Za darmo

Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte

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Pfanner schwieg und saß wieder gerade auf seinem Sessel. Obernberger war betroffen.

„Ist das wahr?“ fragte er, und Georg beteuerte:

„Es ist wahr.“

„Hinaus!“ rief Pfanner ihm plötzlich zu und wies mit ausgestrecktem Arm nach der Küchentür.

Draußen stand die Mutter neben dem Herde und zitterte an allen Gliedern und fragte sich, was für ein neues Unheil über ihren Georg hereingebrochen sein möchte. Er lief auf sie zu, war bleich wie Wachs, und grünliche Schatten zogen sich längs der Nase zu den Mundwinkeln herab: „Mutter, Mutter!“ preßte er hervor, „was wird jetzt mit mir geschehen?“

In der Stube jedoch begab sich das Unerhörte. Pfanner entschuldigte seinen Sohn. Der Junge war schüchtern von Natur und nur zu sanft für einen Buben. Wenn er einmal losgeschlagen hatte, mußte er arg provoziert worden sein. Er sei auch absolut wahrhaft, versicherte der Vater, der ihn noch nie auf einer Lüge ertappt hatte.

„Können Sie das von Ihrem Pepi auch sagen?“ fragte Pfanner und setzte die gewisse, militärische Miene auf, die er sich angeeignet hatte, als er einst, nach wenigen Monaten seiner Dienstzeit, zum Korporal befördert worden war.

Der gutmütige Obernberger stand immer noch unter dem Eindruck, den die Todesangst auf dem Gesichte Georgs auf ihn gemacht hatte. Der große, breite Mensch schmolz in der Nähe des kleinen, hitzigen Pfanner ordentlich zusammen. Ein gewaltiger Schneemann in der Nähe eines Häufleins glühender Kohlen. Er hatte keine Ursache, sich auf die Wahrheitsliebe seines Pepi zu verlassen, und weil er das nicht eingestehen wollte, schwieg er.

„Fragen Sie Ihren Pepi aufs Gewissen, ob mein Sohn ihn wirklich ohne Grund geschlagen hat,“ sprach Pfanner. „Aug in Aug mit dem Buben, in unsrer Gegenwart soll er es ihm wiederholen. Tut er das, dann lade ich Sie zu einer Exekution ein, wie sie bei uns noch nicht stattgefunden hat, obwohl ich bei meinem Buben die Prügel nicht spare.“

Bei dieser Abmachung blieb es. Herr Obernberger, der als Richter gekommen war, verließ die Wohnung des Offizials mit dem Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben. Er achtete nicht auf die zwei, die sich tief verneigten, als er die Küche durchschritt. Georg lief ihm voran, öffnete mit demütiger Beflissenheit die Tür und murmelte:

„Verzeihen Sie mir, Herr Obernberger, verzeihen Sie mir,“ so leise, mit so von Scheu und Tränen erstickter Stimme, daß der in unangenehme Gedanken versunkene Fabriksherr nichts davon hörte.

Als Agnes und Georg das Zimmer wieder betraten, hatte Pfanner einen großen, mit Zahlen bedeckten Bogen vor sich liegen, den er mit äußerster Aufmerksamkeit durchsah. Georg holte seine Hefte herbei und machte sich an seine Arbeit. Eine halbe Stunde verging, ehe der Vater seinen Sohn ansprach, und dann – o Wunder! geschah es nicht einmal in unfreundlicher Weise. Er überzeugte sich, daß Georg beinahe fertig war mit seinen Aufgaben:

„Bist du aus Geschichte schon aufgerufen worden?“ fragte er.

„Noch nicht.“

„Merkwürdig. So spät?“

„Vielleicht morgen. Wir haben morgen Geschichte.“

„Nun, da kriegst du doch eine Vorzugsklasse?“

„Ich weiß nicht, vielleicht.“

„Du!“ schrie der Vater ihn an. „Weißt du, was das heißt, wenn du keine Vorzugsklasse kriegst? Weißt du, was ein ‚Genügend‘ dich kostet?“

„Ich weiß es,“ erwiderte Georg tonlos.

„Den Vorzugsschüler kostet's dich, fauler Bub!“

„Ich bin nicht faul, Vater.“

Der Vater hob namenlos erstaunt den Kopf. Sein friedfertiger Junge war heute der Held einer Prügelei gewesen, und jetzt vermaß er sich, ihm zu widersprechen. Was war vorgegangen? War in dem Jungen der Mann erwacht? Sollte er am Ende noch so schneidig werden, wie er sich ihn immer gewünscht?

Frau Agnes hatte ihre Hand auf den Arm des Sohnes gelegt, als er dem Vater widersprochen: „Um Gottes willen, Schorsch!“

„Still,“ herrschte Pfanner sie an, „laß ihn reden. Ich bin nicht faul, behauptet er. Also red, 's ist erlaubt, 's ist befohlen,“ drang er in ihn.

„Ich lern den ganzen Tag,“ sagte Georg. „Ich kann nicht mehr lernen als ich lern, ich weiß nicht, was ich anfangen soll, damit du zufrieden bist.“ Die Tollkühnheit der Verzweiflung kam über ihn, und er wagte hinzuzusetzen: „Andre Eltern sind schon zufrieden, wenn ihre Kinder ‚Genügend‘ bekommen, und ich soll lauter ‚Vorzüglich‘ und ‚Lobenswert‘ haben … Und ich soll mich schinden … Und ich …“ Er konnte nicht weiter reden, rang die Hände, schlug mit der Stirn auf den Tisch und wand sich in einem Schmerze, über den der Vater selbst erschrak. Zum erstenmal im Leben fühlte er sich ratlos dem Kinde gegenüber.

„Ich hab schon ein ‚Genügend‘ in Griechisch!“ schrie Georg in pfeifenden, gequetschten Tönen. „Wenn ich noch ein ‚Genügend‘ bekomme, bin ich kein Vorzugsschüler mehr. Und ich bekomm gewiß noch ein ‚Genügend‘ …“

Das war zu viel. Die Worte machten der Langmut Pfanners ein Ende. Alles in ihm, das ein bißchen weich zu werden begonnen hatte, erstarrte wieder:

Kein Vorzugsschüler mehr! Dieser Bub, der die Fähigkeit besaß, einen Platz unter den Ausgezeichneten zu behaupten, wollte durch die Schule kriechen mit dem großen Heer der Mittelmäßigen? Pfui über den Buben!

„Du bleibst Vorzugsschüler, oder ich geb dich zu einem Schuster in die Lehr.“

„Tu's, Vater, tu's! Aber warum grad zu einem Schuster!“ erwiderte Georg außer sich. „Du kannst mich auch zu Herrn Obernberger geben, und ich werd ein Kunstschlosser … Oder auch mit Musik kann ich mein Brot verdienen …“

„Georg, Georg, um Gottes willen!“ wiederholte die Mutter. Sie sah ihren Mann fahl werden vor Wut, sah seine Fäuste sich ballen:

„Musik? gut, gut! Ich kauf dir einen Leierkasten, kannst in den Häusern orgeln und auf die Kreuzer warten, die sie dir aus den Fenstern werfen.“

Georg preßte das Kinn auf die Brust und starrte zu Boden.

Pfanner sprang auf und führte einen schweren Schlag auf den Nacken des Kindes: „Kein Wort mehr! Und – das merke, komm mir nicht noch einmal mit einer schlechten Note nach Hause. Untersteh dich nicht!“

„Nein, nein,“ murmelte Georg. Er war jetzt ganz furchtlos. Um so besser, wenn er nicht mehr nach Hause zu kommen braucht. Der Vater wird sich nicht mehr über ihn ärgern, und die Mutter nicht mehr quälen um seinetwillen. Wäre er doch nicht auf die Welt gekommen … – oder wäre er schon draußen – wäre er tot!

Am nächsten Morgen war der Vater von einer furchtbar dräuenden Schweigsamkeit. Die dunkeln Ringe unter seinen geröteten Augen, bei ihm das sicherste Zeichen einer schlaflos durchwachten Nacht, gaben ihm das Aussehen eines Kranken. Er frühstückte hastig, nahm seine Schriften unter den Arm, setzte den Hut auf und verließ das Zimmer, ohne den Gruß seiner Frau und seines Sohnes zu erwidern. Man hörte ihn die Küchentür zuschlagen, daß sie dröhnte.

Georg ordnete die Hefte und Bücher in seiner Schultasche, war fertig, nahm Stück auf Stück wieder heraus, ordnete alles von neuem, langsam und bedächtig. Die Mutter mahnte zur Eile. Er ließ plötzlich alles liegen und stehen und warf sich ihr in die Arme, und sie drückte ihn an ihr Herz. Sie sprachen nicht, es kam keine Anklage über ihre Lippen, aber glühend brannte sie in ihren Herzen. Wie glücklich könnten sie sein, sie zwei, wie glückselig, wenn der Ehrgeiz des Vaters nicht wäre, der blinde, törichte, der vom Apfelbäumchen, das ihm Gott in seinen Garten gepflanzt, die Triebkraft der Eiche verlangte.

Dreimal schon hatte Georg Lebewohl gesagt und brachte sich noch immer nicht fort.

„Du kommst zu spät, Schorschi,“ sagte Frau Agnes. „Lauf jetzt, lauf! Und sei nicht so traurig,“ fügte sie hinzu und strich ihm über die Wangen.

„Du bist selbst traurig,“ antwortete er.

„Ach – das vergeht, bei der Arbeit vergeht's.“

„Also adieu,“ sagte er und schritt resolut der Tür zu, und über die Treppe hinab bis zum ersten Stockwerk. Dort blieb er stehen, besann sich, kehrte plötzlich um und stürmte in raschen Sätzen wieder zurück, und wie er oben ankam, sah er die Mutter vor der Wohnungstür stehen, auf derselben Stelle, bis zu der sie ihn begleitet hatte.

„Was gibt's?“ fragte sie wie aus dem Schlaf auffahrend, warf den Kopf zurück und bemühte sich, eine strenge Miene anzunehmen. „Hast was vergessen?“

„Ich hab dir ja nicht ordentlich Adieu gesagt,“ und er fiel ihr um den Hals und küßte sie mit stürmischer Zärtlichkeit.

In der Schule kam er zu spät. Der erste Vortrag hatte schon vor einer Viertelstunde begonnen, als er eintrat und sich auf seinen Platz setzte.

„Wo steckst denn?“ raunte der Nachbar ihm zu. „Du bist aufgerufen worden und warst nicht da.“

„Unglück, Unglück,“ murmelte Georg und gab sich alle erdenkliche Mühe, aufmerksam zuzuhören. In seinem Kopfe ging es sonderbar zu. Es summte und hämmerte darin, und der Stimme, die vom Katheder zu ihm herübertönte – sonst eine laute, kraftvolle Stimme –, fehlte der Klang. Die Worte, die sie sprach, waren nicht artikuliert, flossen ineinander wie Wellen … Noch etwas Sonderbares! der breite Saal schien sich zu verlängern ins Unglaubliche. Es war kein Saal mehr, es war ein langer Gang, von merkwürdig kaltem, weißem Licht erfüllt, und ganz weit am Ende stand ein schwarzer Strich auf einem Piedestal. Georg mußte mit Gewalt alle seine Denkkraft zusammen nehmen, um sich klar zu machen: das ist der Herr Professor, der einen Vortrag hält.

Er schloß die Augen, lehnte sich zurück und dachte: Ich werde heute nicht lernen können. Nach einer Weile aber wurde es besser, er vermochte sich aus dem unheimlich traumhaften Zustand, in den er geraten war, heraus zu reißen. Der zweite Vortrag hatte begonnen. Der jetzt sprach, war ein sehr beliebter, von der ganzen Schule verehrter Lehrer, der Professor der Geschichte. Er hatte einen sonst kaum mittelmäßigen Schüler aufgerufen, und der bestand mit Ehren. Georg folgte. Ach! wenn er auch so viel Glück hätte wie sein Vorgänger. Es schien beinahe. Der Professor prüfte aus dem unlängst von Georg Wiederholten und sagte:

 

„Gut, bis auf zwei Jahreszahlen. Sie bekommen ‚Lobenswert‘. Ich möchte Ihnen aber gern ‚Vorzüglich‘ geben können und stelle deshalb noch einige Fragen. Nennen Sie mir alle deutschen Kaiser bis zu Rudolf dem Ersten.“

Das war keine sehr schwere Frage. Voll Zuversicht begann er sie zu beantworten und gelangte glorreich bis zu Otto III. Da verriet ihn sein Gedächtnis – er ließ den gelehrten und frommen Kaiser ein hohes Alter erreichen und Heinrich II. den ersten Salier sein.

Der Professor zuckte bedauernd die Achseln und unterbrach ihn: „Das geht nicht gut. – Etwas andres! Erzählen Sie mir die Geschichte von Konradin.“

O – die wußte er! die hatte er seiner Mutter erzählt; so rührend, daß sie dabei weinen mußte. Konradin war ja – nun ja – war ja König Enzio … Oder nein, richtig – Enzio war Konradin …

Ein kaum unterdrücktes boshaftes Kichern erhob sich, der Pepi lachte ihn aus. Die Augen des Professors hefteten sich fest auf ihn. Er verstand, daß diese guten, wohlwollenden Augen ganz besorgt fragten: „Sind Sie bei Trost?“

Er hätte schreien mögen: „Nein! ganz verwirrt und konfus bin ich!“

„Sie tun mir leid,“ sprach der Professor, „aber – sagen Sie selbst – welche Klasse haben Sie verdient?“

Georg flüsterte etwas völlig Unverständliches. Dem Lehrer schien, es sei ein Dank gewesen. Der Junge wußte heute nichts, erriet aber viel, erriet das innige Mitleid, das er seinem Lehrer einflößte.

Ehe der dritte Vortrag begann, verließ er die Schule und ging langsam die Straße hinab. Es war ein Frühlingstag mit sommerlichem Sonnenschein, der Himmel wolkenlos, die Luft noch frei von Staub und Dunst. Georg schritt mit weit aufgerissenen, verglasten Augen zwischen den Menschen dahin, die sich in der Hauptverkehrsstraße der Vorstadt drängten. Einem oder dem andern fiel auf, wie sonderbar „verloren“ er aussah. Keiner hatte Lust und Zeit, ihn zu fragen, was ihm sei. Ein Tischlerjunge nur, der einen Handwagen schleppte, und an den er angestoßen war, rief ihm zu:

„Hüo! wo hast dein Schädel? Anbaut mit samt der Mitzen?“

Unwillkürlich griff Georg nach seinem Kopfe. Er war barhaupt, hatte seine Mütze in der Schule gelassen, und auch seine Lernsachen. Daran lag aber nichts. Ihn würde niemand nach ihnen fragen. Er konnte ja nicht mehr heim. „Komm mir nicht nach Hause mit einer schlechten Note!“ Diese Worte dröhnten unablässig an sein Ohr. Jetzt mußte er sie bekommen, die schlechte Note, die erste, wirklich schlechte. Was würde der Vater jetzt mit ihm tun? Und wie würde die Mutter sich kränken … Nein, nein, Vater und Mutter, er wagt es nicht, er kommt nicht mehr zurück, er geht, wohin schon mancher unglückliche Schüler gegangen ist: in die Donau. Und dieser eine Gedanke, je länger er ihn vor sich sah, als das Unabwendbare, Einzige, je mehr befreundete er sich mit ihm. Dieser Gedanke mit dem dunklen Kerne hatte eine blendende Atmosphäre und fing an, eine große Helligkeit zu verbreiten. Er gestaltete sich jetzt so: „Ich muß in die Donau, ich will aber auch, und gern. Wie gut ist es, tot zu sein, nicht mehr hören müssen: Lern! Wie gut auch, wenn es keinen Zwiespalt mehr zwischen den Eltern gibt. Aber du begehst einen Selbstmord,“ fuhr es ihm durch den Sinn, „und ein Selbstmord ist eine Todsünde.“ Ihn schauderte. „Lieber Gott! Allgütiger!“ stöhnte er und blickte flehend zum Himmel empor. „Rechne mir meinen Tod nicht als Sünde an! Ich will keine Sünde begehen, ich will sterben für den Frieden meiner Eltern. Mein Tod ist ein Opfertod.“

Ein Opfertod!

An dieses Wort klammerte er sich; es brachte ihm Trost. Er verwandelte die Tat der Verzweiflung in eine Heldentat und schwerste Schuld in ein Märtyrertum. Es ging auf vor dem armen, irrenden, suchenden Kinde wie ein Stern in der Nacht. Keine Erwägung, keine Überlegung, kein Zweifel mehr, nicht die geringste Fähigkeit, sich etwas andres vorzustellen, nur die rasende, unbezwingliche Sehnsucht, Erlösung zu erfahren und Erlösung zu bringen.

Er war am Ende der Straße angelangt, bog in die Seitengasse ein, die auf den Kai mündete. Bleierne Müdigkeit lag ihm in den Gliedern, sein Kopf brannte und schmerzte bis zur Bewußtlosigkeit. Die Donau, die ist ein kühles, weiches Bett, da findet man Ruhe und Labung. Nur sie erreichen, nur bis zu ihr hinkommen! Eine dumpfe Angst: „sie mißgönnen mir die Erlösung, sind hinter mir, verfolgen mich,“ jagte ihn vorwärts. Er begann zu laufen, und dabei schien ihm, daß er immer auf demselben Fleck bliebe. Das war fürchterlich, noch einmal einen so argen Kampf mit dem Unüberwindlichen kämpfen zu müssen.

„Wohin? Was sind Sie so eilig?“ sprach eine wohlbekannte Stimme ihn an. Der Hausierer stand vor ihm.

„Du?“ sagte er, „du Salomon?“

Ein wenig Zeit nahm er sich zum Abschied von dem Armen. Auch der war elend, dem es Seligkeit gewesen wäre, in der Schule zu sitzen, aus der Georg entflohen war, und der auf und ab wandeln mußte vom frühen Morgen bis in die späte Nacht in Staub und Sonnenbrand, und sah so krank aus, und seine schmächtige Gestalt war schon ganz schief vom Tragen des schweren Warenkastens. Ja, ja, wem zu Schweres auferlegt wird, der verkrüppelt. Armer Salomon, den der Wachmann aufscheucht und einzuführen droht, wenn er ganz erschöpft einige Augenblicke auf einer Bank ausruhen möchte. Fort, fort auf müden Füßen in den ausgetretenen, geplatzten Stiefeln … Georgs Blick glitt über sie hinweg, und plötzlich beugte er sich, zog rasch seine neuen Halbschuhe aus und legte sie auf den Warenkasten.

„Nimm sie, ich brauche sie nicht mehr,“ sprach er und – lachte. Ja, wahrhaftig, Salomon schwor später darauf, daß er gelacht habe, und wie unaussprechlich schmerzvoll dieses Lachen geklungen, kam ihm erst später zum Bewußtsein, nachdem alles vorüber war. Zuerst in seiner freudigen Verblüffung hatte er nur Augen für die schönen, guten Schuhe, die ihm wie aus dem Füllhorn des Glückes zugefallen waren. Als er sich besann, daß Georg seine Schuhe gar nicht verschenken dürfe, und wohl nur einen Spaß mit ihm gemacht habe und er sich umsah und rief: „Junger Herr! junger Herr!“ – drang schon lautes, vielstimmiges Geschrei an sein Ohr: „Im Wasser!“ – „Hineingesprungen!“ – „Hilfe! Hilfe!“ Von allen Seiten stürzten sie herbei, rannten, krochen die steile Böschung hinab, standen mit vorgestreckten Hälsen, Entsetzen oder stumpfsinnige oder abscheuliche Neugier in den Gesichtern, und deuteten: „Da! dort! Siehst ihn?“

Anstalten zur Rettung wurden getroffen – vergebliche. Eine Stromschnelle hatte den schwimmenden Körper erfaßt und häuptlings an einen Brückenpfeiler geschleudert.

Mit gellenden Wehrufen drängte sich Salomon durch die Menge zum Ufer hin. Die Schuhe hatte er von sich geworfen, streute seine Waren im Laufe achtlos aus … Gott! Gott! Ins Wasser gesprungen – in den Tod gegangen, der, den er bewundert hatte und beneidet, und der immer so gut gegen ihn gewesen war.

Pfanner hatte einen schweren Entschluß gefaßt und ausgeführt. Er war zum Direktor des Gymnasiums gegangen, um Georg seiner Nachsicht zu empfehlen. Vor wenigen Tagen noch würde er einen solchen Schritt für unmöglich gehalten und geglaubt haben, sich und Georg durch ihn zu erniedrigen.

Mit so viel Wärme und Verbindlichkeit, als ihm irgend zu Gebote stand, sprach er die Bitte aus, seinen Sohn nachsichtig zu klassifizieren, wenn der Bursche auch in letzter Zeit etwas nachgelassen habe im Fleiße. Sein Vater bürgte dafür, daß es von nun an besser werden sollte.

„Nachgelassen im Fleiße?“ Das war dem Direktor neu. So viel er wußte, hatte noch keiner der Professoren sich über Georgs Mangel an Fleiß beklagt. „Ich wäre froh“, sagte er, „wenn ich allen Eltern so Gutes über ihre Söhne sagen könnte, wie Ihnen über Georg. Er ist bei sämtlichen Lehrern vortrefflich angeschrieben, sehr brav und auch durchaus nicht unbegabt“ …

„O, das glaub ich!“ warf Pfanner hochfahrend ein.

„Durchaus nicht unbegabt,“ wiederholte der Direktor kühl, „aber auch nicht ungewöhnlich begabt. Ich fürchte, daß Sie zu viel von ihm verlangen, ihm eine größere Leistungsfähigkeit zutrauen, als er besitzt. Wenn Sie ihn zwingen, seine Kräfte zu überspannen, ruinieren Sie ihn.“

Der Offizial kam tief niedergeschlagen ins Bureau. So verlangte er also zu viel von seinem Buben, so ruinierte er ihn, so sollte Georg nur mittelmäßig begabt sein? Er glaubte es nicht. Diese Schulleute irren so oft. Wie viele, von denen ihre Lehrer nichts gehalten, sind große Männer geworden. Er ging an seine Arbeit, vergrub sich in sie, suchte Rettung in ihr vor dem schweren Drucke, der ihm auf dem Herzen lastete.

Gegen Mittag meldete ihm der Bureaudiener, es sei jemand da, der ihn sprechen wolle. Auf dem Gange erwartete ihn Frau Walcher in einem Zustand furchtbarer Zerstörtheit. Etwas Entsetzliches sei geschehen, stotterte sie, das Ärgste, das man sich denken könne. Er solle nur gleich mit ihr kommen.

„Was ist das Ärgste?“ fuhr er sie an. „Was ist's mit meinem Buben?“

Ihre Antwort war eine Gebärde der Verzweiflung.

Dem Liebling des Gymnasiums wurde ein feierliches Leichenbegängnis bereitet. Alle Professoren, alle Schulkameraden beteiligten sich daran. Meister Obernberger folgte dem Zuge, weinend wie ein Kind, und sein Pepi hatte heute allen Hochmut abgetan.

Der Vater schritt in guter Haltung hinter dem Sarge. Jedes Wort, das am Grabe zum Preise seines Sohnes gesprochen wurde, schien ihm wohl zu tun, während die Mutter immer tiefer in sich zusammensank.

„Am besten für sie wär's,“ sagte schwerbekümmert Frau Walcher zu ihrem Manne, „wenn man sie gleich mitbegraben könnt.“

Die zwei Ehepaare traten die Rückfahrt im selben Wagen an. Pfanner und seine Frau wechselten nicht eine Silbe. Einer wich scheu dem Blick des andern aus. Daheim angelangt, gab Agnes den dringenden Bitten der Freundin, zuerst bei ihr einzutreten, nach.

„Da hat sie doch ein paar Stunden Frieden,“ dachte die Getreue.

Als der Abend kam und die gewohnte Pflicht sie rief, ging Agnes mechanisch daran, das Abendbrot zu bereiten. Sie betrat das Zimmer, um die Lampe anzuzünden. Aber Pfanner hatte das schon selbst getan. Die Lampe brannte auf dem Tische, und dort lagen die Bücher und die Mütze, die der Schuldiener zurückgebracht hatte. Vor sich aufgeschlagen hatte Pfanner ein dünnes Büchlein – das Vermögen des Kindes, das guldenweise zusammen gesparte. Und in der gebrochenen Gestalt, die da saß und die Gegenstände alle betrachtete, drückte eine herzzerreißende Trostlosigkeit sich aus. Was ging jetzt vor in dieser Seele!

Agnes kam leise heran.

Die Frau, die er zermalmt und zertreten und zu einer dienenden Maschine herabgewürdigt hatte, fühlte sich in diesem Augenblick als die Größere und Stärkere und, im Vergleiche zu ihm – die Glückliche. Sie durfte ihres Kindes ohne Selbstvorwurf gedenken, von ihr hatte es mit zärtlicher Liebe Abschied genommen.

„Pfanner,“ sprach sie.

Er fuhr auf und starrte sie an mit Entsetzen. Wollte sie Rechenschaft von ihm fordern? Seine Lippen zuckten und zitterten, er brachte keinen Laut hervor. Etwas Greisenhaftes lag in seinen entstellten Zügen.

Da wich der Haß, da schwieg jeder Vorwurf. Sie näherte sich langsam und sagte:

„Du hast ja nur sein Bestes gewollt.“

Überrascht in demütiger Dankbarkeit nahm er ihre beiden Hände, legte sein Gesicht hinein und schluchzte.