Dunkelsonne

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Gleich, mein Schatz. Bin heute etwas später dran. Dafür gibt es die leckeren Schmetterlingsnudeln mit Kräutersoße, die du so gerne magst. Hilfst du mir aufdecken?«

Der Junge nickte, öffnete die Besteckschublade. Greta plagte das schlechte Gewissen, weil sie heute ein Fertiggericht auftischte. Die halbe Stunde mit Kalle fehlte vorne und hinten. Ihr wurde wieder mal vollauf bewusst, wie eng ihr Arbeitsund Familienleben sie einschnürte. An Wochentagen gelang es ihr meistens erst gegen 21:30 Uhr, ein wenig abzuschalten und sich auf die Couch zu begeben, wo sie dann bis kurz vor Mitternacht träge liegen blieb und sich zusammen mit Dirk vom Fernsehprogramm berieseln ließ.

Manchmal beneidete sie ihre kinderlose Freundin, die einem 20-Stunden-Job bei einer Werbeagentur nachging. Kein Wunder, dass die fast jeden Nachmittag, bestens gelaunt und ausgeruht, auf Shoppingtour gehen konnte. Abends schwelgte sie mit ihrem wohlhabenden Mann in der Oper, auf Konzerten oder schlemmte beim Edel-Italiener. Sie führte das absolute Traumleben einer Prinzessin, jedenfalls stellte sich Greta das gerne so vor. Zugegeben, sie war ein bisschen neidisch.

Silke … was sie wohl zu ihrem Erlebnis von heute Nachmittag meinen würde? Wieder blieben ihre Gedanken unwillkürlich an Kalles bulliger Erscheinung hängen.

»Mama! Hast du gar nicht gehört, was ich sagte? Ich habe eine Zwei in der Englisch-Schulaufgabe bekommen!«

Im Türrahmen zur Küche stand ihr elfjähriger Sohn Sascha, verschränkte vorwurfsvoll die Arme vor der Brust.

Greta riss sich schuldbewusst zusammen, setzte ein liebevolles Lächeln auf.

»Wirklich? Oh, das ist toll. Ich sehe sie mir gleich nach dem Essen an. Solche Arbeiten unterschreibe ich natürlich gerne!«

So sehr sie sich auch bemühte, Kalle wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen. Den Abend verbrachte sie wie in Trance, vom Fernsehprogramm bekam sie kaum etwas mit.

Einmal fragte Dirk verwundert, weshalb sie vor sich hin lächle – ausgerechnet in einem Augenblick, da in der Glotze ein Serienkiller auf bestialische Weise zuschlug. Er konnte ja nicht ahnen, dass seine Frau sich im Augenblick geistig auf dem Sozius einer Harley Davidson wähnte und mit wehendem Haar eine palmenbestandene Strandpromenade entlang cruiste.

Sie stammelte eine Erklärung über Probleme am Arbeitsplatz, zu denen ihr soeben eine sinnvolle Lösung eingefallen sei. Insgeheim jedoch wunderte sie sich über sich selbst. Wie konnte man sich bloß so pubertär verhalten, von einem Motorradfahrer träumen und den eigenen Ehemann anschwindeln? Im Grunde hatte sie doch gar nichts zu verbergen, verdammt noch mal! Wie zur Bekräftigung dieses Gedankens kuschelte sie sich an Dirks knochige Schulter.

*

Freitag, 22. März 2014

16:30 Uhr. Es ging mit Riesenschritten auf Feierabend und das Wochenende zu. Greta Lindenhardt saß an ihrem Schreibtisch in der Anzeigenredaktion, den Kopf in beide Hände gestützt, und grübelte. Das angenehm warme, schwebeleichte Gefühl, das sie anfangs empfunden hatte, wenn sie unwillkürlich an die Begegnungen mit Kalle Manz denken hatte müssen, verkehrte sich zunehmend in ein Konglomerat aus dumpfen, bohrenden Zweifeln. Ein undefinierbares Verlustgefühl machte sich breit, piesackte ihre Seele mit immer derselben Frage. In den vergangenen drei Tagen hatte er sich nicht mehr bei ihr gemeldet … ob er das zum Abschied hingeworfene »bis bald« wohl ernst gemeint, oder das zweimalige Aufeinandertreffen bereits abgehakt hatte?

Ich kann ihn doch nicht anrufen, wie würde das für ihn aussehen? Schließlich bin ich eine verheiratete Frau mit zwei Kindern und überhaupt nicht an einer Affäre interessiert. Schon gar nicht mit einem unrasierten Verkäufer von Motorradklamotten, der Deodorants verweigert, betete sie sich selber vor.

Und dennoch – ihre Wunschgedanken schlüpften immer wieder unversehens unter der kühlen Beleuchtung durch Verstand und Gesellschaftskonformität hervor, stahlen sich davon und entwickelten ein geradezu anarchistisches Eigenleben.

Möchte er vielleicht anrufen, hat aber meine Nummer nicht? Unwahrscheinlich … sein Telefon müsste sie doch abgespeichert haben, sinnierte Greta mit gerunzelter Stirn. Der Gedanke, dass ein Treffen für die nächsten zwei Tage so oder so ein Ding der Unmöglichkeit wäre, schmeckte ihr überhaupt nicht. Sie musste, zusammen mit Dirk, ihren üblichen familiären Pflichten nachkommen. Großeinkauf, Malte zu seinem Freund fahren, Hausputz, Rasenmähen, Papiermüll wegbringen … und ehe man sich versah, war schon wieder Montagmorgen. Ein neuer öder Tag im Hamsterrad ihres Lebens.

»Was hat dir denn die Petersilie verhagelt?«

Nastasia Auerbach zog sich die vollen Lippen mit bordeauxroten Lipgloss nach, klappte den kleinen Schminkspiegel zu und verstaute beides in ihrer monströsen Handtasche. Ihr Schreibtisch sah bereits mustergültig aufgeräumt aus, dabei war erst in einer halben Stunde Dienstschluss.

»Nichts. Bin nur in Gedanken«, behauptete Greta abweisend. Wenn man der geschwätzigen Kollegin etwas anvertraute, konnte man es genauso gut gleich in die Zeitung schreiben. Sie verspürte keine Lust auf ein Gespräch mit dieser Hohlbirne. Falls deren Kopf zwischen den Ohren überhaupt irgendetwas beherbergen sollte, könnten es höchstens rollende Dornbüsche sein. Die Vorstellung amüsierte sie. Ihr entglitt ein Lächeln, welches sogleich fehlinterpretiert wurde.

»Siehst du, ich muntere jeden auf. Schon mein Vater meinte früher immer, ich sei wie ein kleiner Sonnenschein, der alle verzaubert. Apropos Sonnenschein. Das Wetter soll endlich besser werden. Ich werde mit meinem neuen Freund an den Brombachsee fahren. Was planst du fürs Wochenende?«

»Familienkram.«

Greta blätterte demonstrativ in einem Stapel Blätter, um die lästige Nervensäge loszuwerden. Ganz kurz war am Horizont ihrer verborgenen Sehnsüchte nämlich ein zarter Silberstreif, ein Ideenfragment aufgepoppt. Und das wollte sie in Ruhe weiter verfolgen.

Fünf Minuten später war der Entschluss gefasst. Sie würde auf dem Heimweg bei jenem Motorradshop vorbeifahren, in welchem Kalle arbeitete. Nicht hineingehen, oh nein, wie hätte sie das auch begründen sollen, ohne das Offensichtliche preiszugeben … aber vielleicht gelänge es ihr, wenigstens einen kurzen Blick auf ihn zu erhaschen. Schon der Gedanke, dass sie dem Biker so auf wenige Meter nahe kommen konnte, verursachte ein angenehmes Kribbeln.

Und, kühner Beschluss Nummer zwei: Falls er sie bis spätestens Dienstag nicht anrief, würde sie es tun. Unter dem Vorwand, dass sie ihm noch persönlich Glück für seine Auswanderung wünschen wolle. Ein warmer Energieschwall durchströmte ihren Körper bis zu den Zehenspitzen.

Die Tür öffnete sich. Mist, der übliche 16:59 Uhr Kunde, der auf den letzten Drücker aufzutauchen pflegte. Den konnte sie heute gar nicht gebrauchen! Ohne vom Schreibtisch aufzusehen, schaltete sie genervt den bereits herunter gefahrenen Computer wieder ein.

»Schönes Wochenende, bis Montag!«

Nastasia Auerbach glitt eilig aus der Tür. Typisch. Nur keine Überminuten riskieren.

Der verspätete Kunde trat an den Tresen, stützte die Ellbogen auf. Ein leises Knarzen, wie von steifem Leder.

»Kann ich bei Ihnen eine Kontaktanzeige aufgeben?«

Rumms! Ein Blitz schien geradewegs in Gretas Scheitel einzuschlagen, ihr wurde heiß und kalt. Röte schoss in ihr Gesicht. Sie riss den Kopf herum, blickte in freundliche Teddybärenaugen. Was ihr Herz längst hüpfen und jubilieren ließ, konnte ihr Gehirn noch gar nicht fassen.

»Kalle … äh … was tust du denn hier?«, stammelte sie linkisch. Ihre Fingernägel krallten sich in die Handballen.

»Sagte ich doch schon. Ich fühle mich einsam und suche nach Anschluss. Wie sieht es aus, könntest du mir da weiterhelfen? Zum Beispiel mit einem gemeinsamen Käffchen? Dann müsste ich dir auch keine Arbeit mit einer Kontaktanzeige aufhalsen. Würde vielleicht sowieso ein bisschen albern klingen … MalleKalle sucht Rockerbraut«, grinste er augenzwinkernd.

Sie fühlte sich überrumpelt. Freilich, sie hatte ihn sehen wollen, sehnlich auf ein Treffen gehofft – aber dass er gleich derart selbstbewusst die Initiative übernahm und keinen Zweifel daran ließ, dass er mehr von ihr wollte, erschreckte sie nun doch. Trotzdem

… diesen heimlich herbei gewünschten Augenblick ungenutzt verstreichen zu lassen, schien ihr keine Option zu sein. Sie packte ihre Bedenken am Wickel, warf sie kurzerhand über Bord.

»Eigentlich müsste die vermeintliche Rockerbraut nach Hause. Aber weil du es bist, kommt sie auf einen Sprung mit.«

Er strahlte aus allen Knopflöchern, hielt zuvorkommend die Tür auf. Greta zog mit pochendem Herzen ihre Jacke über. Ihr zitterten die Finger, als sie nach Schlüssel und Handtasche griff.

»Vergiss bloß nicht, aufs Knöpfchen zu drücken, sonst ist der Rechner übers Wochenende an. Wie gesagt, die doofe Kontaktanzeige brauche ich jetzt nicht mehr. Ist mir auch viel lieber so.« Noch niemals zuvor hatte Greta vergessen, ihren Computer auszuschalten. Aber was ging heute nur mit ihr ab? Verstand ade.

Körper, Geist und Seele befanden sich im Ausnahmezustand.

Eine Viertelstunde später ließ Kalle im Black Bean die Katze aus dem Sack. Wieder traf er sie völlig unvorbereitet.

»Jetzt mal ohne Scheiß, Greta … ich habe mich von der ersten Minute an voll in dich verguckt. Obwohl ich weiß, dass du verheiratet bist, konnte ich nicht dagegen ankämpfen. Litt seit unserem Date an Schlaflosigkeit und Unruhe. Ständig habe ich überlegt, wie ich es dir beibringen soll.

Nun ja, hier bin ich, der schwer verknallte Karl-Heinz Manz – und habe die Hosen quasi bis zu den Knien heruntergelassen. Bitte sag mir jetzt bloß nicht, dass ich es gefälligst vergessen soll. Du willst es doch auch, das sehe ich genau.«

 

Seine braunen Augen bettelten um Bestätigung, um Erlösung. Gefühlter Herzstillstand. Totale Sprachlosigkeit, staubtrocke-

ner Mund. Die Umgebung verschwamm vor Gretas Augen bis zur Unkenntlichkeit, löste sich in gleißendes Nichts auf. Seine Worte tanzten Polka durch ihre glühenden Gehirnwindungen und erzeugten eine glasklare Resonanz, die ihr eine Heidenangst einjagte. Immer noch dieser abwartende, flehende Dackelblick. Verdammt, sie musste etwas sagen!

»Ich bin … also … das geht keinesfalls, Kalle. Du hast schon Recht, irgendwas empfinde ich für dich. Aber vielleicht ist das bloß eine gewisse Faszination … ach, ich weiß doch auch nicht!« Sie sah unglücklich drein und hasste sich für das, was sie gerade von sich gegeben hatte. Ihr Herz rebellierte, doch der Verstand feierte sie dafür. Sie vermied tunlichst den Blickkontakt, starrte aus dem Fenster. Dort balgten sich drei Spatzen zeternd um ein paar Brotkrümel.

Er bemerkte ihre innere Zerrissenheit.

»Das ist nicht dein Ernst. Du hast nur Angst – wegen deiner Ehe und deinen Kindern. Da wird sich mit der Zeit eine Lösung finden. Schau, wir könnten es erst mal langsam angehen lassen und sehen, was herauskommt. Echte Liebe lässt sich sowieso niemals unterdrücken. Wenn du deine Gefühle für mich einfach ignorierst und eisern so weitermachst wie bisher, wirst du jedenfalls verkümmern. Eine supertolle Frau wie du gehört mitten ins pralle Leben, nicht in eine Zwangsjacke aus Pflichten. Ich würde dir helfen, sie auszuziehen.«

Was für eine tiefe, wohlklingende Stimme er doch besaß. Bei ihm wirkte sogar der breite fränkische Dialekt sehr angenehm. Sie selbst versuchte hingegen stets, ein klares Hochdeutsch zu sprechen, obwohl sie in Nürnberg geboren war. Es klang ihrer Ansicht nach edler, gebildeter.

Er hatte sie im Nullkommanichts in seinen Bann gezogen. Aber war das gut? Sie durfte ihm keinesfalls überstürzt nachgeben, nicht gleich jetzt. Und überhaupt. Die Zwangsjacke ausziehen, hatte er gesagt … also ging es ihm wohl vorrangig um schnellen Sex, wie den meisten Männern!

Nicht mit ihr. Sie war kein billiges Motorradluder, das man nach dem zweiten Date mal eben so flach legen konnte. Was dachte der sich!

Malte und Sascha tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Das Gewissen meldete sich mit erhobenem Zeigefinger.

Zusammenreißen, bloß keine Tatsachen schaffen, die du hinterher bereuen würdest, schoss ihr spontan durch den Kopf. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

»Ich fahre besser nach Hause. Danke für deine Gesellschaft, war nett, dass du mich abgeholt hast. Wenn du willst, können wir Freunde bleiben und uns hin und wieder mal hier treffen.«

Kalle erstarrte förmlich zu einer Salzsäule, er schnappte nach Luft. Die unterkühlte Antwort schien ihm nahe zu gehen. Er blickte drein wie ein getretener Hund.

»Au weia … habe ich etwas Falsches gesagt? Falls ich dich aus Versehen beleidigt haben sollte, dann tut mir das leid. Ich bin manchmal zu direkt und ein wenig unbeholfen in meiner Ausdrucksweise. Bitte geh nicht!«

Er legte seine behaarte Pranke auf ihre Hand, doch sie zog sie zurück. Nervös schaute sie sich nach dem jungen Kellner um. Panik überschwemmte ihr Bewusstsein, löste einen Fluchtreflex aus. Nur bezahlen und weg von hier.

»Ich verstehe … du brauchst Zeit, um darüber nachzudenken. Hätte ich mir eigentlich denken können. Ich alter Trampel bin dir mitsamt der Tür ins Haus gefallen. Na gut, das muss ich wohl einsehen. Greta, mir liegt wirklich viel an dir. Wirst du mich in den nächsten Tagen anrufen?«

Sie sah bewusst an ihm vorbei.

»Nein … nun ja – vielleicht.«

Da der Kellner sich immer noch nicht blicken ließ, ging sie zum Tresen, um ihren Kaffee zu bezahlen. Nur ihren. Sie nickte Kalle zum Abschied kurz zu – und weg war sie.

Den Weg zum Auto legte Greta im Laufschritt zurück. Mehrmals drehte sie sich hektisch um, so als würde sie verfolgt. Aber da war kein schnaufender Kalle Manz, der ihr hinterher rannte. Vermutlich saß er immer noch, völlig perplex und bitter enttäuscht, am Fenstertisch im Black Bean.

Sie erreichte das Parkhaus, warf sich seufzend in den Autositz, klammerte die Hände ums Lenkrad und lehnte die Stirn dagegen. Ihr Atem ging stoßweise. Was war da gerade passiert, wieso hatte sie derart überreagiert? Zwei gegensätzliche Gefühle stritten in ihrer Brust um die Vorherrschaft. Einerseits war sie froh, der Versuchung widerstanden zu haben, auf der anderen Seite plagte sie ein diffuses Verlustgefühl.

Was um alles in der Welt wollte sie eigentlich wirklich … hatte Kalle mit seiner frechen Einschätzung recht? War es an der Zeit, die Fesseln ihres allzu durchorganisierten Lebens loszuwerden? Aber das ging doch nicht, trotz aller Unzufriedenheit. Sie musste ihrer Verantwortung für zwei Kinder gerecht werden, verdammt noch mal. Und Dirk – der war zwar weder ein Adonis noch bemühte er sich noch besonders um sie, doch sie waren halt auch schon seit fünfzehn Jahren verheiratet. Eine gewisse Ödnis kam nach dieser Zeitspanne wohl in der besten Ehe auf. Kein Grund, einfach hinzuschmeißen.

Soll ich Kalle am Montag anrufen, mich für meinen überstürzten Abgang entschuldigen und ihn zu einem Versöhnungs-Käffchen einladen? Ach, diese Entscheidung vertage ich besser auf später. Jetzt fahre ich erst einmal nach Hause, entschied Greta und startete den Motor.

Trotzdem, sie fühlte sich immer noch wie verzaubert. Es gab jemanden, der sich für sie interessierte, den sie scheinbar über die Maßen reizte. Das schmeichelte ihr. Klar, es hatte nach ihrer Heirat hin und wieder kleine, harmlose Flirts gegeben. Komplimente

heimste sie auch des Öfteren ein. Sowas Unverblümtes wie heute war ihr allerdings noch nie passiert.

Erstaunt spürte sie Feuchtigkeit zwischen ihren Oberschenkeln, die den Steg des Höschens durchtränkt hatte. Kopfschüttelnd, mit einem zarten Lächeln auf den Lippen, bog sie in den Feierabendverkehr ein.

*

Dirk Lindenhardt lehnte mit Leichenbittermiene an der Küchenzeile, eine Tasse Tee in der Hand. Greta fiel wieder mal auf, dass er keinen Arsch in der Hose hatte. Seine Rückansicht bildete vom Nacken bis zu den Fersen quasi eine glatte Fläche.

»Hallo Schatz!«

Greta stellte schwungvoll eine prall gefüllte Tüte auf die Arbeitsfläche neben dem Herd, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Er stand weiterhin nur stocksteif da, reagierte kaum. Sie stutzte.

»Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

Tiefer Seufzer aus dem hintersten Winkel seiner Seele.

»Sieht man mir das an, ja? Im Büro war heute alles wieder total nervig. Du weißt doch, wir haben einen neuen Dienststellenleiter. Und der hat … blablabla, blablabla … «

Greta hörte nicht mehr zu. Es war immer dasselbe. Ihr Gatte konnte sich im Amt wegen seiner allzu duldsamen, harmoniesüchtigen Wesensart schlecht durchsetzen. Regelmäßig übervorteilten ihn Kollegen, nutzten seine Gutmütigkeit skrupellos aus. Anstatt sich endlich zu wehren, hielt er am Abend ihr endlose Monologe, um sich auszukotzen. Nein, er hatte wirklich in keiner Hinsicht einen Arsch in der Hose. Manchmal verachtete sie ihn für seine weibische Schwäche.

Unwillkürlich verglich sie ihn mit Kalle. Der würde sich vom neuen Chef garantiert nichts bieten lassen, dem blöden Beamtenpack vermutlich eins auf die Zwölfen geben. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Manz, wie er lässig durch die Behörde walzte und Backpfeifen verteilte. Und er hatte sehr wohl einen Arsch in der Hose, wie ein richtiger Mann. Neben ihn hingestellt, sähe Dirk aus wie ein windiger Schulbub mit Haarausfall. Um einen halben Kopf kleiner war er auch.

»Findest du meine Erzählung zum Lachen, oder wie darf ich das verstehen?«

Dirk warf ihr einen waidwunden Blick zu, wartete keine Antwort ab und verließ mit hängenden Schultern die Küche.

Greta wusste genau, was nun folgte. Er würde in den Keller gehen, sich in seinem Arbeitszimmer an den Computer setzen und dort so lange im Selbstmitleid schwelgen, bis sie ihn zum Essen rief. Er war ja so schrecklich berechenbar!

*

Mittwoch, 27. März 2014

Ganze vier Tage hatte es Greta geschafft, ihren Vorsatz, Kalle zu vergessen und sich stattdessen mehr um ihren Mann zu bemühen, durchzuhalten. Jedenfalls den zweiten Teil. Der Familienausflug am Sonntag ins Erlebnisbad Palm Beach war nett gewesen, mehr aber auch nicht. Nahezu keine Stunde verging, in der sie nicht an den Biker gedacht hätte. Dabei wäre ihr fast entgangen, dass Sascha seinen jüngeren Bruder bei einer der üblichen Raufereien brutal unter Wasser drückte, was diesen husten und japsen ließ.

Was mag er jetzt gerade machen, wie sähe er wohl in einer knappen Badehose aus, baggert er womöglich außer mir noch andere Frauen an …

Es war wie eine bittersüße Sucht, gegen die sie nicht anzukämpfen vermochte. Zudem schien sie empfindsamer geworden zu sein. Jeder Song im Autoradio, in dessen Text es um Liebe und Schmerz ging, drang ihr tief ins Gemüt, berührte etwas in ihrem Inneren.

Auf der Arbeit fiel sie durch atypische Unkonzentriertheit auf. Es war äußerst peinlich gewesen, als sie gestern ausgerechnet von Nastasia Auerbach auf einen Flüchtigkeitsfehler hingewiesen worden war und Kollegen das mitbekamen. Ein schöner Triumph für diese dumme Kuh, die selber nichts auf die Reihe brachte.

Jetzt war Mittagspause, und Greta vertrat sich in der belebten Nürnberger Fußgängerzone die Beine. Ausnahmsweise schien heute die Sonne schwach durch einen milchigen Dunstschleier, ein Hauch von Frühlingsluft streifte um die kahlen Bäume.

Es half leider alles nichts. Sie musste anrufen, um nicht vollends verrückt zu werden. Längst haderte sie mit ihrem feigen Rückzug von vergangenem Freitag.

Ob er sehr böse auf mich ist? Vielleicht will er mich inzwischen gar nicht mehr sehen, fragte sie sich besorgt, während sie auf die Wahltaste ihres Smartphones tippte. Die Fünfundvierzigjährige hielt vor Anspannung die Luft an, blieb stehen. Wie ein Fels in der Brandung stand sie inmitten vorüber hastender Passanten, die ihre Mittagspause für schnelle Besorgungen nutzten, und presste das Handy ans Ohr.

Ein Piepton in kurzen Intervallen ertönte. Scheiße, besetzt. Doch kaum hatte sie enttäuscht auf den kleinen roten Telefonhörer gedrückt, klingelte ihr neues I-Phone. Dirk hatte es ihr vergangenes Weihnachten geschenkt.

»Ja … ähm … hier ist Kalle. Bitte leg nicht gleich auf, Greta. Ich musste mich jetzt einfach vergewissern, ob ich es neulich für immer und ewig versaut habe«, stammelte eine verlegene Bassstimme.

»Das muss sowas wie Gedankenübertragung gewesen sein. Ob du es glaubst oder nicht, ich wollte dich auch gerade anrufen. Du warst nur schneller«, gestand Greta gerührt. »Und ich hätte heute nach der Arbeit ein Stündchen Zeit für dich. Das heißt, wenn du darauf noch Wert legst«, fügte sie hastig hinzu.

»Ob ich … na, du bist gut! Liebend gerne sogar. Dann sehen wir uns kurz nach 17 Uhr im Black Bean

»Ich würde lieber ein paar Schritte spazieren gehen, das Wetter ist heute so schön. Aber nicht hier in der Stadt. Wie wäre es mit dem Dutzendteich?«

»Prima Idee. Weißt du was? Wir könnten gemeinsam mit dem Bike dorthin fahren. Ich bringe einen zweiten Helm mit, sitze ja gewissermaßen an der Quelle.«

Gretas Herz geriet bei der Vorstellung, wie sie sich wieder eng an Kalles Rücken schmiegte, kurzfristig aus dem Takt.

»Warum nicht? Aber bitte parke die Harley ums Eck und warte dort, komm nicht wieder in die Anzeigenredaktion. Das fällt sonst zu sehr auf. Ich möchte dummes Gerede vermeiden, meine lieben Kollegen sind alle so sensationslustig. Wahrscheinlich eine bei Zeitungsleuten durchaus übliche Berufskrankheit«, entgegnete Greta, gespielt ironisch.

»Versteht sich von selbst. Und eines wollte ich dir noch sagen. Ich werde dich nicht mehr in Verlegenheit bringen oder dich in irgendeiner Form bedrängen. Du entscheidest, wie weit es mit uns beiden kommen wird.«

»Einverstanden. Aber jetzt muss ich schleunigst ins Büro zurück, sonst ist womöglich der pünktliche Feierabend passé. Speziell heute würde mir das gar nicht in den Kram passen«, lachte Greta und setzte sich in Bewegung.

 

Sie konnte natürlich nicht ahnen, dass sie soeben innerhalb weniger Sekunden die Weichen für den Rest ihres Lebens gestellt hatte. An diesen Schlüsselmoment sollte sie später noch lange zurückdenken.

*

Kalle bog mit Schwung auf den Parkplatz des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände ein. Greta bedauerte, dass die Fahrt bereits zu Ende war. Sie setzten synchron die Helme ab, und Greta schüttelte ihre Frisur in Form.

»Hier bin ich schon lange nicht mehr gewesen«, bemerkte Kalle, während sein Blick über die monströse Kongresshalle aus der Nazi-Zeit streifte. »Aber ich staune jedes Mal über die Ausmaße dieses Bauwerks. Glaub mir, das Ding wird noch stehen, wenn das restliche Nürnberg längst in Schutt und Asche liegt.«

»Genau das war ja auch Adolfs Absicht«, bemerkte Greta in abfälligem Ton. »Sich und seinen kranken Größenwahn immer und überall in Erinnerung zu bringen. Wie man sieht, ist ihm das auch bestens gelungen. Fast jeden Abend gibt es Dokus bei den Nachrichtensendern. Hitlers Sekretärin, Obersalzberg, Bunkeranlagen in der Normandie, Blitzkrieg in Polen … man kann diesem Thema bis heute kaum ausweichen. Jedes noch so triviale Zeitzeugendokument ist wohl bereits aus der angestaubten Kiste der Abscheulichkeiten gezerrt und gesendet worden.

Ich habe mich fast schon gefragt, ob sie Adolf und seine finsteren Schergen irgendwann beim gemeinsamen Schneiden der Zehennägel zeigen. Ach, ist doch wahr!«, echauffierte sie sich.

Kalle musste lachen. Es klang rau und dröhnend.

»So ungefähr denke ich darüber ebenfalls. Scheinbar merken jene ständigen Mahner gar nicht, dass dieser Wahnsinnige auf solche Art und Weise auf ewig im Gedächtnis der Bevölkerung haften bleibt – und damit eben auch sein Gedankengut. Man sieht vor allem in Ostdeutschland, dass die Nazis nicht kleinzukriegen sind. Nun ja, wir Deutschen werden noch lange mit der Erbsünde leben müssen.«

Sie schlenderten jetzt am Wasser entlang, gingen mit einem halben Meter Abstand nebeneinander her, ohne sich zu berühren. Einige Spaziergänger betrachteten das ungleiche Paar neugierig, manche riskierten gar einen zweiten Blick.

Er war in verschlissene Billigjeans, ein verknittertes kariertes Flanellhemd und die unvermeidliche, an den Ärmelkanten abgestoßene schwarze Rindslederjacke gekleidet. Sie trug im Gegensatz dazu ausschließlich Designerklamotten.

Zwar hatte sie an diesem Morgen mit einem Date gerechnet, beziehungsweise inständig darauf gehofft, und daher im Kleiderschrank bewusst ebenfalls zu Jeans gegriffen. Aber man sah auf den ersten Blick, dass es sich dabei um ein teures Stück von Hilfiger handelte. Die feuerrote, taillierte Lederjacke mit silberglänzenden Zippern stammte wiederum von Guess. Auch dabei handelte es sich um ein Geschenk von Dirk, der ausgesprochen markenaffin einkaufte. Schicke schwarze Stiefel mit Absatz, die perfekt zur Handtasche passten, rundeten das edle Outfit ab.

Er musterte sie von der Seite.

»Echt, du siehst zum Anbeißen aus, Greta. Deswegen gaffen die Leute alle so. Sie beneiden mich.«

»Danke.«

Keiner von beiden wagte es, das brisante Thema von vergangenem Freitag anzuschneiden. So unterhielten sie sich angeregt über die Weltpolitik, Gretas Arbeit und Kalles Auswanderungspläne, während sie gemächlich den Großen Dutzendteich umrundeten. Mehrfach musste der Biker dem drängenden Impuls widerstehen, nach der Hand seiner attraktiven Begleiterin zu greifen oder einen Arm um die Schultern zu legen. Es hätte sich für ihn zwar goldrichtig angefühlt, aber er befürchtete eine neuerliche Überreaktion.

Insgeheim staunte Greta über ihren Gesprächspartner. Welches Bild hatte sie eigentlich von Bikern gehabt, bevor sie Karl-Heinz Manz kennengelernt hatte? Dumm, brutal, skrupellos? Dieser Mann wollte jedenfalls nicht ins Klischee passen. Er war unkonventionell, keine Frage, wirkte aber auch weltoffen, intelligent und einfühlsam. Jetzt wühlte er in der Innentasche seiner Motorradjacke, zog einen USB-Stick hervor.

»Ich habe dir etwas mitgebracht. Die Musik wird dir helfen, nach der Arbeit runterzukommen und dich ein wenig zu erholen. Sind allesamt Lieblingssongs von mir. Ich habe extra die ruhigeren ausgewählt. Du magst doch Rockballaden?«

»Klar! Normalerweise dudelt bei mir zu Hause zwar das Radio, aber ich werde mir deine Auswahl natürlich gerne anhören«, versprach Greta lächelnd und versenkte den Stick in den Tiefen ihrer Handtasche.

Inzwischen versank die Sonne am Horizont, färbte die feinen Nebelschwaden am See rötlich. Es wurde merklich kühler, der Wind frischte auf. Greta fröstelte in ihrer dünnen Lederjacke. Sie blickte auf den Chronometer. 18:21 Uhr.

»Meine Güte, wie schnell die Zeit vergangen ist … ich muss schleunigst nach Hause!«

»Dann beeilen wir uns ein bisschen. Schau, da vorne kommt schon das Dokumentationszentrum in Sicht. Wir sind gleich da. Ich fahre dich auf dem schnellsten Weg zu deinem Auto«, beschwichtigte Kalle.

Sie hakte sich bei ihm unter, um mit ihren Absätzen schneller gehen zu können. Ein verknackster Knöchel wäre das letzte, das ich jetzt gebrauchen könnte. Wie gut sich seine Nähe anfühlte, und wie anders

… er vermittelte ihr schon durch seine Körpergröße und Statur ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, das sie bei Dirk vergeblich suchte. Sie fror nicht einmal mehr. Im Gleichschritt bogen sie auf den Parkplatz ein.

Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Die Harley stand einsam und alleine in der Abenddämmerung. Widerwillig ließ Greta Kalles starken Arm los, doch der Zauber des Augenblicks blieb seltsamerweise bestehen.

»Schade, dass du nach Hause musst. Wer weiß, wann du das nächste Mal so viel Zeit für mich aufbringen kannst … dürfte ich dich zum Abschied wenigstens noch kurz knuddeln? Hier sieht uns niemand, und nachher am Parkhaus rennst du mir ja doch gleich hektisch davon«, appellierte der Biker. Er öffnete die Arme weit und legte den Kopf schief.

Ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, schmiegte sich die verheiratete Mutter von zwei Kindern an seinen Brustkorb, rieb ihre Wange an seinem dichten Bart. Ihr entfuhr ein Seufzer, und er brummte wohlig. Bildete sie sich das nur ein, oder drückte er seinen Unterleib auf einmal fester gegen den ihren?

»So, jetzt sollten wir aber fahren«, mahnte Greta und löste sich von ihm. Beide stiegen auf das Motorrad, und schon manövrierte Kalle sich und seine Angebetete sicher durch den Südosten Nürnbergs. Die Straßenbeleuchtung flammte auf.

Vor dem Parkhaus, in dem ihr Tigra stand, verabschiedeten sie sich lediglich mit einem freundschaftlichen Händedruck. Wie auf Wolken ging Greta zum Kassenautomat. Auf der Fahrt nach Hause baute sie fast einen Auffahrunfall, so abwesend war sie mit ihren Gedanken.

Ihre Familie wartete bereits, Dirk hatte sich Sorgen gemacht. Seine Fragen nervten, störten sie bei der gefühlsmäßigen Nachlese dieses Nachmittags.

»Stehe ich unter Totalüberwachung, oder was? Ich hatte heute jede Menge Stress auf der Arbeit, bin noch spazieren gegangen! Es muss doch zwischendurch möglich sein, mich für ein Stündchen aus meiner täglichen Tretmühle abzuseilen«, warf sie ihm schnippisch hin.

In dieser Nacht kam es zum ersten Mal vor, dass sie sich Dirk unter Vortäuschung von starken Kopfschmerzen verweigerte.

*

Freitag, 25. April 2014

Mit dem Eintreffen des Sergeant-at-Arms war die erhabene Runde aus Einprozentern komplett. Der fettleibige Präsident des namhaften Rockerclubs eröffnete die allwöchentliche Sitzung der Führungsriege im Clubhaus, indem er seinen Holzhammer auf die polierte Tischplatte niederrauschen ließ.

Der Secretary saß zwei Plätze entfernt. Er band sein störrisches, langes Haar im Nacken zusammen und verkündete die Tagesordnung. Es ging um ein geplantes Patchover und die dazugehörige Party, um einen Charity Run am Wochenende und darum, ob man den Prospect Phil im Sommer zu einem Vollmitglied aufsteigen lassen sollte.