Dunkelsonne

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Snitches are a dying breed, stand auf dem schwarzweißen Sweatshirt zu lesen, das er unter seiner mit etlichen Patches verzierten Kutte trug. Verräter sind eine aussterbende Rasse.

Der neben ihm sitzende, vor Muskelpaketen strotzende Vizepräsident warf einen kurzen Seitenblick auf den in Frakturschrift gestalteten Schriftzug, hob die rechte Hand. Zwei ultrabreite, im funktionellen Design von Absperrketten gestaltete Silberarmbänder wurden am Handgelenk sichtbar.

»Bevor wir offiziell anfangen, noch eine Frage: Weiß einer von euch, wo sich unser Out in bad standing Kalle Manz herumtreibt? Hat dieser Wichser die Stadt endlich verlassen, oder müssten wir ein bisschen nachhelfen? Ich habe da nämlich was läuten gehört, dass er immer noch vor Ort herumgurken soll.«

Alle zuckten mit den Schultern.

»Wenn ihr nichts dagegen habt, schick ich mal unsere Supporter vom puppet-club los, um das herauszufinden. Und gnade ihm sonst wer, falls er in unserem Revier rotzfrech einen auf Nomade oder Independent machen sollte«, schnaubte der Vize. Er war vor allem deswegen so sauer auf Kalle, weil er vor dem fatalen ›Ereignis‹ vom 16. Februar dieses Jahres sein langjähriger Freund und Vertrauter im Club gewesen war.

Der Hammer knallte auf den Tisch.

»Genau, richtig! Wer diese feige Drecksau aufgreift, soll ihren fetten Arsch hierher schaffen. Wenn er unbedingt einen Nachschlag haben will, machen wir das jederzeit gerne möglich, was, Jungs?«, grinste der Präsi. Seine leicht schräg gestellten Augen verengten sich zu Schlitzen, aus denen es gefährlich blitzte.

*

Montag, 28. April 2014

Weitere drei Mal hatte Kalle das Subjekt seiner Begierde getroffen, ohne dass es zu sexuellen Avancen gekommen wäre. Heute jedoch hatten sich beide nicht mehr beherrschen können. Die zweifache Mutter und der Biker fühlten sich seit geraumer Zeit zueinander hingezogen, und die Versuchung war unter diesen Umständen einfach zu groß gewesen.

Das Café Black Bean lag nahe der Anzeigenredaktion, gelegentlich kamen Bekannte und Arbeitskollegen an der Fensterfront vorbei. Was, wenn sie hier in dieser Begleitung gesehen würde? So hatte Greta vorsorglich beschlossen, die heimlichen Dates ab sofort woandershin zu verlegen.

Manz hatte diese Idee bestens gefallen, und so hatte er seine, bis dato noch platonische, Freundin erstmals in seine bescheidene Zwei-Zimmer-Mietwohnung im Stadtteil St. Leonhard eingeladen. Er hauste in einem tristen, renovierungsbedürftigen Mehrfamilienhaus aus den 1970er Jahren an der Zollerstraße.

Draußen vor dem Schlafzimmerfenster herrschte das sprichwörtliche Aprilwetter. Regen wechselte sich mit heftigen Gewittern ab, und diese warteten wiederum mit stürmischen, für die Jahreszeit recht kühlen Windböen auf. Ein Aufenthalt im Freien verbot sich. Eigentlich, so scherzte Greta mit hochroten Wangen, zeichnete somit im Grunde das Wetter für ihren Ehebruch verantwortlich.

Sie lag mit dem Kopf auf Kalles breitem Brustkorb, fuhr mit den Fingern zärtlich durch seine schweißfeuchte Behaarung.

»Wow … ich fühle mich, als hätte mich gerade eine Dampfwalze überfahren. Meine Güte … so derb hat es mir lange keiner mehr besorgt, und Dirk schon gar nicht. Seit fünfzehn Jahren kannte ich nur noch artigen Kuschelsex. Nett, aber harmlos. Ich mag es lieber, wenn man mich etwas härter ran nimmt und dabei schmutzige Ausdrücke gebraucht«, gestand Greta.

Sie war total außer Atem, ihr Körper vibrierte noch immer.

Kalle grunzte befriedigt, strich ihr wirres, pitschnasses Haar glatt.

»Hoffentlich war ich dir nicht zu stürmisch. Weißt du, ich hatte schon länger keine Frau mehr im Bett, da herrschte arger Notstand.«

Greta lachte, griff nach seinem besten Stück, das feucht und schlaff zwischen seinen kräftigen Schenkeln ruhte. Es war zwar etwas kürzer als das von Dirk, dafür aber erheblich voluminöser.

»Quatsch, ich bin doch nicht aus Zucker. Rockerbräute müssen sowas wie den hier locker aushalten, oder?«

»Du sagst es. Gutes Mädchen! Und jetzt lass ihn kurz los, den brauchen wir noch. Ich hole uns eine Runde Kaffee mit Schuss, und dann gehen wir zu Teil zwei über. War eine super Idee von dir, heute ein paar Überstunden abzufeiern. Wir bleiben einfach bis fünf in der Falle und haben jede Menge Spaß«, verfügte der Biker und schälte den gedrungenen Körper aus dem verschwitzten Bettzeug. In seinem dichten Vollbart schimmerten Tröpfchen.

Greta blickte ihm verliebt hinterher, bemerkte amüsiert, dass er leichte X-Beine besaß. Was für ein potenter Kerl, und er hatte ihr einen Nachschlag versprochen. Entspannt auf dem Rücken liegend, betrachtete sie ihre Umgebung. Rund um das nur einen Meter vierzig breite Polsterbett lagen ihre Klamotten verstreut. Die hatten sie sich vorhin gegenseitig vom Leib gerissen.

Grauer Teppichboden, ebenso graue Bettwäsche mit grafischen Mustern, ein Metallregal mit Sportpokalen, ein Fernseher, ein paar Bücher und ein nur zweitüriger Schrank, keine Vorhänge – typische Junggesellenwohnung.

In der Küche gurgelte eine Kaffeemaschine, Kalle hantierte pfeifend mit Geschirr. Am liebsten wäre sie ewig im Evaskostüm hier liegen geblieben, hätte dösend zugesehen, wie die Regentropfen ans Fenster prasseln und sich auf die verheißenen sexuellen Genüsse gefreut. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich rundum glücklich und zufrieden.

Manche Drogen muss man eben nur ein einziges Mal ausprobieren, um ihnen rettungslos zu verfallen, sinnierte Greta und zündete sich einen Glimmstängel an.

*

Die folgenden Wochen gerieten für Greta sehr zwiespältig. Einerseits genoss sie die Dates mit ihrem raubeinigen Liebhaber in vollen Zügen, andererseits war ihr Leben um einiges komplizierter geworden. Ständig glaubhafte Ausreden erfinden zu müssen, stellte sich als sehr anstrengend heraus.

Gelegentlich plagte sie auch ihr schlechtes Gewissen, denn je mehr sie sich von Dirk zurückzog, desto intensiver versuchte er, seine Ehefrau mit kleinen Aufmerksamkeiten zu verwöhnen. Er verehrte ihr sogar ein kostspieliges Schmuckstück aus Roségold, welches sie sehr widerwillig entgegennahm. Ausgerechnet ein Herz. Es fühlte sich falsch an, aber was hätte sie tun sollen? Unter keinen Umständen wollte sie zum jetzigen Zeitpunkt Verdacht erregen.

Sie war wie von Sinnen. Noch war ihr Gefühlsleben viel zu verwirrt, um eine Entscheidung für ihren weiteren Lebensweg treffen zu können. Zumal es hier ja nicht zuletzt auch um die Kinder ging.

Greta nutzte ungeachtet dessen jegliche Gelegenheit, um mit Kalle in Kontakt zu treten. Traf ihn in der Mittagspause, nahm bei der Zeitung heimlich einzelne Urlaubstage, um sie komplett mit ihm zu verbringen, täuschte Treffen mit ihrer Freundin Silke vor und überredete ihren Lover, endlich den Messenger-Dienst Whatsapp auf seinem Handy zu installieren. So konnten sie wenigstens rund um die Uhr kleine Nachrichten austauschen.

Das Smartphone trug sie stets an der Frau. Liebesschwüre aus dem Wäschekeller oder aus dem Badezimmer waren keine Seltenheit. Gelegentlich spielte sie für ein paar Sekunden mit dem Gedanken, die Affäre mit Kalle einfach zu beenden, ihren Gewissenskonflikt loszuwerden. Aber was dann? In ihr belangloses Leben zurückkehren? Dieser Gedanke erschien ihr unerträglich. Momentan gab es zum geheimen Doppelleben keine Alternative, jedenfalls erkannte sie keine.

Am Vormittag des 31. Mai, einem Samstag mit angenehmen Temperaturen, ereignete sich etwas Unerwartetes. Etwas, das sie zu einer richtungsweisenden Aktion zwang – und womit sie im Leben nicht gerechnet hätte.

Ein Zusteller in Uniform klingelte Sturm. Greta sah ihn durch den Türspion, doch sein Gesicht lag im Schatten einer Schirmmütze, die das Logo der Firma Rapitrans trug. Sie öffnete nichts ahnend die Haustür – und blickte in zwei wohlbekannte braune Augen. Ihr wurde heiß und kalt, das Herz schlug schneller.

Verschmitzt grinsend, hielt ihr der ›Bote‹ einen Umschlag hin, der ihren Namen und sogar die richtige Adresse trug. Seltsam … die hatte sie Kalle gegenüber nie erwähnt.

»Eilige Post für Sie«, sagte Manz in geschäftsmäßig kühlem Ton. »Bitte hier für den Empfang unterschreiben!«

Er zwinkerte ihr verschmitzt zu und entfernte sich schnellen Schrittes durch den Vorgarten, ohne sich nach ihr umzudrehen.

Dirk näherte sich vom Carport her, wo er den Papiermüll im Kofferraum seines Wagens verstaut hatte.

»Wer war denn das?«

»Nur so ein Typ von irgendeiner Zustellfirma. Hat einen Brief für die Nachbarin abgegeben«, log Greta und verdeckte mit der Hand das Adressfeld auf dem kartonierten Umschlag. Innerlich brannte sie natürlich darauf, das Ding zu öffnen und nachzusehen, was ihr Kalle da wohl überreicht haben mochte. Aber das musste sie leider auf später verschieben, zunächst warteten familiäre Pflichten auf sie.

»Ich ziehe mir noch schnell Schuhe an, dann können wir los!« Sorgsam verstaute sie den subversiven Brief unter einer ihrer

Schuhschachteln im Kleiderschrank, bevor sie ihren Mann notgedrungen zu Papiercontainer, Bauund Getränkemarkt begleitete. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht ständig versonnen vor sich hin zu lächeln.

Gegen Abend sah Dirk sich im Fernsehen eine Dokumentation über die Geheimnisse des Universums an. Genau sein Lieblingsthema. Nun hielt Greta es nicht mehr länger aus, die Neugierde piesackte sie seit Stunden.

»Ich gehe schon mal ins Bett, lese noch ein wenig«, behauptete sie wahrheitsgemäß. Sie wartete vorsichtshalber noch fünf Minuten auf der Bettkante, ob er gleich nachkommen würde, doch das war eigentlich kaum zu befürchten. Sobald er vor der Glotze saß, entwickelte sein knochiges Hinterteil scheinbar einen virtuellen Klebstoff, der ihn für etliche Stunden untrennbar mit der Couch verband. Sein Rotweinglas war auch noch halb voll gewesen.

 

Sie wagte es, zerrte den Brief aus dem Kleiderschrank, öffnete ihn und fingerte drei Schriftstücke hervor. Diese klemmte sie in einen Bildband über das Leben in Marokko, stieg damit ins Bett und stellte das geöffnete Buch auf ihren Bauch, quasi als Sichtschutz zwischen ihr und der einen Spalt breit geöffneten Schlafzimmertür. Endlich, nun konnte sie einen Blick riskieren.

Ein handschriftlicher, kurzer Brief – und zwei Bordkartenausdrucke des Billigfliegers Ryan Air, Destination Palma de Mallorca, Abflug in Nürnberg, ausgestellt auf ihren Namen. Das zweite Ticket war für den Rückflug bestimmt.

Sie keuchte, als hätte ihr jemand seine Faust voll in den Magen gerammt. Oh mein Gott. Was zum Teufel … ? Erregt klemmte sie die Bordkarten wieder ins Buch und nahm sich den Brief vor.

Liebste Greta,

ich werde demnächst nach Palma fliegen. Wie Du weißt, muss ich mein Vorhaben mit der Bar endgültig unter Dach und Fach bringen. Aber ohne Deine Gesellschaft macht mir gar nichts mehr Spaß. Daher bitte ich Dich, meine supergeile Rockerbraut, mich zu begleiten.

Ach was, Du musst einfach! Ich habe bereits für Dich mit gebucht, wie du siehst. Bitte tu mir noch den Gefallen, mir Deine Passnummer zu senden, damit ich uns beide vorab einchecken kann. Also überleg nicht lange und sag zu. Dann siehst Du bald mit eigenen Augen, was für ein tolles Leben ich uns auf Malle aufbauen werde.

Du hast neulich gar nicht gemerkt, dass ich Dir gefolgt bin, oder? Erstens wollte ich sehen, wie und wo Du lebst, und zweitens habe ich die Anschrift benötigt. Hoffentlich bist Du mir nicht böse.

Übrigens, die Uniform des Zustellers habe ich mir von einem alten Kumpel ausgeliehen, der bei dieser Firma seit Jahren arbeitet. Er ist kleiner als ich, deswegen hatten die Hosen leichtes Hochwasser. Nun sag bloß nicht, ich hätte keine Fantasie. Für Dich täte ich alles.

Dein kratziges Bärchen, Kalle

Gretas Gedanken überschlugen sich. Am liebsten hätte sie auf der Stelle zugesagt und schon mal den Koffer vom Dachboden geholt. Ein paar Tage in der Sonne relaxen, jede Nacht Sex mit Kalle – was könnte es Schöneres geben? Und er hatte von einer gemeinsamen Zukunft gesprochen, wie aufregend das klang.

Auf der anderen Seite … die gebuchte Reise ging von Donnerstag bis Sonntag. Wie sollte sie eine derart lange Abwesenheit vor Dirk rechtfertigen? Und würde sie in der Anzeigenredaktion überhaupt schon wieder Urlaub bekommen?

Davon abgesehen, war sie sich alles andere als sicher, ob eine Auswanderung nach Spanien für sie jemals infrage käme. Weder beherrschte sie die Sprache, noch wusste sie besonders viel über dieses Land. Allmählich brachte sie diese unselige Dreiecksbeziehung, ihre Position zwischen dem verlässlichen, aber langweiligen Dirk und dem einfallsreichen, sehr spontanen Biker wirklich um den Verstand. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?

*

Samstag, 14. Juni 2014

An den Kassen des Supermarkts im Franken-Einkaufscenter bildeten sich lange Schlangen – das übliche Bild am Samstagvormittag gegen halb elf. Silke Noll bugsierte gerade eine Ananas, drei Packungen Parmaschinken und eine Flasche Prosecco aufs Laufband, fischte anschließend ihre Payback-Karte aus dem Portemonnaie.

»Hallo Silke, was machst du denn hier? Ich dachte, euer Rückflug von Palma geht erst Sonntagabend?«

Die Angesprochene drehte sich um und blickte in die wasserblauen Augen von Dirk Lindenhardt, die sie fragend musterten.

»Äh, wie meinst du das? Rainer und ich sind doch dieses Wochenende gar nicht weggeflogen. Wir haben Besuch von meiner Schwester, und deswegen kaufe ich hier gerade für den morgigen Brunch ein.«

Lindenhardt stand da wie vom Donner gerührt. Sein Gehirn weigerte sich, das Gehörte zu verarbeiten. Hinter ihm drängelte eine asozial aussehende Frau mit zwei unartigen Kleinkindern, fuhr ihm mit ihrem Einkaufswagen in die Hacken. Auf diese nette Art und Weise wollte sie ihm wohl mitteilen, dass er gefälligst seinen Wagen entleeren und ein Stück aufrücken sollte. Er ignorierte die schweinsgesichtige Schabracke.

»Du bist also nicht mit meiner Frau nach Mallorca zum Shoppen geflogen?«, wiederholte er fassungslos.

Silke dämmerte siedend heiß, dass sie wohl soeben versehentlich ein Geheimnis preisgegeben hatte. Verflixt und zugenäht – wenn Greta schon auf abenteuerlichen Abwegen wandelte, wieso weihte sie dann neuerdings ihre beste Freundin nicht mehr ein?

Klar, sie hatte neulich ein paar kritische Kommentare zu diesem Karl-Heinz Manz abgegeben, der Greta offenbar mächtig den Kopf verdreht hatte … aber es stimmte doch! Wenn jemand heutzutage weder auf Facebook, noch auf Twitter, Instagram oder sonstigen Social Media-Errungenschaften präsent war, nicht einmal einen Whatsapp-Account besaß, dann konnte mit dem doch etwas nicht ganz koscher sein! Im Netz war der Mann ein Niemand, so als wolle er sich verstecken.

Sie konnte ja verstehen, dass Greta die Nase von ihrem farblosen, biederen Gatten voll hatte – aber musste sie sich deswegen gleich einen undurchsichtigen Rockertypen angeln?

Grübelnd steckte sie ihre EC-Karte ins Lesegerät, tippte die PIN ein. Die Kuh musste jetzt dringend vom Eis, nur wie? Dirk Lindenhardt wartete immer noch bewegungslos hinter seinem Einkaufswagen auf eine Antwort. Er wirkte blass, blickte traurig drein.

»Dirk, für diese Ungereimtheit gibt es sicher eine harmlose Erklärung. Vielleicht brauchte Greta eine Auszeit, wollte keinen Menschen sehen und hat deswegen zu einer kleinen Notlüge gegriffen. Sie wirkte in letzter Zeit ziemlich gestresst. Gönne ihr einfach die zwei Tage Erholung, und danach sieh zu, was ihr in eurem Alltag zum Besseren hin verändern könntet«, schlug Silke pragmatisch vor.

»Mir ist natürlich auch aufgefallen, dass sie sich zurzeit anders verhält als früher. Oft zieht sie sich tagsüber ins Schlafzimmer zurück, hört Musik oder geht spazieren. Aber trotzdem … dass sie weder dir noch mir die Wahrheit gesagt hat, Stress hin oder her … sowas hätte ich ihr nicht zugetraut! Fliegt übers Wochenende alleine auf die Sonneninsel, und ich sitze mit den beiden Jungs derweil zu Hause herum«, bemitleidete sich der Finanzbeamte selbst.

Silke verspürte keine Lust, dieses Gespräch fortzusetzen. Eilig verstaute sie die letzten Einkäufe in ihrer Tüte, verabschiedete sich mit ein paar Grußfloskeln und verschwand in der Menge.

Zerstreut drehte Dirk sich um. Die Frau mit den zwei Rangen und den schlecht gefärbten Haaren glotzte immer noch missbilligend in seine Richtung. Er sah sich nun doch genötigt, die Ware aufs Band zu packen. Nach dem Bezahlen vergaß er, den Reißverschluss des Kleingeldfachs seines Geldbeutels zu schließen. Ein Regen aus Münzen ergoss sich über den halben Kassenbereich. Fluchend schickte er sich auf Händen und Knien an, das Malheur zu beseitigen – zum Ärger der wartenden Kunden. Die bissigen Kommentare überhörte er.

Was, zum Teufel, hatte seine Frau alleine auf Malle zu suchen?

*

Während sich ihr Mann in Nürnberg nervös den Kopf zermarterte, schlenderte Greta in Palma de Mallorca händchenhaltend an der Strandpromenade entlang. Sie und Kalle hatten am Vormittag die berühmte Kathedrale La Seu und den schicken Jachthafen Puerto Portals besichtigt, dort einen Cortado unter Palmen genossen und standen nun im Begriff, sich mit dem Immobilienmakler zu treffen. Es galt, den Mietvertrag für die Strandbar dingfest zu machen und die Kaution zu hinterlegen.

»Da gehen meine gesamten Ersparnisse drauf. Der Vermieter will neben der Kaution gleich die Miete für ein ganzes Jahr sehen, sonst geht bei den Spaniern scheinbar gar nichts. Wir müssen also noch zur Bank, die Kohle abholen. Ein Konto habe ich hier schon beim letzten Besuch eröffnet«, erklärte Kalle.

»Und womit bezahlst du die Renovierung? Du hast mir doch erzählt, dass vor der Inbetriebnahme noch einiges repariert und gestrichen werden muss«, wunderte sich seine Begleiterin.

»Das ist ein späteres Problem, sicher kann ich viel selber machen. Ein Schritt nach dem anderen, jetzt müssen wir das Ding erst einmal mieten. El Arenal ist nur zwölf Kilometer von hier entfernt. Sobald die mir nachher den Schlüssel übergeben haben, gehen wir meine neue Wirkungsstätte besichtigen und machen gemeinsam eine Bestandsaufnahme«, winkte der Barbetreiber in spe ab.

Eine Stunde später ließen sie sich in einer Masse von ausgelassenen, mehr oder weniger alkoholisierten Touristen durch die weltbekannte Schinkenstraße treiben, vorbei am berüchtigten Bierkönig und einer Unmenge anderer Etablissements, die durch das sogenannte ›Eimersaufen‹ einen fragwürdigen Ruf genossen. Grillwurstbuden, Discos, Hotels, Bars, Restaurants – hier reihte sich ein Gastronomiebetrieb an den anderen. Und alle buhlten sie mit grellbunten Werbeschildern, überlauter Musik und Partyevents um die Gunst der zahlreichen Urlauber.

Kalle deutete grinsend in Richtung Strand.

»Da vorne geht es übrigens zum Ballermann 6.«

»Und dort liegt deine Strandbar?«

»Wo denkst du hin! Hier wären die Mieten viel zu teuer. Nein, das Biker‘s Beach liegt am Ballermann 9, und da auch nicht in der vordersten Reihe. Laufkundschaft wird sich eher selten einfinden. Das spielt aber überhaupt keine Rolle, weil ich ohnehin ein spezielles Publikum anziehen will. Wegen einer Baulücke sieht man von der Terrasse aus trotzdem ein bisschen was vom Meer; Hauptsache, es gibt da genügend Parkplätze für die Bikes. Für meine Zwecke ist der Laden ideal. Na, du wirst ihn ja gleich zu Gesicht bekommen. Wir müssen ein Stück am Strand entlang laufen, aber höchstens einen Kilometer.«

Eine Dreiergruppe grölender Engländer kam ihnen entgegen. Sie eierten in Schlangenlinien die Straße entlang, trugen alberne Strohhüte mit neongrünen Hutbändern und T-Shirts mit dem vielsagenden Aufdruck Pralle auf Malle. Jeder war mit einer halbvollen Estrella-Bierflasche bewaffnet.

Als die trinkfreudigen Partyurlauber Kalle und Greta passierten, rempelten sie letztere aus Versehen an. Ein bisschen Bier schwappte aus einer der Flaschen auf ihr schwarzes Minikleid, bildete einen kleinen nassen Fleck.

Augenblicklich blieb der Biker stehen, packte den Übeltäter fest am Kragen. Seine braunen Augen funkelten zornig. Alles Weiche, Gemütliche war daraus verschwunden.

»Zu blöd zum Laufen, was? Den ganzen Tag ballern, aber nix vertragen. Du Weichei entschuldigst dich auf der Stelle bei der Lady, sonst gibt’s kräftig was auf die Nuss!«

Greta blickte peinlich berührt drein und bemerkte, dass der englische Urlauber kein Wort verstanden hatte. Er guckte nur belämmert. Manz stand in angespannter Körperhaltung da, so als wolle er seine Drohung jeden Moment in die Tat umsetzen.

»You should apologize, please«, sagte sie verbindlich und deutete auf den feuchten Stoff.

»Dieses dämliche Arschloch hat mich schon verstanden! Du musst ihm nicht auch noch mit Schmackes in den Hintern kriechen«, wetterte der Biker.

Der junge Engländer entschuldigte sich achselzuckend, und das Grüppchen zog unbeschadet von dannen.

»Das nächste Mal mischst du dich bitte nicht ein, wenn Männer etwas zu bereden haben«, kritisierte Kalle mit hochgezogenen Augenbrauen. Anschließend entspannte er sich merklich, griff nach Gretas linker Hand und verfiel wieder in einen gemütlichen Schlendergang. Der Zorn war anscheinend restlos verpufft. Im Gleichschritt erreichte das Paar die Strandpromenade.

Greta betrachtete nachdenklich, wie die langen Fransen am Saum ihres schwarzen Minikleides beim Gehen auf den leicht gebräunten Oberschenkeln wippten. Hatte er es denn wirklich darauf angelegt, eine Schlägerei anzufangen? Freilich, sie fühlte sich in seinem Dunstkreis bestens beschützt, schätzte es, einen starken Mann wie ihn an ihrer Seite zu wissen. Aber dass er lächerliche Bagatellen wie diese gleich derart übertreiben musste … der sogenannte Fleck war schließlich kaum der Rede wert und trocknete bereits.

Ein paar Meter weiter waren ihre Bedenken Geschichte, quasi in der strahlenden mallorquinischen Sonne verdunstet. Zu viele Eindrücke wollten verarbeitet werden. Das Meer glänzte türkisblau, und der Strand schien um diese Jahreszeit schon gut gefüllt zu sein. Überall Sonnenschirme, Strandliegen und heitere Badegäste, viele davon mit Sonnenbrand. Ein paar Kinder quäkten, weil sie nicht alleine ins Wasser durften und die Sandburg eingestürzt war. Fächerpalmen wiegten sich im Wind. Eine Gruppe fliegender Händler schickte sich an, Billiguhren und Sonnenbrillenplagiate an den Urlauber zu bringen.

 

Und die ganze Pracht ist in dieses wunderbare mediterrane Licht getaucht! Verglichen mit der starken Sonneneinstrahlung, die man hier genießen kann, wirkt der deutsche Sommer wie mit einer 20 Watt-Glühbirne beleuchtet. Sofern dieser überhaupt stattfindet. Meist folgen auf ausgedehnte Regenperioden einige extrem heiße Tage, und danach gehen zerstörerische Unwetter nieder. Herrlich, für ein paar Tage entfliehen zu können, dachte Greta angetan, während die halbhohen Absätze ihrer roten Sandaletten über das Pflaster der Promenade klapperten.

»Wir sind gleich da. Das hier ist die Carrer Costa Brava – eine Abzweigung weiter müssen wir rechts abbiegen, und zwar in die Carrer d‘ Acapulco«, vermeldete Kalle. Er schien voll optimistischer Vorfreude zu stecken.

An der Abzweigung sah sich Greta nach leeren Ladenlokalen um, sah aber keines. Ein Hotel, die Filiale einer Fastfood-Kette sowie ein paar Läden und Cafés gerieten in ihr Blickfeld. Nach etwa hundert Metern war die Straße zu beiden Seiten von Pinien gesäumt, dort schien man in ein ruhigeres Wohngebiet zu gelangen. Wie eine stark frequentierte Geschäftsstraße, durch die Tag und Nacht vergnügungssüchtige Touristenhorden flanieren, sah sie augenscheinlich nicht aus.

Kalle erhöhte sein Tempo, zog sie hinter sich her. Sie konnte kaum Schritt halten. An der nächsten Straßenkreuzung blieb er unvermittelt stehen.

»Hier ist es! Na, habe ich zu viel versprochen? Schau mal, wie viel Platz die Außenterrasse bietet. Außerdem ist das ein Ecklokal, man kann also gleich von zwei Seiten Werbeschilder aufstellen. Direkte Nachbarn, die unsere Musik stören könnte, gibt es glücklicherweise nur zur Rechten. Wie du im Vorbeigehen vielleicht bemerkt hast, handelt es sich um einen deutschen Arzt, eine Autovermietung und einen Chinamarkt. Die dürften allesamt abends geschlossen haben, wenn bei uns der Bär steppt«, referierte der frischgebackene Pächter.

Man musste schon genau hinsehen, um hinter den schmutzigen, mit Zeitungspapier abgeklebten Fenstern im Erdgeschoss eines hässlichen, dreistöckigen Apartmentgebäudes ein ehemaliges Lokal zu erkennen. Rostige Geländer umrahmten die breiten Balkone, an deren Ecken bereits der Beton abbröckelte. Eindeutig eine Bausünde aus den frühen Siebzigern.

Das, was ihr bärtiger Begleiter soeben großspurig als ›Terrasse‹ bezeichnet hatte, war im Grunde nur eine rechteckige Fläche aus stümperhaft verlegten, teilweise gesprungenen Waschbetonplatten, die ihre besten Zeiten garantiert schon hinter sich hatten. Ein paar Blumenkübel aus Beton, in denen verdorrte Pflanzen einen makabren Anblick darboten, rahmten den Außenbereich ein. Ein kahler Fahnenmast ragte in die Höhe.

Wären die einsame Palme am Straßenrand und der Blick auf ein Fitzelchen Meerespanorama nicht gewesen, hätte sich Greta wohl eher in einer total heruntergekommenen Plattenbausiedlung, irgendwo in Osteuropa, gewähnt. Sie war enttäuscht, um nicht zu sagen: schockiert.

Er bemerkte ihre skeptischen Blicke.

»Du musst dir vorstellen wie es aussieht, wenn wir alles sauber gemacht und hergerichtet haben. Der vorherige Pächter scheint schon vor einer Weile aufgegeben zu haben. Aber der Laden hat jede Menge Potential. Komm, wir gehen erstmal rein.«

Drinnen bot sich ein noch erheblich schlimmeres Bild.

Das gesamte Lokal war mit dunkelbraunem, verkratztem Holz verkleidet, was auch für den verwinkelten Tresen galt. Ein Blick in die Küche ließ Greta angewidert zurückprallen. Überall klebte altes Fett, und die Einrichtung wirkte – gelinde gesagt – altmodisch. Was die Geräte anging, schien einiges defekt oder zumindest total veraltet zu sein. Am Unterschrank der Spüle wellten sich aufgeweichte Pressspanplatten. Das einstmals weiße Furnier war stellenweise schon abgeplatzt.

Von der mit Gipsplatten abgehängten Decke hingen vereinzelt Kabel. Überhaupt wirkten die Elektroinstallationen nicht gerade vertrauenerweckend, waren teilweise auf Putz angebracht. Eine dicke Schicht Staub bedeckte Einrichtung und Fußboden. Tote Fliegen und Kakerlaken sowie ein Ekel erregender Gestank aus den Abflüssen rundeten den miesen Eindruck ab.

Kalles Augen schienen indes eine ganz andere Kneipe zu betrachten, all den Siff einfach auszublenden. Er strahlte immer noch wie ein Honigkuchenpferd, tätschelte den Bierzapfhahn so zärtlich, als handele es sich um das Köpfchen eines Kleinkindes. Dann wies er auf drei Stapel Stühle und ein paar Tische, die in einer Ecke zusammengeschoben worden waren.

»Ich hoffe, du bringst genügend Vorstellungskraft mit. Der Laden hat durchaus seine Vorzüge. Das hier sind zum Beispiel hochwertige Aluminiummöbel, nicht dieses Plastikzeugs, das die meisten Gastronomen aus Kostengründen aufstellen. Schwarze Kissen drauf – fertig.«

Er öffnete eine quietschende Tür.

»Die Toiletten sind erst vor drei Jahren saniert worden, sagte der Vermieter. Alles tipptopp, man muss nur den Putzlappen schwingen. Der Gestank rührt übrigens vom Abwasserkanal her, weil sich kein Wasser mehr in den Siphons befindet. Wir lüften jetzt für eine Weile durch und reißen das Zeitungspapier von den Fensterscheiben, dann sieht das hier gleich ganz manierlich aus.« Letzteres bezweifelte Greta schwer. Dafür war ihr klar geworden, dass Kalle offenbar ihren Einsatz als Putzhilfe erwartete, auch wenn er das nicht explizit erwähnt hatte. Seufzend sah sie an sich herab. Kleid und Sandaletten würden wohl ganz schön zu leiden haben.

»Wir müssen ein bisschen improvisieren«, grinste der Biker.

»Bis jetzt haben wir nämlich weder Strom noch Wasser, beides wird erst nächste Woche angeschlossen. Ich gehe mal beim Nachbarn fragen, ob wir ein paar Eimer füllen dürfen.«

Während vor den schmutzigen Fenstern die Sonne vom wolkenlosen Himmel knallte, machte sich Greta mit spitzen Fingern lustlos daran, das Zeitungspapier zu entfernen. Allerdings wirkte der Innenraum des Lokals dadurch nicht freundlicher, ganz im Gegenteil. Nun wurde nur noch deutlicher, wie abgenutzt und düster die Einrichtung war.

Am Abend verließen Kalle und seine Rockerbraut das Lokal völlig verschwitzt und erschöpft. Sehr viel hatte sich nicht verbessert, doch in der Glastür hing nun, anstelle des signalroten Se Alquila Plakats ein selbstgemaltes Pappschild mit der Aufschrift: Proxima Apertura: Biker’s Beach. Darunter hatte Kalle mit seinem Edding eine schwarze Sonne im Tribal-Stil gemalt, wie sie häufig als Tattoo-Motiv anzutreffen ist.

»Wird das dein Logo?«, wollte Greta wissen.

»Oh ja. Wir bringen es überall an. Ich lasse sogar eine Fahne damit bedrucken, und die hissen wir immer dann auf der Terrasse, wenn wir geöffnet haben. Allein das Piratenimage und die Rockmusik sollten genügend illustres Publikum anziehen«, entgegnete Kalle mit stolzgeschwellter Brust.

Immer wieder gebrauchte er dieses wir … Kalle schien fälschlicherweise davon auszugehen, dass sie ihre Entscheidung bereits getroffen hatte, und zwar – selbstverständlich – zu seinen Gunsten. An Selbstvertrauen schien es ihm nicht zu mangeln.

In dieser Nacht bescherte Karl-Heinz Manz seiner Gefährtin drei Orgasmen, die sich gewaschen hatten. Die älteren Hotelgäste aus dem Zimmer nebenan klopften vorwurfsvoll an die Zwischenwand, so laut hatte sie ihre Lust hinausgeschrien. Bis zur totalen Erschöpfung.

Ihr Frust darüber, diesen herrlichen Tag auf der Insel in einem finsteren Gebäude verbracht zu haben, schmolz wie Schnee in der Sonne dahin.