Dunkelsonne

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Sonntag, 15. Juni 2014

Greta schielte zum Radiowecker, der an der Kopfseite des Hotelbettes eingebaut war. 10:14 Uhr. Kalle schnarchte noch selig. Wie kann man bloß dermaßen laut sägen! Dem Geräuschpegel nach müsste er mindestens schon das Fichtelgebirge abgeholzt haben, dachte sie amüsiert. Auf leisen Sohlen schlich sie ins winzige Badezimmer, um zu duschen und sich fertig zu machen. Heute war Abreisetag, da musste das Hotelzimmer bis 12 Uhr geräumt sein.

Beim Eincremen bemerkte die attraktive Mittvierzigerin, dass sich an der Innenseite ihrer Oberschenkel mehrere blaue Flecke befanden. Die auffälligen Liebesmale zeugten vom heftigen Sex der letzten Nacht.

Meine Güte, hat der mich hergenommen! Supergeil, keine Frage … aber wird Dirk womöglich die richtigen Schlüsse ziehen, wenn er die Bescherung sieht? Apropos Dirk … seltsam, dass er sich seit Freitagabend gar nicht mehr über Whatsapp gemeldet hat, obwohl ich ihm ein paar Fotos vom Strand und der Kathedrale geschickt hatte. Ob er wohl schon was ahnt? Hoffentlich nicht, das wäre viel zu früh!

Die Schnarchgeräusche verstummten, das Bett knarzte. Kalle räkelte sich, gähnte herzhaft.

»He, wo bist du denn hin? Komm wieder her, du kannst doch nicht sangund klanglos abhauen. Wir haben über eine Stunde Zeit bis zum Auschecken. Ich möchte noch eine Runde schmusen«, maulte er verschlafen.

Doch Greta war für Liebesspiele nicht in Stimmung, befand sich seelisch in einem Zwiespalt. Ihr graute vor jenem Augenblick, da sie Dirk in die Augen sehen und ihn erneut anlügen musste. Und der drohte bereits am heutigen Abend.

Unbeirrt setzte sie ihre Körperpflege fort, zog ein schenkellanges Hemdchen über und kehrte widerwillig ins Zimmer zurück. Dort ging sie schnurstracks zum Kleiderschrank, um ihren kleinen Koffer zu bestücken.

»Ich sehe schon, du hast Appetit aufs Frühstück und nicht auf mich. Aber ein kleiner Gute-Morgen-Kuss wird doch wohl noch drin sein?«, schmollte Kalle.

Er bekam ihn, allerdings nur in flüchtiger Ausführung. Dann setzte sie sich neben seinem massigen Körper auf die Matratze und streichelte seinen Rücken, was ihn wohlig brummen ließ. Er roch beißend nach Schweiß. Sie musste ihn ablenken, ansonsten wäre ihre Duschund Schminkaktion für die Katz gewesen.

»Was ich dich eigentlich neulich schon fragen wollte: Hast du dir diese riesigen Tattoos auf Oberarm und Rücken extra wegen deiner Biker-Bar stechen lassen? Sie sehen frisch aus, sind allerdings für meinen Geschmack ein wenig zu groß geraten.«

»Die mussten so flächig werden, sind Cover-Ups«, murmelte er einsilbig, während er mit einem Fuß nach seinen Boxershorts angelte.

»Cover-Ups? Du meinst, da waren vorher andere Motive zu sehen, und die sind mit schwarzer Farbe überstochen worden?«

»Genau.«

Greta ließ nicht locker, ihr Interesse war geweckt.

»Und darf man erfahren, welche albernen Jugendsünden da so sorgfältig überdeckt werden mussten?«, grinste sie.

Der Biker seufzte, eine steile Stirnfalte bildete sich zwischen seinen buschigen Augenbrauen.

»Na schön, du wirst es ja doch irgendwann erfahren. Vielleicht ist es besser, wenn du vorgewarnt bist. Man weiß nie. Also, bis Anfang des Jahres gehörte ich einem großen Motorradclub an. Die Jungs und ich pflegten eine super Kameradschaft und alles war so, wie es sein sollte. Die Geschäfte liefen gut. Bis sich vor drei Jahren eine Art Sub-Club des Charters Nürnberg gebildet hat. Die elf Ausländer in unseren Reihen meinten, ihr eigenes Süppchen kochen zu müssen und spalteten sich ab. Seither residieren sie drüben in Schwabach. Die funkten uns bald überall dazwischen und rekrutierten ständig neue Mitglieder.

Es gab von Anfang an Konkurrenz, die sich irgendwann in reine Feindseligkeit verwandelte. Und die ist, na ja, mit der Zeit so richtig ausgeartet. Sie haben in unserem Revier gewildert. Es ging um viel Geld, und da hört bekanntlich jede Freundschaft auf. Außerdem hatten sie mit unseren Clubidealen nicht viel am Hut. Sie waren ihre Patches nicht wert, wenn du verstehst.«

»Und deshalb bist du ausgestiegen?«

»Ähm … ja, letzten Endes schon. Aber zuvor gab es noch einen Eklat. Ich wusste, dass ein Angriff auf das Clubheim der Anderen geplant war. Mit Brandsätzen, Pumpguns und allem, was dazu gehört. Es hätte mit einiger Sicherheit Tote und Verletzte gegeben. Mir ging die Aktion viel zu weit, also fuhr ich hin und warnte die Kanaken.«

»Du hast deinen Club verraten?«, fragte Greta ungläubig. Kalle wurde zornig.

»Was heißt hier verraten … bei der Aktion hätten auch Leute von uns draufgehen können, Mensch! Außerdem weißt du sicher aus der Glotze, wie sowas läuft. Die hätten doch hinterher auf Rache gesonnen und bei uns alles platt gemacht.«

»Und sie sind draufgekommen, dass du der Maulwurf warst?«

»Nicht von selbst, nein. Eines dieser ultrafeigen Arschlöcher vom Kanakenclub hat es dem Präsi gesteckt, nachdem sie unser Clubheim im Februar gründlich durch die Mangel gedreht hatten. Diese Schweine haben sich nicht an die Abmachung gehalten. So viel zur Dankbarkeit.«

»Oh je … «

»Das kannst du laut sagen. Ich wurde grün und blau geprügelt, außerdem haben sie meine Clubtattoos geschwärzt. Nun darf ich mich in Nürnberg nicht mehr blicken lassen. Mein Klingelschild an der Wohnung ist bereits abgenommen, wie du wahrscheinlich bemerkt hast. Jeder Schritt durch die Wohnungstür bedeutet Gefahr. Unter anderem deshalb will ich so schnell wie möglich das Land verlassen. Den Job im Motorradladen habe ich auch schon gekündigt.«

»Und nachdem deine Verletzungen verheilt waren, hast du die hässlichen schwarzen Flecken einfach zu Sonnensymbolen umarbeiten lassen«, sagte Greta verstehend. »Welchem Rockerclub gehörtest du überhaupt an?«

»Das tut hier nichts zur Sache. Weiber müssen sowieso nicht alles wissen«, grummelte Kalle und verschwand mit verkniffener Miene im Bad.

Raue Schale – weicher Kern, ich wusste es. Eigentlich ist er ein Held, eine Art Ritter auf einer Harley Davidson, sinnierte Greta voller Bewunderung. Sein Vertrauen ehrte sie, er hatte sein wohl größtes Geheimnis mit ihr geteilt. Ein Gefühl von verschworener Zusammengehörigkeit machte sich in ihr breit.

Sie zog sich Tanktop und Jeansshorts über, um nachher beim Putzen nicht wieder völlig overdressed zu sein, und quetschte den Rest ihrer Habseligkeiten in den pinkfarbenen Koffer. Nun freute sie sich doch auf die letzten Stunden dieses kurzen Arbeitsurlaubs. Ihr Blick fiel aufs Badezeug.

»Was ist, gehen wir nachher noch für ein Stündchen gemeinsam im Meer baden? Ich habe meinen Bikini mitgebracht«, rief Greta fröhlich.

»Nee, das lassen wir bleiben, schon weil ich nie schwimmen gelernt habe. Wir sollten bis zum Abend lieber noch möglichst viel im Lokal abarbeiten, die restliche Zeit effektiv nutzen. Die Maschine der Ryan Air geht erst um 20:50 Uhr.«

»Und du kannst wirklich nicht schwimmen? Wie das?«

»Meine Eltern haben wohl so Manches versäumt. Sorry!«

*

Hand in Hand tappten die Passagiere Manz und Lindenhardt im Nieselregen am Flugfeld entlang, zogen ihre Handgepäckkoffer hinter sich her. Die Kofferrollen klangen dumpf auf dem Asphalt. Es kam beiden unwirklich vor, dass sie vor wenigen Stunden noch in der Sonne geschwitzt hatten.

Sie erreichten das hell erleuchtete Terminal.

»Gottverdammte Billigflieger! Man bekommt nicht einmal ein Gateway zur Verfügung gestellt, muss durch den Regen latschen und Treppen steigen«, schimpfte Greta.

»Wirst du abgeholt?«, fragte Kalle beiläufig.

»Zum Glück nicht. Ich habe Dirk erzählt, dass Silke ihr Auto im Parkhaus abstellt und mich nach Hause bringen wird. Er gab sich zufrieden, weil er ein wenig nachtblind ist und in der Dunkelheit äußerst ungern Auto fährt. Ich nehme ein Taxi und lasse mich eine Querstraße weiter absetzen, da sollte der Schwindel nicht auffallen.«

»Prima. Dann muss ich jetzt deine Hand noch nicht loslassen. Trinken wir zum Abschluss zusammen ein Bierchen, wenn wir aus dem Sicherheitsbereich sind?«

»Ein schnelles sollte gehen«, lachte Greta. Auch sie verspürte keine Lust auf ein allzu abruptes Ende dieses Wochenendtrips. Bald würde sie zu Hause ankommen, sich Dirks Fragen stellen müssen, ohne sich zu verplappern. In ihrer Magengrube breitete sich schon vorab ein mulmiges Gefühl aus, da konnte beruhigender Gerstensaft nur verbessernd wirken.

Im Gleichschritt durchquerte das Paar unbehelligt den Zollbereich und betrat die Ankunftshalle durch die gläserne Schiebetür. Sie öffnete und schloss sich automatisch. Eine Traube aus wartenden Angehörigen hatte sich vor dem Absperrgitter versammelt, alle wollten ihre Liebsten in die Arme schließen.

Greta bemerkte ihn erst, nachdem es bereits zu spät war. Sie ließ die Hand ihres Begleiters so rapide los, als sei sie aus weißglühendem Stahl. Gleichzeitig rückte sie ein Stück von ihm ab und versuchte krampfhaft, ihre Bestürzung zu verbergen.

Schweißausbruch, Kloß im Hals.

Sie setzte ein künstliches Lächeln auf, steuerte direkt auf Dirk zu.

»Hallo Schatz! Das ist aber eine nette Überraschung!« Seine Miene wirkte wie versteinert.

»Na, wo hast du Silke gelassen?«, fragte er süffisant, während er aus dem Augenwinkel Manz musterte, der die Situation überrissen hatte und einfach im Schlenderschritt weiter in Richtung des Ausgang spazierte.

Oh Gott … er weiß es! Jetzt nur keinen Fehler machen!

»Ich war alleine unterwegs. Das mit Silke habe ich nur erfunden, damit du dir keine Sorgen um mich machst. Aber wie du siehst, bin ich wohlbehalten zurück.«

 

Dirks blassblaue Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Tief traurig blickte er in die ihren.

»Ich habe euch schon von weitem gesehen, weil die Schiebetür immer wieder aufging. Bitte lüge mich kein zweites Mal an, das habe ich nicht verdient. Egal ob du den Typen mit der Lederjacke erst auf Mallorca kennengelernt hast oder bereits mit ihm dorthin gereist bist – sei bitte wenigstens jetzt ehrlich zu mir«, verlangte er. Seine Stimme drohte zu versagen.

Greta seufzte, straffte ihren Rücken.

»Lass uns erst einmal nach Hause fahren. Es ist nicht ganz so, wie du vielleicht denken magst. Wir sprechen uns aus und dann sehen wir weiter, ja?«

Dirk nickte achselzuckend, vermied es, sie weiterhin anzusehen. Ihren Koffer musste sie selbst tragen. Schweigend trottete das Ehepaar nebeneinander her zum Parkhaus. Greta steuerte den BMW nach Hause, überlegte beim Fahren, wie sie ihrem Ehemann die für ihn bittere Wahrheit schonend beibiegen sollte. Es gab keine Paradelösung.

Malte und Sascha lagen zum Glück bereits schlafend in ihren Betten. Sie drückte jedem einen zarten Kuss auf die Stirn, stellte ihr Köfferchen ins Schlafzimmer. Dort war Dirk bereits dabei, mit fahrigen Bewegungen sein Bettzeug zusammenzuraffen und ins Gästezimmer zu tragen.

Zehn Minuten später trafen sie sich im Wohnzimmer, wo der gehörnte Ehemann sich entgegen sonstiger Gewohnheiten erst einmal drei doppelte Jägermeister hinunterkippte. Die Lage war unverkennbar ernst. Greta hatte sich daher schweren Herzens entschlossen, ihm fast alles wahrheitsgetreu zu erzählen. Sie ließ lediglich die Information weg, dass sie darüber nachdenke, mit ihrem Geliebten im Herbst auf die Insel zu ziehen. Das wäre zu viel an Hiobsbotschaften gewesen. Er sollte sich erst in Ruhe an den Gedanken einer Trennung gewöhnen können.

Am Ende ihres Geständnisses stand er wortlos auf, rannte ins Gästezimmer und schloss die Tür von innen ab.

War ja wieder mal klar. Anstatt sich einem vernünftigen Gespräch über die Zukunft zu stellen, macht er einen auf Märtyrer und haut einfach ab. Er rechnet sich keinerlei Teilschuld für das Scheitern unserer öden Ehe an, dachte Greta aufgewühlt.

Einerseits tat ihr leid, was sie ihm angetan hatte, doch andererseits verachtete sie ihn für seine Unfähigkeit, sich Widrigkeiten zu stellen. Ein Feigling war er, nichts weiter.

Er will anscheinend nicht einmal um mich kämpfen, zieht einfach den Schwanz ein und bemitleidet sich. Mir wäre viel lieber gewesen, wenn er mir eine Szene gemacht und getobt hätte. Wenn er versucht hätte, die Ehe zu retten. Na gut … dann war das wohl jetzt wirklich die Entscheidung, auch wenn sie etwas plötzlich gekommen ist. Es gibt kein Zurück mehr, die Würfel sind gefallen.

Bevor sie nach einem Glas Rotwein gegen 2:30 Uhr alleine zu Bett ging, griff sie zum Handy. Er weiß Bescheid. Keine Sorge, ich habe alles im Griff. Ich liebe Dich, schrieb sie via Whatsapp an Kalle. Zurück kam eine Reihe Küsschen-Smileys.

Gleich darauf wurde vor dem Haus ein Motorrad angelassen. Manz hatte dort so lange geduldig ausgeharrt, bis er sicher sein konnte, dass seine Greta nicht in Schwierigkeiten steckte. Nun war er beruhigt, und die Harley blubberte gleichmäßig durch die totenstille Siedlung davon.

*

Greta fand keinen Schlaf, zermarterte sich den Kopf. Wie sollte sie ihren Jungs erklären, was sich in der Nacht ereignet hatte? Sie würden beim Frühstück sofort merken, dass zwischen ihr und Papa etwas nicht stimmte. Ihr wurde schmerzlich bewusst, dass die anstehenden Umwälzungen ihre Kinder direkt mitbetrafen.

Was sie wohl zu einem Leben in Spanien sagen würden – und zu Kalle als potentiellem Stiefvater? Sie musste sehr, sehr behutsam vorgehen. Sascha glich von Aussehen und Wesensart her seinem Vater, war genauso empfindlich und instabil. Malte hielt sie eher für fähig, einen einschneidenden Wandel zu verkraften. Er hatte ihr robustes Naturell geerbt. Sie sah auf die Uhr. 04:19 Uhr, noch eineinhalb Stunden bis zum Aufstehen. Und dann in die Anzeigenredaktion … Himmel, wie sollte sie den langen Arbeitstag überstehen?

Indessen saß Kalle am Bartresen einer Bahnhofskneipe, die bis fünf Uhr früh geöffnet hatte, und ließ das Erlebte bei ein paar Bierchen gedanklich Revue passieren. Er durfte den Trip nach Mallorca als vollen Erfolg verbuchen, so viel war sicher. Greta hatte angebissen.

Seine Befürchtung, sie könne ihre Entscheidung monatelang hinausschieben und am Ende möglicherweise einen Rückzieher machen wollen, war ihm vorhin am Flughafen auf wundersame Weise genommen worden. Dieser käsige Hänfling von einem Noch-Ehemann wusste nun Bescheid, und das spielte ihm voll in die Hände.

Er würde endlich alles hinter sich lassen können. Seine hohen Schulden, die spießigen Nachbarn, die jahrelange Arbeitslosigkeit und, last but not least, auch die leidige Fehde mit dem Bikerclub. Glücklicherweise ahnte Greta nicht die Bohne, dass er den Job beim Motorradausstatter bloß erfunden und ihr auch sonst einiges verschwiegen hatte.

»Noch ein Bier und einen Kurzen. Und dann kannst du mir die Rechnung bringen«, verfügte der Biker. Er kannte den stiernackigen Wirt Lothar schon seit Jahren, war früher öfters hier zu Gast gewesen – manchmal auch zusammen mit seinen Rockerkumpels.

»Wird gemacht, aber Anschreiben kommt nicht infrage. Hast dich rar gemacht in letzter Zeit. Gibt‘s heute was zum Feiern?«

»Darauf kannst du getrost einen lassen«, grinste Kalle, rülpste und knallte einen Zwanziger auf den Tresen.

Kaum hatte er die Kneipe verlassen, griff Lothar Neuendorfer, in Rockerkreisen gemeinhin auf gut Fränkisch Loddar genannt, zum Telefon.

*

Montag, 16. Juni 2014

Im Morgengrauen stieg Karl-Heinz Manz angetrunken von der Harley, kramte in der Innentasche seiner Lederjacke nach dem Hausschlüssel. Auf einmal hörte er ein Rascheln, das von dem dichten Gebüsch neben der Haustür herrührte. Noch ehe er mit seinem benebelten Hirn überreißen konnte, wer oder was da im Busch lauern mochte, riss ihn ein derber Schlag auf den Hinterkopf von den Füßen. Jemand steckte ihm etwas aus Stoff in den Mund, das ihn würgen und um Luft ringen ließ. Dann traten Lederstiefel auf ihn ein, bis er das Bewusstsein verlor.

Die drei Rocker ließen erst von ihm ab, als im Erdgeschoß des Mehrfamilienhauses in der Zollerstraße Licht aufflammte. Gardinen bewegten sich, offenbar lugte ein neugieriger Frühaufsteher hindurch. Die vollständig in schwarzes Leder gekleideten Männer huschten zwischen zwei Wohnblocks durch die Grünanlage und schwangen sich, zwei Querstraßen vom Tatort entfernt, auf ihre Motorräder und brausten davon.

Dass Manz die brutale Abreibung seiner einstigen Kameraden überlebte, war nur dem aufmerksamen Nachbarn zu verdanken. Er wurde mit einem Milzriss, inneren Blutungen und schweren Prellungen ins Klinikum eingeliefert.

*

Montag, 23. Juni 2014

Abteilungsleiter Müller hatte die Nase voll. Seine sonst so zuverlässige Angestellte Lindenhardt glänzte in der letzten Zeit ständig durch körperliche oder geistige Abwesenheit, wirkte unfreundlich und machte Flüchtigkeitsfehler, wie sie ihr bislang so gut wie nie unterlaufen waren. Soeben hatte sich eine Kundin wortreich beschwert, dass die aufgegebene Todesanzeige einen peinlichen Druckfehler enthalte. Ausgerechnet der Vorname des Verstorbenen war falsch geschrieben worden, was in diesem Fall – verständlicherweise – fatale Auswirkungen bei der trauernden Verwandtschaft nach sich zog. Anstatt Michael hatte die Lindenhardt in ihrer Zerstreutheit Michaela aufgenommen.

Er rief die Angestellte in sein Büro, zeigte ihr das Malheur. Sie wirkte ehrlich betroffen, senkte den Kopf.

»Greta, ich will dir nicht zu nahe treten und weiß, dass mich dein Privatleben nichts angeht. Aber gestatte mir bitte eine Frage: Was ist in letzter Zeit mit dir nicht in Ordnung?«, wollte er in ruhigem Ton wissen, seinen Ärger mühsam verbergend.

Sie stammelte etwas von einer schweren Ehekrise nebst bevorstehender Scheidung, was ja leider durchaus den Tatsachen entsprach, und entschuldigte sich mehrfach. Ihr kamen die Tränen, obwohl sie tapfer dagegen ankämpfte.

Lars Müller hörte geduldig zu, tätschelte tröstend ihren Arm und bat sie, bei allem gebotenen Verständnis, die Eheprobleme künftig bitte dort zu lassen, wo sie hingehörten – zu Hause.

Wie ein Häufchen Elend schlurfte Greta nach einem Toilettengang, bei dem sie ihr Makeup in Ordnung brachte, zu ihrem Arbeitsplatz zurück. Dort erntete sie triumphierende Blicke der Auerbach, die wohl sagen wollten: Siehste, du bist auch nicht perfekt.

Am liebsten hätte sie sich für den Rest dieses verkackten Tages krank gemeldet. Aber was sollte sie daheim anfangen? Dort herrschte zum Schneiden dicke Luft, tiefste Eiszeit. Man konnte das Negative wie etwas Greifbares durchs Haus wabern fühlen, auch wenn Dirk tagsüber im Finanzamt weilte.

Außerdem hätte ihr ein gelber Zettel vom Arzt einen weiteren Minuspunkt bei ihrem Vorgesetzten eingetragen. Kalle meldete sich nicht mehr. Wie es derzeit aussah, waren ihre Auswanderung und damit die Kündigung bei der Zeitung geplatzt. Als frisch Geschiedene würde sie den Job nötiger denn je brauchen.

Da war es eindeutig besser, sich mit Arbeit abzulenken. Drei Stunden noch bis Feierabend. Sie musste durchhalten, und zwar ohne alle fünf Minuten aufs Smartphone zu schielen. Sie hatte wegen ihrer vorschnellen Vertrauensseligkeit den Respekt ihrer Familie verloren – und im Gegenzug nichts außer Schwierigkeiten und Selbstzweifeln gewonnen. Selbst die Jungs waren etwas auf Abstand gegangen, sie wirkten verunsichert.

Konzentriere dich, Greta, konzentriere dich gefälligst, betete sie sich vor. Doch das Mantra half nichts. Ein und dieselben Fragen hämmerten ihr zum x-ten Male durch den schmerzenden Kopf, wühlten ihr Innerstes auf, nagten am Selbstwertgefühl.

Warum hat er mich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel? Habe ich was falsch gemacht? Glaubt er nicht mehr daran, dass ich Dirk für ihn aufgeben würde? Hat er eine Andere? Und warum, verdammt noch mal, geht er nicht einmal an sein Telefon? Bin ich ihm keine Erklärung wert?

Punkt 17:00 Uhr verließ sie gedankenverloren die Anzeigenredaktion – und prallte draußen gegen ein Hindernis.

»Aua!«, keuchte Kalle, krümmte sich und hielt mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Hand auf seinen Leib.

Greta blickte ungläubig in seine Teddybärenaugen. Das linke war von einem scheußlichen braungrünen Bluterguss umrahmt. Sie brachte kein einziges Wort heraus. Wie erstarrt stand sie da, als sähe sie einen Geist vor sich.

Er packte sie am Ärmel ihrer Bluse.

»Komm mit, deine Kollegin gafft schon aus dem Fenster. Wir gehen ins Black Bean. Dort erkläre ich dir alles.«

Auf dem kurzen Weg dorthin fiel ihr auf, dass er hinkte. Hatte er einen Motorradunfall gehabt?

Kaum saßen sie am Brunnen vor dem Café, startete er seinen Monolog. Er endete mit den Worten:

»Eigentlich hätte ich nach der Operation noch ein paar Tage länger im Krankenhaus bleiben sollen, aber ich konnte es dort nicht mehr aushalten. Ich wollte dich nicht im Unklaren lassen.

Anrufen war nicht möglich, denn mein Handy ist bei dem Überfall verloren gegangen, und so besaß ich deine Nummer nicht mehr. Also habe ich mich heute Morgen auf eigene Verantwortung selbst entlassen.«

Sie hatte ihm Unrecht getan. Er war verletzt, weil seine fiesen Clubkameraden ihn übel zugerichtet hatten. Und er hatte offenbar die ganze Zeit über an sie gedacht, sogar seine Gesundheit für ihr Seelenheil aufs Spiel gesetzt. Nun schämte sie sich für ihre Zweifel an seiner Ehrhaftigkeit.

Alles ist gut. Wir werden zusammen auswandern, die Kinder mitnehmen und schon bald über den ganzen Stress im Vorfeld nur noch lachen, freute sich Greta. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn.

»Kannst du bitte heute mal die Rechnung übernehmen? Neben meinem Handy ist bei dem Überfall nämlich seltsamerweise auch meine Brieftasche abhandengekommen. Ich muss morgen früh erst zur Bank, den Diebstahl der EC-Karte melden und mir Bargeld holen«, bat Kalle seine ungewohnt blasse Freundin.

Sie nickte glücklich. Die tot geglaubten Schmetterlinge in ihrem Bauch regten sich, schlugen zaghaft mit den Flügeln.

*

Der Schatzmeister des weltumspannend tätigen Motorradclubs, Charter Nürnberg, lieferte auftragsgemäß seinen Bericht beim Präsidenten ab.

 

»Der finanzielle Schaden, den diese dreckige Ratte verursacht hat, beläuft sich auf stolze 18.384,32 Euro. Der Betrag setzt sich wie folgt zusammen: 12.200 Euro, die er aus unserer Clubkasse mitgehen ließ, und dazu kommen noch 6.184,32 Euro an Reparaturkosten, die am und im Clubheim wegen dem Gegenangriff der Schwabacher Abtrünnigen entstanden sind.

Demgegenüber enthielt Kalles Brieftasche nur schlappe 45,76 Euro. Sein Handy können wir nicht zu Geld machen; ist so ein steinaltes Modell zum Aufklappen, noch mit richtiger Tastatur. Dummerweise sind wir beim Fresse polieren gestört worden, ansonsten hätten wir zum Schluss der Aktion seine Wohnung gefilzt. Aber ich glaube eh nicht, dass er so viel Bargeld unter der Matratze bunkert. So blöde ist nicht einmal der.

Wir werden also auf den Miesen in Höhe von 18.338,56 Euro sitzen bleiben. Da müssen unsere Pferdchen an der Frauentormauer lange die Beine breit machen, bis sie uns das viele Geld wieder erarbeitet haben«, referierte der strohblonde Treasurer.

Sein Präsident röhrte vor Wut, hieb mit der haarigen Faust auf den Tisch, sodass die leeren Bierflaschen klirrten.

»Scheiße gelaufen, das mit dem Angriff auf die Schwabacher Kanaken! Aber wie hätten wir auch drauf kommen sollen, dass einer von uns die gesamten Einnahmen geklaut hat?«

»Richtig. Die Schwabacher waren nun mal die Hauptverdächtigen. Außerdem denke ich, es hat keineswegs die Falschen getroffen. Wir haben denen einen Denkzettel verpasst, auch wenn er uns letztendlich sehr teuer zu stehen gekommen ist.«

»Schwamm drüber, kann man eh nicht mehr ändern. Dieters Schussverletzung ist inzwischen wieder verheilt, war halt Berufsrisiko. Aber dieser verfluchte Manz soll bluten, bis er die 18.000 Euro und ein paar Zerquetschten abbezahlt hat. Das heißt, falls er nicht sowieso an unserer Abreibung verreckt ist.«

Der Präsi grunzte zustimmend.

»Was ist eigentlich mit ECoder Kreditkarten? Vielleicht war der Wichser so dämlich, seine PIN-Nummern auf dem Telefon abzuspeichern. Oder es könnte sich ein Merkzettel im Geldbeutel befinden. Was immer er besitzt, gehört uns! Der kann doch nicht die gesamte Kohle schon auf den Kopf gehauen haben!«

»Das mit den PINs überprüften Mitch und ich selbstverständlich gleich als erstes. Da ist leider nirgends eine vierstellige Ziffernkombination zu finden, welche hierauf hinweisen könnte. Dafür besitzt er interessanterweise neben seiner deutschen auch die EC-Karte einer spanischen Bank.«

»Aha? Das ist ja hochinteressant. Forscht für mich nach, an welchem Ort sich die zugehörige Bankfiliale befindet. Womöglich gibt es demnächst einen Run ins schöne Spanien. Wo immer sich diese Kakerlake versteckt, wir werden sie aufstöbern und zertreten«, befahl das Oberhaupt der Biker grimmig.

*

Sonntag, 20. Juli 2014

Kalle zog einen sperrigen, altmodischen Schalenkoffer hinter sich her. Greta ging an seiner Seite und trug ein kleineres Handgepäckstück, welches ebenfalls ihm gehörte. Sie stellten sich am Schalter der Ryan Air an und checkten das Gepäckstück ein.

»Komm, wir gehen draußen vor dem Terminal noch Eine rauchen, bevor ich durch die Sicherheitskontrolle muss, schlug der Biker vor. Er nahm sie an der Hand und zog sie in Richtung des Ausgangs.

Greta wühlte in ihrer Handtasche, förderte eine zerknautschte Packung Marlboros und ein mit Nappaleder bezogenes Feuerzeug zutage. Sie wirkte sehr bedrückt.

»Ach komm, sei nicht traurig. Das ist die letzte Trennung, und die ist auch nur für ein paar Wochen. Sobald du hier alles geregelt hast, kommst du nach«, versuchte Kalle seine Freundin zu trösten.

Sie seufzte tief, schmiegte sich an seinen tätowierten Oberarm.

»Ich weiß ja, dass du vorzeitig abreisen musst. Sonst schlagen dich diese Verbrecher vom Club noch tot. Aber dies alles hier alleine abwickeln zu müssen, schmeckt mir überhaupt nicht.

Der schlimmste Teil steht mir sowieso noch bevor. Bislang sträubt sich Dirk mit aller Macht, die Kinder mitziehen zu lassen. Meine Eltern sind wegen der Auswanderung stinksauer, die Schwiegereltern hassen mich. Ich darf nächste Woche die unvermeidliche Ausstandsparty im Büro über mich ergehen lassen, mir ständig die bitteren Vorwürfe meiner Freundin anhören und den Transport meiner persönlichen Sachen nach Mallorca organisieren, einschließlich deines Motorrads.

Puh … ganz schöner Stress. Sag mal, was soll eigentlich mit

deiner Wohnungseinrichtung werden?«

»Darum musst du dich nicht kümmern. Das Zeug wird ausgeräumt und in eines dieser Sozialkaufhäuser verfrachtet. So kann ich jemandem noch was Gutes tun. Es kommt billiger, sich das Nötigste auf Malle neu zu besorgen. Bis du nachkommst, werde ich sowieso in eines der möblierten Ferienapartments über der Kneipe ziehen, alles kein Problem«, meinte Manz achselzuckend und ließ den Rauch aus seinen Lungen entweichen.

Wäre er ehrlich gewesen, hätte er seiner Freundin gestanden, dass er nicht einmal den Mietvertrag gekündigt hatte. Für die Miete kam das Jobcenter auf, weil er als Langzeitarbeitsloser seit Jahren von Hartz IV lebte. Zusammen mit den schwarzen Einnahmen aus dem zwielichtigen Rockerbusiness hatte er bis zum Bruch mit seinem Club sehr gut davon leben können.

Die vom Amt werden schon irgendwann merken, dass ich nicht mehr da bin. Vielleicht zahlen sie bis dahin brav weiter, das Bankkonto behalte ich erstmal. Sollen die mein Zeug doch ausräumen oder den nächsten Hartzer in die voll ausgestattete Wohnung setzen. Ich werde mich jedenfalls nirgends abmelden, weder bei der Meldebehörde noch beim Jobcenter. Lieber keine Spuren zurücklassen, die auf Malle hindeuten, hatte er sich überlegt.

Damit war dieses Thema für ihn abgehakt. Was er jetzt noch besaß, passte in einen Koffer. Er ging mit leichtem Gepäck in sein neues Leben.

Vor den Barrieren der Sicherheitskontrolle vergrub Greta ein letztes Mal ihr Gesicht in seinem Vollbart.

»Sobald es geht, komme ich nach. Versprich mir, dass du dir bis dahin keine neue Rockerbraut suchst«, flüsterte sie und sah ihm mit tränennassen Augen ins Gesicht.

»Wo denkst du hin! Du bist meine Old Lady! So nennen wir in Clubkreisen Ehefrauen oder feste Freundinnen. Ohne dich wäre ich total aufgeschmissen, könnte nicht einmal mehr überleben«, salbaderte er. Und das meinte er ausnahmsweise ehrlich – wenn auch nicht im selben Sinn wie sie es auffasste.

*

Freitag, 12. September 2014

Als die Harley Davidson auf die Ladefläche des Umzugswagens bugsiert wurde, wunderte sich Greta darüber, dass auf der Sitzbank zwei Helme festgezurrt waren. Hatte Kalle nicht behauptet, dass er den zweiten immer bloß kurzfristig aus dem Sortiment seines Arbeitgebers ausleihe? Wie nett von ihm, er musste ihn zwischenzeitlich extra für sie erworben haben!

Zehn Umzugskartons. Mehr konnte sie aus Kostengründen nicht mit nach Spanien nehmen. Das also war von einem Ganztagsjob und einer langjährigen Ehe übrig geblieben. Klamotten, Schuhe, Fotoalben, ein fast neues Notebook und ein paar persönliche Dinge, an denen sie wirklich hing – das war alles. Den Hausrat sowie sämtliche Möbel wollte sie Dirk und den Söhnen überlassen. Kalle hatte vollkommen Recht, ein Neukauf kam im Vergleich zu einem Riesenumzug nur unwesentlich teurer.

Gut, dass ich noch ein paar Ersparnisse auf meinem Sparkonto habe. Sollte was fehlen, kann ich es in Spanien nachkaufen. Ist ja Gott sei Dank kein Entwicklungsland, in das ich gehe, dachte Greta wehmütig.

Das Smartphone klingelte. Kalle. Sie wollte ihm soeben von dem heute erreichten Fortschritt berichten, da unterbrach er sie unwirsch.

»Greta, du musst mir schnellstens aushelfen! Ich soll einen Handwerker holen, der die Elektroinstallationen neu verlegt und einen Techniker, der sie abnimmt. Sonst darf ich nächste Woche nicht eröffnen. Man braucht erst eine Lizenz, das ist hier Vorschrift. Die übrigen Renovierungen in der Kneipe sind so teuer geworden, dass meine komplette Kohle aufgebraucht ist. Dafür ist das Biker’s Beach jetzt ein echtes Schmuckstück, wirst sehen«, sprudelte er ohne Punkt und Komma hervor.

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