie die Melone nach der Suppe oder zum Dessert?« fragte die Hausfrau und zeigte ihrem lieben Gaste freundlich die blanken Zähne. Sie war wirklich noch eine schöne Frau, trotz ihrer fünfunddreißig Jahre und ihrer überreich entfalteten Spätsommerblüthe.

»Verehrte Frau,« erwiderte Bertram, »ich esse Melone, wann Sie erlauben und befehlen.«

»Nach der Suppe ist sie gesünder,« bemerkte Weißenberg.

»Beirre ihn doch nicht. Bitte, entscheiden Sie.«

»Es ist mir wirklich gleich.«

Der Gymnasiast, der während dieses Austausches von Höflichkeiten höhnisch gelacht hatte, brach jetzt aus: »Macht keine solchen Geschichten. Ihm ist’s gleich, hat er schon gesagt, wenn er nur überhaupt Melone kriegt.«

Bertram sah einen Purpurschein sich verbreiten, er ging vom Gesicht Sieglindens aus, er vernahm ein Gekicher, es hatte sich der Brust Meisenmanns entrungen. Weißenberg zeichnete mit dem Messer die Umrisse einer Scheune auf das Tischtuch, die Hausmutter that unbefangen und winkte plötzlich entschlossen den immer noch auf eine Entscheidung wartenden Bedienten, die Melone zu serviren.

»Ich lese jetzt ‘Die Kronenwächter’ von Achim von Arnim«, wandte sie sich von Neuem an Bertram.

»Sie lesen, so? die Kronenwächter?« versetzte er und dachte: Sind wahrscheinlich auch vom Boden heruntergeschleppt worden.

»Ein merkwürdiges Buch, aber doch mehr merkwürdig als spannend.«

»Wie meinst du das?« rief Hagen seine Mutter herausfordernd an. Weißenberg aber sagte rasch:

»Sie ist gut, die, was? eine gestrickte. Hast die selbe Sorte in deinen Mistbeeten.«

Sieglinde erröthete, und Mutter Bertha berichtigte in rücksichtsvoll gedämpftem Tone: »Frühbeeten.«

Der Hausherr begann nun freudig und ausführlich zu erzählen, wie er den Kauf des Bauerngutes – einer ehemaligen Erbrichterei – für Bertram geschlossen, wie er alles in leidlicher Ordnung übernommen habe und in musterhafter zu übergeben gedenke. Dann aber kam er auf sein altes Lied vom Betriebskapital zurück, und Bertram erklärte:

»Ich will kein Kapital, ich brauche keins; was würden die Sozialisten sagen, wenn ich ein Kapital aufhäufte.«

»In die Gefahr wirst du schwerlich kommen. Nicht ums Aufhäufen handelt sich’s, sondern ums Zustopfen, wenn irgendwo eine gefährliche Lücke entsteht; die Maschine, die zu stocken droht, muß in Gang erhalten werden. Wie schaffst du die Mittel dazu her ohne Reservefond?«

»Der Bauer hat keinen und lebt doch auch.«

»Bilde dir das nicht ein, der Bauer geht zu Grunde.«

»Durch eigne Schuld.«

»Nicht immer.«

Jetzt gerieth der »Professor« in hohe Erregung und sprach überstürzt mit bebender Stimme und so leise, daß man ihn kaum verstand. Es zischte und pustete aus ihm heraus wie aus einem überheizten Theekessel. Er verwünschte die Juden und die Deutschen, die Feinde und Verderber des mährischen Bauern. Der Judenwirth verleitet den Bauern zum Trinken, giebt ihm Branntwein, so viel er will, bis er Hab und Gut versetzt hat. Dann kommt der Deutsche und kauft den Bauern aus.

Den Schluß seiner Rede hatte Meisenmann geradezu an den Baron gerichtet und schien, einmal im Zuge, in immer heftigere Anklagen ausbrechen zu wollen. Aber Hagen fuhr drein:

»Sitzt schon! sitzt schon wieder auf seinem Steckenpferd. Du mußt wissen, Vogel, er ist Jungczeche und Antisemit.«

»In der Theorie, nicht in der Praxis. Sie können überzeugt sein, Hagen, und Fräulein von Weißenberg kann überzeugt sein« …

»Wir sind alle überzeugt,« rief der immer versöhnliche Baron dazwischen. »Sie deklamiren gegen die Juden und die Deutschen, aber Sie thun keinem etwas zu Leide.«

»Ein theoretischer Jungczeche also?« sagte Bertram. »Auch das setzt mich in Erstaunen. Wenn man einen uralten deutschen Namen führt –«

Die Baronin hatte ein aristokratisches Bedenken: »Uralt?«

»Gewiß. Ich ahne zwar nicht, aus welcher Schöpfungsperiode die Meisen und die Männer stammen, aber sicherlich aus einer älteren, als die ältesten Adelsgeschlechter.«

»Du sprichst pro domo, Vogel, weil dann auch du einen uralten Namen hast.« Hagen lachte, und es war betrübend, ihn lachen zu hören und zu sehen. Er lachte wie er sprach, stoßweise, bellend, und schien dabei eine unangenehme Empfindung zu haben, seine Züge erheiterten sich nicht, sie verzerrten sich.

Sollte der nervöse Bertram unter Menschen gerathen sein, noch nervöser als er? An dem jungen Sohn des Hauses mit dem alten Gesichte war alles krankhaft, auch die Hast, mit der er aß, und der prahlerische Übermuth, mit dem er ein Glas Wein nach dem anderen hinunterstürzte.

Sein Vater richtete eine schüchterne Ermahnung an ihn, sie blieb wirkungslos und wurde nicht wiederholt; augenscheinlich fürchtete Weißenberg des Sohnes offenen Widerstand heraufzubeschwören.

Auch Sieglindchen verrieth eine Boa constrictor-Natur beim Verschlingen der thurmhohen Portionen, die sie sich vorlegte. Das Mittagessen war allerdings ausgezeichnet, und Bertram bedauerte, ihm nicht so viel Ehre erweisen zu können, als seine gastfreien Wirthe gewünscht hätten.

Was war’s, das ihm den Appetit raubte? Der Anblick der beiden jungen Fresser am Tische, die beängstigende Liebenswürdigkeit der Hausfrau, oder vielleicht die Nähe des Fräuleins von Weißenberg? Sie wirkte mächtig auf ihn, beschäftigte seine Gedanken, zwang ihn zu fortwährender Selbstüberwindung, um nicht der Versuchung zu unterliegen, sie gar zu oft anzusehen.

Eine eigentliche Schönheit konnte man sie nicht nennen, aber es war so vieles an ihr schön! Die Form des Kopfes, ihre Art ihn zu tragen, der wundervolle Ansatz des schlanken Halses, die reichen dunkelbraunen Haare, die Nase, der Mund, der hartnäckig schwieg und der, das glaubte Bertram zu errathen, doch so gern gelacht und gescherzt hätte. Und die streng blickenden Augen, dunkel wie die Flügel des Trauermantels, wie mußten die leuchten können, wenn ein Glücksgefühl sich in ihnen widerspiegelte!

»Es ist schrecklich, Sie essen nicht,« sagte die Baronin, und ihr Gast entschuldigte sich:

»O, bitte, warten Sie nur, in Kurzem wird sich Heißhunger bei mir einstellen, wenn ich nur erst zu taglöhnern anfange.«

»Wie meinen Sie das, zu taglöhnern?«

»Ich meine, daß ich arbeiten will wie ein Taglöhner.«

Alle lachten, sogar die Bedienten lachten verstohlen.

»Wie ein Taglöhner? mit Ihrer Bildung!« sprach die Hausfrau, und Bertram steigerte sich:

»Wie zehn Taglöhner, aus Bildung.«

»Mit diesen Händen?« Bertha sah bewundernd und Bertram sah verächtlich und grollend auf seine schmalen, wohlgepflegten Hände nieder.

»Die werden bald anders aussehen, die werden bald Schwielen haben, wie die deinen, Hugo. Wer keine Schwielen hat, kommt nicht in den Himmel, sagt Tolstoi.«

»Ach, Tolstoi,« flötete die Baronin, »der große Tolstoi, glauben Sie an ihn?«

Bertram war betroffen. Jetzt wußte sie auch von dem? Sollte sie ihre litterarische Unschuld verloren haben? Er scheute sich, Gewißheit zu erlangen über den heiklen Punkt und fuhr eifrig fort: »Ich will alles lernen, mähen, Garben binden, aufladen, pflügen, säen. Wonne und Erholung wird für mich sein, was Ihr schwere Arbeit nennt, weil Ihr die wirklich schwere nicht kennt.«

»Ein Vers,« rief Sieglindchen und verlor einen Augenblick alle Schüchternheit, »Das war ein Vers, Mama!«

»Ja wohl, mein Engel. O, sie hat ein Ohr!«

Sie hat sogar zwei Ohren und hübsch große, dachte Bertram und betrachtete sie mißtrauisch. Der Teufel soll mich holen, wenn die nicht dichtet.

»Wann bereisen wir meine Besitzungen, lieber Hugo?« fragte er.

»Morgen mit dem frühesten, natürlich.«

»Warum nicht gar schon nachts, wenn die Hähne krähen?« »Was halten Sie von Möricke?« interpellirte Frau von Weißenberg.

»Ich habe den größten Respekt vor ihm.«

Da fiel Hagen ein: »Respekt! Du wirst just Respekt haben vor so einem verschimmelten Pater. Überlasse die Heuchelei den Frauen, denen sie unabgeleistete Natur ist.«

»Unabgeleistete Natur?« wiederholte Bertram. »Oho! Du studirst Nietzsche?«

»Ich bet’ ihn an. Ich habe einen Gott gesucht und ihn in Nietzsche gefunden.«

»Hast Du? Wenn ich nur wüßte, der wievielte Du bist, von dem ich das höre.«

»Und wenn ich der zweite oder tausendste bin – seine Jünger sind wir alle. Das ist euch unheimlich, ihr Alten; das treibt euch alle Haare, die ihr noch habt, zu Berge.«

»Aber Hagen! aber Hagen!« hatte Weißenberg einmal ums andere, beängstigt und flehend gesagt und sich dabei nicht an den Sohn, sondern an den Instruktor gewendet. Der zuckte die Achseln:

»Es ist heute nichts mit ihm anzufangen, man muß ihn gehen lassen. Er produzirt sich, nicht bloß wie gewöhnlich vor dem Fräulein von Weißenberg, sondern auch vor Herrn Vogel.«

»Daneben geschossen, mein Lieber!« erwiderte sein Zögling. »Sich produziren! vor dir, Cousine! Als ob man das dürfte in seiner Gegenwart! Der girrende Ziska – eine neue Ziskaspecies, die girrende – brennt vor Eifersucht wie eine Pechfackel. Nicht wahr, Cousine?«

 

Gertrud hatte während dieses Intermezzos nicht mit einer Wimper gezuckt, nicht das geringste Zeichen von Ungeduld über das Jüngelchen gegeben, die mordbrennerischen Blicke, die Meisenmann ihr verstohlen zuwarf, ruhig ausgehalten. Und bei dem ehrfurchtsvoll auf sie gerichteten Blicke Bertrams wechselte sie wieder die Farbe und gerieth in Bestürzung. Wie sollte er sich das erklären? Was machte sie so verlegen vor ihm, sie, die den andern gegenüber wie eingefroren blieb in majestätische Gelassenheit?

VII

Das Mittagsessen war vorbei, die Tafel wurde aufgehoben. Herr Meisenmann machte eine rasche, aggressive Verbeugung, die ganz unverkennbar den Wunsch ausdrückte: Hol euch alle der Teufel! und schoß davon. Mit anmuthigem Neigen des Hauptes verließ auch Gertrud den Speisesaal. Geschah das freiwillig oder auf Befehl? Nahm sie im Hause nicht die Stellung eines Familienmitgliedes, sondern die einer Erzieherin ein, und durfte sie den geheiligten Raum des Rauchzimmers, in das man sich jetzt begab, nicht betreten?

Bertram führte die Baronin zu ihrem Platze. Das war ein rechtwinkliges kleines Kanapée mit dünnen Beinen und so steifen Lehnen aus politirten Stäbchen, daß es im Bereiche der Sitzmöbel schwerlich etwas Steiferes gab. Es stand vor einem Tische, auf dem der schwarze Kaffee und verschiedene Liqueurs servirt waren. Hugo bot dem Freunde Cigarren an, die er aus einer verschlossenen Lade geholt hatte.

»Vor dem da,« sagte er auf seinen Sohn deutend, »muß ich sie einsperren, er raucht mich sonst arm. Es sind meine Feiertagscigarren. Nimm, so nimm doch,« nöthigte er.

Bertram dankte: »Ich rauche nicht.«

»Rauchst nicht?«

»Nicht mehr.«

»Trinkst nicht, rauchst nicht,« sprach Weißenberg betrübt, »was thust du denn?«

»Ich spare, wie du weißt.«

Hagen, der schon eine schwere Cigarre angebrannt hatte, tippte mit dem Finger auf die kahle Stelle auf Bertrams Scheitel: »Trinkst nicht, rauchst nicht, eine Tonsur hast dir auch schon angeschafft, fehlt nur noch die Kutte.«

Sein Vater schob ihn etwas unsanft weg und entschuldigte sich bei seinem Gaste: »Wir gehen jetzt die Hunde füttern, sind gleich wieder da. Kommst du, Sieglinderl?«

Das Töchterchen hatte die Arme um die Taille ihrer Mutter geschlungen und fragte im Tone eines fünfjährigen Kindes: »Mama, darf ich Schifferl fahren?«

»Nicht unmittelbar nach dem Essen, mein Herzchen. Begleite jetzt den guten Papa und sieh zu, wie die Hündchen speisen. Dann kannst du Gertrud holen. Ich lasse ihr sagen, daß sie mit dir zum Fischerhause gehen und achtgeben soll, daß du nicht ins Wasser fällst. Du wirst ihr meinen Auftrag bestellen, ich weiß, mein Herzchen ist gewissenhaft.«

Mutter und Tochter umarmten einander, nahmen Abschied, als ob ihnen eine jahrelange Trennung bevorstände, und das Herzchen trampelte dem Vater nach.

Hagen hatte sein Mißfallen über die sentimentale Scene zwischen Mutter und Tochter in gewohnter Art durch ein mürrisches Gemurmel kund gegeben: »Kriegt man heute Kaffee oder nicht?« stieß er jetzt verdrießlich hervor.

Seine Mutter beeilte sich, ihm eine Tasse starken, aromatischen Mokkas einzuschänken, und er titulirte das köstliche Getränk, das reichlich aus der Kanne floß, mit dem beleidigenden Namen »Zwetschkenwasser.« Dann zog er sich mit seinen Vorräthen an Kaffee, Liqueur und Cigarren in die Ecke des Zimmers zurück, nahm dort Platz in einem großen Fauteuil und vertiefte sich in einen Band der Fliegenden Blätter. Sein Gemurmel hörte auch jetzt noch nicht auf: »Fliegende, sauberes Fliegen, sollten die kriechenden heißen. So dumm, zu dumm!« Plötzlich schwieg er, die Cigarre war ausgegangen, das Buch glitt von seinen Knieen zur Erde. Er schlief.

Seine Mutter hatte ihn voll Besorgniß beobachtet. Dieses »foudroyante Einschlafen,« wie sie sich ausdrückte, machte ihr unbeschreiblich bange. Es kam öfters über ihn, am Tage heißt das; bei Nacht hingegen, »floh der Schlaf seine Augen.« »O, es ist schwer!« Die Baronin seufzte, und das Kanapée, auf das sie sich setzte, seufzte auch.

Draußen erscholl lautes Hundegebell; die Thiere wurden nach der Abfütterung in den Garten hinaus gelassen. Bewegt und leise sprach die Baronin: »Mein guter Mann kommt zurück, und ich hätte Ihnen so gern … ich muß Sie sprechen.« Ihre mächtige Persönlichkeit bekam etwas gretchenhaft Hinschmelzendes: »Ich muß Sie sprechen, lieber Vogelweid, im Vertrauen sprechen.«

»Nun, gnädige Frau, ich bitte, thun Sie es doch.«

»Jetzt? nicht jetzt, später.«

»Warum erst später?«

Sie schwieg, aber ihre flehenden Augen fragten: Verstehst du mich denn gar nicht? »Kein Wort davon, vor meinem guten Manne,« begann sie nach einer peinlichen Pause wieder, »ich beschwöre Sie!«

Weißenberg trat ein, und Bertha bemühte sich ihn anzulächeln; der Versuch mißlang kläglich, und die der Verstellung ungewohnte Frau war auf dem Punkte, in Thränen auszubrechen. Ein Schatten überflog das runde, freundliche Gesicht Hugos. Er trat voll Theilnahme heran und keilte sich höchst liebreich, aber mit schwerer Mühe zwischen seine Gemahlin und die Seitenlehne des Kanapées ein.

Placirt wären sie, dachte Bertram, wie sie aber wieder aufstehen sollen, das weiß Gott.

»Mein Bertherl hat schon mit dir gesprochen, seh’ ich von unserem Kummer;« Hugo wies mit einer Kopfbewegung nach seinem laut schnarchenden Sohne hin. »Ach, der giebt uns was aufzulösen, der!«

»Ja,« betätigte die Baronin, »und wir haben auf Sie gewartet und gehofft, Sie werden uns rathen und helfen, ja, auch darin.«

»Du hast neulich,« sprach Weißenberg, »ein Buch über Erziehung total in den Grund gebohrt und seinem Autor, einem großen Professor, famos heimgeleuchtet. Meine Bertha und ich, wir haben gleich gesagt: Wer so versteht, daß der andere nichts versteht, der versteht selbst sehr viel.« Er ließ sich durch das betroffene: »O, Nemesis!« das Bertram ausstieß, nicht beirren: »Ja, du verstehst’s, hast recht, unsere Schulen taugen nichts. Wie ausgetauscht ist mein Bub, seitdem er in die Schule geht. Du mußt dich noch erinnern, was für ein lieber Kerl er vor vier Jahren war.«

»Gewiß. Etwas verzogen zwar schon damals, aber ein liebes Kind und voll Talent.«

»Talent! was das betrifft« – die Eltern überboten einander an Versicherungen, wie talentvoll, phänomenal talentvoll ihr Sohn sei, das wüßten sie wohl. »Aber,« meinte Weißenberg, »ein so starker Geist in einem noch unentwickelten Körper, das stimmt nicht. Die Mißstimmung ruft Nervosität hervor, und diese eine Menge kurioser Erscheinungen. Zum Beispiel heute sein Benehmen bei Tische. Deine Anwesenheit hat ihn aufgeregt, er wollte sich, wie Meisenmann ganz richtig sagte, vor dir produziren; du dürftest ihn für lümmelhaft gehalten haben, er war aber nur nervös.«

Die Baronin kam auf den Geist ihres Hagens zurück, den starken Geist, der Glück und Unglück in sich schließt, und verglich ihren Sohn mit einer Kerze, die einen Scheffel durchbrennt und dabei flackert und züngelt.

Bertram sagte, daß er den Scheffel nicht sehe, dem Gatten jedoch gefiel das Bild, und er preßte seinen linken Arm, der auf der Lehne des Kanapées ausgestreckt lag, sehr innig an den Rücken seiner Gemahlin. Ihr war furchtbar heiß, und ihr ästhetisches Gefühl litt unter dem Bewußtsein des unschönen Eindrucks, den die Einpferchung zweier dicker Personen in ein Sitzmöbel, das höchstens für zwei Elfengestalten berechnet war, hervorbringen mußte. So ließ sie denn die schüchterne Frage fallen, ob man nicht in den Garten gehen solle.

Weißenberg war dagegen: »Wir müssen ihm, bei dem wir Rath und Hülfe suchen, alles sagen, wir dürfen kein Geheimniß vor ihm haben, und so sollst du wissen, Freund, daß wir’s vor zwei Jahren in den Ferien mit Strenge versucht haben bei dem Burschen. Das war schrecklich, da hat sich die Nervosität bis zu Wuthanfällen gesteigert. Einmal lasse ich mich hinreißen und hau’ ihn, und er, auf mich losgegangen – ja! mit Augen wie rauchende Zündhölzeln, und dann plötzlich niedergestürzt, geschäumt und gezappelt. Wir, nach allen Richtungen um Ärzte ausgeschickt. Drei kommen. Zuerst zwei junge; die sehen ihn an und verordnen ein Gramm Bromnatrium drei Tage nacheinander vor dem Schlafengehen. Zuletzt kommt der Alte, der Kreisphysikus, schaut den Buben auch an und erklärt sich einverstanden mit der Verordnung der Kollegen. Eine Krähe hackt der andern die Augen nicht aus, denken wir, und wie die zwei jungen fort sind, sagen wir: ‘Wirklich, Herr Kreisphysikus, hätten Sie dem Patienten auch nichts anderes gegeben als Brom?’ Er – so scheint es uns wenigstens – verbeißt ein Lachen: ‘Vielleicht doch,’ sagt er, ‘wenn ich statt in ein Schloß in eine Hütte gerufen worden wäre. Aber hier würde das Medikament, das ich ordiniren müßte, kaum verabreicht werden.’ Mehr war aus ihm nicht herauszubringen. Verstehst du den Orakelspruch?«

»Ich glaube fast.«

»Nun denn, leg’ ihn aus und handle danach.«

»Ich?« fragte Bertram erschrocken, »das kommt mir nicht zu.«

»Wir geben dir unumschränkte Vollmacht. Nimm dich unseres Buben an, er ist unser Glück, der Stolz des Hauses.«

»Seien Sie für ihn ein Arzt der Seele! Sie haben doch auch eine große Vorliebe für dieses schöne Buch?« sagte die Baronin gepreßt, nicht nur im bildlichen Sinne, denn ihr Gemahl rückte jetzt mit äußerster Anstrengung auf seinem Sitze vor und legte die mühsam frei gemachte Rechte auf Bertrams Kniee:

»Hilf uns, du kannst, du verstehst alles, man sieht’s aus deinen Kritiken. Welche Vielseitigkeit! sagen wir immer, meine Frau und ich.«

»Im Tadeln,« erwiderte Bertram. »Die Kunst, alles zu tadeln, erlernt man in meinem Metier. Aber, die Kunst, es besser zu machen, natürlich nicht. So habe ich denn auch von Kinderzucht keinen Dunst, ausgemacht ist mir nur, daß die deine, lieber Alter, und die Ihre, gnädige Frau, nichts taugt.«

»Dieser Meinung sind wir selbst,« sprach Weißenberg kleinmüthig, »unsere Kinderzucht hat Mängel. Gieb sie an, sag’ etwas Positives.«

»Etwas Positives … Nun, wenn ich aufrichtig sein darf – diesen Mängeln abzuhelfen, scheint mir Hagens Lehrer nicht der rechte Mann.«

»Dich genirt der Czech und der Antisemit. Ja, Verehrtester, finde du mir heutzutage einen Lehrer, der nicht etwas ist, was er besser nicht wäre. Wir haben traurige Erfahrungen gemacht. Meisenmann hat Unarten, aber doch auch Qualitäten. Unterrichtet vorzüglich, ist famos in seinem Fache – Geschichte. Im Herbst wird er Professor am Gymnasium, und mit der Zeit ganz gewiß Direktor.«

»So? so!.. Das ist das Holz aus dem …« Ein neuer empörender Gedanke durchkreuzte Bertrams Hirn, eh’ noch der frühere ganz ausgesprochen war, und machte sich Luft in den Worten: »Und in deine Nichte ist er verliebt, der Mensch!«

Die Baronin lächelte sanft, Weißenberg massirte sein Kinn und war heiter. »Ja, der ‘Professor’ ist tüchtig verbrannt. Ob hoffnungslos? Jetzt hat’s freilich den Anschein. Doch wer weiß, was noch geschieht, wenn er sich nicht zu früh abschrecken läßt.«

»Und du würdest, und Sie, gnädige Baronin, würden zugeben, daß sie ihn nimmt?«

»Warum nicht? vorausgesetzt, daß er sie anständig versorgen kann,« sagte Hugo, und seine Gattin seufzte:

»Große Ansprüche darf sie nicht machen, die Arme.«

Schrecklich! Entsetzlich! Dieser Schwärmer sollte doch nur versuchen, sich um Euer Trampelgrundchen zu bewerben; er käme schön an. O gute Menschen, wo bleibt Eure Güte, wenn’s abwägen gilt zwischen einer armen Verwandten und Eurer Brut! dachte Bertram und rief: »Ich fasse dich, ich fasse Sie nicht, Frau Baronin. Dieses Mädchen würden Sie wegwerfen an einen bornirten, giftgeschwollenen Taboriten!«

»Gieb acht!« warnte Weißenberg mit einem besorgten Blick auf seinen Sohn. Es war zu spät. Hagen regte sich.

»Unsinn. Ich habe nicht geschlafen, ich habe nur die Augen zugemacht, ich habe jedes Wort gehört, das ihr geredet habt.«

»Was hast du gehört? sag’ es, wenn du nicht als Großsprecher dastehen willst,« sprach Bertram mit unterdrücktem Zorne.

»Du hast meinen Korrepetitor beschimpft, hast ihn einen giftgeschwollenen Taboriten genannt.« Der Stolz des Hauses erhob sich: »Das sag’ ich ihm!«

»Thu’s, ich gönn’ dir die Freude.«

»O, lieber Vogelweid, wohin denken Sie? Es fällt ihm nicht ein. Er liebt es nur, sich selbst zu verleumden. Auch eine seiner Eigenheiten,« versicherte die Baronin. »Aber,« fragte sie in plötzlich verändertem Tone: »Wollen wir nicht jetzt in den Garten gehen?«

Ihr Gatte erklärte sich einverstanden, beide erhoben sich rasch und zu gleicher Zeit, und das kleine Kanapée folgte demselben Impulse. Der kurzen Verlegenheitspause, die dadurch entstand, machte Bertram ein Ende, indem er hinzusprang, die Hände auf die Lehne des wanderlustig gewordenen Sitzmöbels drückte und es zwang, seinen gewohnten Platz wieder einzunehmen.