Der Schreckenswald des Hoia Baciu

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Die Tür war fest verrammelt, kein Licht erhellte die schmutzigen Fenster. Die hübsche himmelblaue Farbe, die Marta erst vor kurzem so bewundert hatte, schien in Windeseile verblichen zu sein. Sie blätterte bereits in großen Stücken ab. Sooft sie auch an der Tür klopfte und rief, es drang keinerlei Lebenszeichen nach draußen. Also musste sie weitergehen.

In der angrenzenden Hofeinfahrt stand jene flinke Frau, welche gerade vor ihr weggelaufen war. Atemlos und wild gestikulierend, erzählte sie den Bewohnern des Hofes etwas über einen schlimmen Fluch, der über die Gegend gekommen sei. Kaum sahen die Bauersleute Marta, liefen sie in ihre Häuser und schlugen die Türen zu.

Dieselbe Prozedur wiederholte sich an den Häusern drei und vier und Marta begann bereits wieder bitterlich zu weinen. Die Leute verhielten sich komisch, schienen alle Angst vor ihr zu haben. Warum nur?

Zum Glück entdeckte sie jenen schmalen Trampelpfad, welcher zwischen zwei Scheunen hindurch zu ihrem eigenen Dorf führte. Sie erkannte ihn an einem kleinen Holzkreuz, das zur Erinnerung an den Sterbeort eines Dorfjungen an der Gabelung aufgestellt worden war. Er war im vergangenen Sommer unglücklich gestürzt, mit dem Kopf auf einen Stein geprallt. Mama hatte ihr die Geschichte immer dann zur Warnung erzählt, wenn sie zu wild umhersprang. Heute waren im Gegensatz zu sonst aber keine Blumen unter dem Kreuz niedergelegt.

Die Sonne schien jetzt intensiver, wärmte die bloßen Beine des Mädchens. Marta fühlte sich gelenkiger, begann zu laufen. Hinter der nächsten Wegbiegung musste ihr Elternhaus liegen! Sie brach vor Freude in Tränen aus, als sie Mutter und Vater mit einer dritten Person im Garten stehen sah und versuchte, noch etwas schneller zu laufen.

Aber was war das? Ihre Mama stieß einen schrillen Schrei aus, fiel einfach um. Papa wurde blass, bekreuzigte sich und wich in Richtung des Hauses zurück. Jemand lief über die Hügelwiese davon. Der farbenfrohen Kleidung nach zu schließen, handelte es sich um jene Frau, die Marta zuerst erblickt und total überreagiert hatte.

Trotz alledem fasste sich die Kleine ein Herz und ging auf das Wohnhaus zu. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Ihr Papa saß in der Stube, zitterte wie Espenlaub. Er schien zu beten.

Sie ging auf ihn zu, wollte ihn umarmen. »Freut ihr euch denn gar nicht, dass ich wieder da bin? Ich hatte heute Nacht solche Angst im Wald, habe großen Hunger. Mir ist eiskalt. Und Mama scheint es nicht gut zu gehen. Sie liegt still da draußen und rührt sich nicht«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Du … du … nein, das kann nicht sein! Du warst fünf Jahre lang verschollen!«, stieß ihr Vater hervor, entzog sich ihr.

»Fünf Jahre? Nein, bloß heute Nacht!«, schluchzte Marta, der die Situation immer unheimlicher wurde. Sie blieb stehen, starrte ihren Vater an. Warum verhielt er sich nur so komisch?

»Und du trägst dasselbe Kleid wie damals, als du verschwunden bist. Wie könnte es möglich sein, dass du in der langen Zeit keinen einzigen Zentimeter gewachsen, nicht gealtert bist? Nein, dies muss ein Blendwerk des Teufels sein! Geh weg!«, brüllte der tief gläubige Eugen Ionescu.

»Marta!«, krächzte Anna, die wieder zu sich gekommen war und ihren zitternden Körper gegen den Türrahmen lehnte.

»Mama!« Das Kind lief freudig zu ihr, umarmte die ausgemergelte Frau. »Wenigstens du hast mich noch lieb!«

Mutter und Töchterlein umarmten sich und allmählich bereute auch Eugen seine panische Reaktion. Er kam langsam näher, befühlte Martas Kleid, dasjenige mit den weißen Margeriten am Saum. Es war schlammverschmiert, sah ansonsten aber genauso aus wie am Tag, als Anna es fertig genäht und der Kleinen stolz präsentiert hatte.

Dann schlugen die Gefühlswogen urplötzlich auch über ihm zusammen, er herzte und küsste seine kleine Tochter, die eigentlich inzwischen zehn Jahre alt hätte sein sollen. Ihre zarte Haut fühlte sich immer noch ein wenig kühl an, erwärmte sich jedoch bei Berührung schnell. Nun war er vollends davon überzeugt, dass dies tatsächlich sein quicklebendiges kleines Mädchen war, kein böser Geist.

Es dauerte noch Monate, bis auch die Dorfgemeinschaft willens war, an ein Wunder des Herrn zu glauben und Marta wieder zu akzeptieren. Manche Nachbarn, die Anna Unrecht getan hatten, leisteten beschämt Abbitte – andere nicht. Diese, zumeist alten, Weiber gingen davon aus, dass die gesamte Familie verflucht sei und blieben skeptisch auf Abstand. Zwei Jahre nach dem Vorfall gelang es den Ionescus endlich, ihr Haus samt Grundstück zu einem Spottpreis an einen Ungarn zu verkaufen. Sie verzogen ans Schwarze Meer.

Vom Tage ihrer Wiederkehr an wuchs das Mädchen Marta Ionescu ganz normal weiter und alterte wie jeder andere Mensch. Sie konnte sich zeitlebens nicht mehr daran erinnern, was in der Nacht ihres Verschwindens geschehen, wo sie gewesen war. Für sie waren in jenem unheimlichen Waldstück nur wenige Stunden verstrichen.

Sie wagte es nie wieder, auch nur in die Nähe dieses Ortes zu gehen, fühlte sich jedoch zeitlebens auf unbeschreibliche Weise mit ihm verbunden. Als Erwachsene zog sie nach Cluj-Napoca und verdiente ihren Lebensunterhalt als Fremdenführerin.

Kapitel 4

Der Wald schlägt wieder zu

Wingate Hall, Orono, Maine, USA, 12. Mai 1981

Die Sonne knallte ungetrübt vom Himmel. Temperaturen von über 25 Grad lockten die meisten Studenten der State University Of Maine nach draußen. Man saß in Grüppchen unter Platanen im Schatten und palaverte, döste oder steckte die Nase in ein Buch. Wer allerdings nicht zwingend auf dem Campus bleiben musste, gönnte sich lieber einen faulen Nachmittag im heimischen Liegestuhl oder ging baden. Die für die Jahreszeit außergewöhnlich hohen Temperaturen machten es möglich.

Liam Gregor Kavanaugh, Professor der Experimentellen Psychologie, schwitzte schon seit Stunden an seinem Schreibtisch über umfangreichen Korrekturarbeiten, die einfach kein Ende nehmen wollten. Zumindest war er sich nun sicher – Kimberley Statson und Brian McKinney konnten als seine erfolgreichsten Studenten dieses Semesters gelten und genau diese beiden würde er mit einem Sondereinsatz der Extraklasse belohnen.

Lächelnd suchte er seine verstreuten Papiere zusammen, lehnte sich mit einem Seufzer zurück und sah sinnierend aus dem Fenster. Eigentlich idiotisch, wenn man einen solch herrlichen Tag drinnen verbrachte! Ob er Kim und Brian die gute Nachricht sofort überbringen sollte? Aber wahrscheinlich würde er die beiden Studenten gar nicht auf die Schnelle ausfindig machen können, überlegte er weiter. Die hatten sicher Besseres zu tun als bloß darauf zu warten, dass ihr alter Prof mit einem Anliegen auf sie zukäme.

Sein Blick fiel auf einen Stapel Blätter, den er vorhin, seiner Pflichten wegen, widerwillig beiseiteschieben hatte müssen. Es war aber auch zu interessant, was die rumänischen Fachkollegen da zusammengetragen hatten! Es war die Rede von einem Wald, der in der Lage zu sein schien, das Bewusstsein mancher Wanderer nachhaltig zu verändern. War da eine negative Spielart der Schwarmintelligenz am Werk, oder vielleicht eine Massenhysterie? Könnten starke Erdstrahlen oder andere physikalische Phänomene dazu führen, dass verschiedenste Charaktere an derselben Stelle durchdrehten?

Oder trug die Tatsache, dass man der Gegend Transsylvanien allgemein eine mystische, unheimliche Bedeutung beimaß, die Hauptschuld für die vielfach beobachteten Entgleisungen? Voreingenommenheit konnte bei manchen Menschen beachtliche Auswirkungen auf die Psyche zeitigen und dazu führen, dass gar seltsame Wahrnehmungen beschrieben wurden, das wusste der Achtundvierzigjährige nur zu genau. Manche der von Betroffenen beschriebenen Auffälligkeiten erinnerten sogar unangenehm an Wahnvorstellungen, an angsterzeugende Halluzinationen.

Der Zufall wollte es, dass genau in jenem Moment Kimberley Statson an seiner offenen Bürotür vorbeimarschierte. Kurzentschlossen rief er: »Kim, hättest du einen Augenblick Zeit?«

Die Einundzwanzigjährige verlangsamte ihren Schritt, blickte aber nicht eben begeistert drein.

»Es dauert nur einen Augenblick, versprochen. Du wirst es hinterher nicht bereuen, mir fünf Minuten deiner Freizeit abgetreten zu haben«, schmunzelte Kavanaugh hintergründig.

»Was gibt es denn so Dringendes, Prof?«

»Och … nur einen Gratis-Extraurlaub für besonders artige Studenten«, flachste der Wissenschaftler.

Die junge Frau machte große Augen.

»Nein, Spaß beiseite! Ich möchte Brian und dich gerne zu einem Experiment überreden. Dieses Mal wird es aber nicht hier in der Umgebung stattfinden, sondern drüben in Europa.«

»Echt jetzt?«, fragte Kim ungläubig. Aber ihre blauen Augen strahlten mit der Sonne um die Wette. »Und wie kommen wir zu dieser Ehre? Mann, Europa … wo würden wir überhaupt hinreisen? Paris, London, Berlin?«

»Nicht ganz. Es geht nach Rumänien. Genauer gesagt, nach Transsylvanien. Wir fliegen mit der PAN AM nach Frankfurt, und von dort aus mit der Fluggesellschaft TAROM weiter nach Bukarest. Den Rest der Strecke legen wir mit dem Zug zurück. Ihr seid aktuell meine besten Studenten, und daher benötige ich euch als freiwillige Testpersonen.«

»Puh … ausgerechnet in den Ostblock. Braucht man da keine Sondergenehmigung?« Die hübsche Dunkelhaarige wirkte bereits weitaus weniger begeistert als noch vor einer Minute. »Und was genau wollen Sie an uns testen, wenn ich fragen dürfte?«

»Ersteres lasst meine Sorge sein, ich kümmere mich drum. Ihr braucht dann nur noch in den Flieger steigen und mit mir über den großen Teich reisen. Gültige Pässe habt ihr doch, oder? Die könntet ihr mir morgen bitte gleich vorbeibringen.

 

Wir werden gemeinsam ein Waldstück betreten, die Umgebung auf uns wirken lassen. Ich verrate absichtlich nicht vorher, weshalb und was es damit auf sich hat, um die Ergebnisse keinesfalls zu verfälschen. Wir gehen einfach hinein, spüren unseren Empfindungen nach und sprechen unsere Wahrnehmungen auf Band. Das wäre dann schon alles.«

»Klingt nicht gerade spektakulär. Da hatten wir schon spannendere Einsätze. Und für die mussten wir nicht erst so weit reisen«, moserte Kim enttäuscht. »Wann soll es eigentlich losgehen – und für wie lange?«

»Unmittelbar nach den Semesterferien, jedenfalls sofern ich bis dahin alles organisiert habe. Eine Woche Aufenthalt in Rumänien sollte uns genügen. Komm morgen nach der Vorlesung zusammen mit McKinney in mein Büro, dann besprechen wir das näher. Du darfst ihn gerne schon vorinformieren, wenn du willst.«

»Ist gut. Wäre das dann alles für heute? Ich bin nämlich nachher noch in der Eisdiele verabredet.« Kim wirkte hibbelig.

»Alles andere hätte mich auch gewundert«, grinste der Professor und vollführte eine scheuchende Handbewegung. Wie gerne hätte er die Zeit zurückgedreht, wäre auch noch einmal in diesem unbeschwerten Alter gewesen! Vielleicht hätte er damals mutiger sein und die hübsche Catherine anbaggern sollen …

*

Nachdem Brian McKinney von Kim erfahren hatte, was sein erklärter Lieblingsprofessor für das neue Semester plante, pfiff er anerkennend durch die Zähne.

»Super! Der Typ ist aber auch immer für eine Überraschung gut. He, ein kostenloser Kurzurlaub im Land der Vampire – ich finde das gigantisch«, schwärmte er.

»Du hast gut reden, bist ja so oder so mehr ein Einzelgänger, ein hoffnungsloser Nerd. Dich kann eine endlose Woche im Nirgendwo naturgemäß weniger schrecken«, seufzte Kim. »Bei mir sieht das hingegen völlig anders aus. Mein Freund wird alles andere als begeistert sein.«

»Ach komm schon! Eine Woche wird er wohl auf dich verzichten können, oder? Mensch, überleg doch mal! Wir stehen im Begriff, ein uraltes Mysterium mit den Mitteln der Wissenschaft zu entzaubern. Bist du denn gar nicht gespannt, was uns dort erwartet?«

»Hält sich bis jetzt in überschaubaren Grenzen«, meinte Kim kleinlaut. »Zumal der Prof sich vollkommen bedeckt hält, worum genau es dort gehen soll. Damit wir nicht voreingenommen sind, sagte er nebulös.«

Eine Stunde später waren die ambitionierten Studenten zumindest über die groben Rahmenbedingungen der Reise informiert. Mittlerweile hatte Kavanaugh es sogar geschafft, Kimberley Statsons Neugierde zu wecken, auch wenn sie der Gedanke, ausgerechnet in ein sozialistisches, extrem rückständiges Land hinter dem Eisernen Vorhang zu fliegen, immer noch ziemlich beunruhigte.

Der in Kimberleys Familie offen ausgelebte Patriotismus hatte bei ihr schon seit frühester Kindheit dazu geführt, dass sie von vornherein alles skeptisch ablehnte, was mit den Russen in irgendeiner Verbindung stand. Der sogenannte Kalte Krieg sorgte dafür, dass dies auch weiterhin so bleiben würde.

Es gab die Guten, also die Amerikaner und ihre Verbündeten, und es gab den Ostblock. Und nun sollte Kimberley sich, quasi pseudofreiwillig, bald auf jenem feindlichen Territorium bewegen. Speziell ihr Vater würde von dieser Nachricht keineswegs begeistert sein. Sie würde einiges zu hören bekommen. Allein die wissenschaftliche Neugierde hatte sie bei Professor Kavanaugh trotz aller Vorbehalte verbindlich zusagen lassen.

*

Baciu-Wald, 21. September 1981

Brian McKinney schleppte schwer an der Ausrüstung. Was hatte der verrückte Professor nicht alles in den Baciu-Wald mitnehmen wollen! Während Kim nur die leichteren Utensilien, wie Zeltplane und Proviant, im Rucksack auf ihren zarten Schultern trug, hatte man ihm eine sehr umfangreiche Fotoausrüstung, ein monströses Tonband-Aufnahmegerät, sowie einen Seesack mit zwei Wolldecken und drei Taschenlampen umgehängt. Kavanaugh selbst transportierte Unterlagen, Skizzenbücher – und die große Verantwortung, wie er grinsend angemerkt hatte.

Die Stimmung zwischen dem Professor und seinen Studenten wirkte ein wenig angespannt, besonders wegen Kims dauerhaft schlechter Laune, die sie offen zur Schau stellte. Stirnrunzelnd lief sie neben den beiden Männern her.

»So, wir sind fast da! Meinen Sie nicht, dass Sie allmählich die Katze aus dem Sack lassen könnten?«, quengelte die junge Frau.

Seufzend blieb der Wissenschaftler stehen. »Wie oft soll ich es dir noch erklären? Es ist nicht Sinn der Sache, dass ihr vorab Bescheid wisst«, kritisierte er seine Studentin.

»Aber Sie könnten uns zumindest einen Tipp geben, was uns in diesem Wald erwartet. Also, was gibt es da drin Anormales zu bestaunen? Draculas Geburtshütte, Vampirfledermäuse, mumifizierte Werwölfe – nun sagen Sie schon!«

»Nichts dergleichen, da muss ich dich leider enttäuschen. Dies ist einfach bloß ein faszinierendes Stück Land mit Bäumen darauf. Und ich möchte gern wissen, wie ihr beide auf … die besonderen Umstände reagiert, und zwar in physischer und psychischer Hinsicht«, erwiderte Kavanaugh ungerührt.

»Was denn für Umstände?«, bohrte Kim weiter.

»Verrate ich nicht. Jedenfalls noch nicht. Wenn du später selbst Wissenschaftlerin werden willst, darf man eine gewisse Disziplin erwarten. Ungeduld führt zu vorschnellem Handeln, zu voreiligen Schlüssen – und diese wiederum zu fatalen Fehlern«, tadelte der Prof mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ja ja, wir wissen es … genau beobachten, Schlüsse ziehen, das theoretisch Erarbeitete durch ausgiebige Experimente verifizieren – und frühestens dann erstmals drüber sprechen«, wiederholte Brian augenrollend jenes Credo, welches sie in seinen Vorlesungen öfters zu hören bekamen. Er zwinkerte dem Urheber verschwörerisch zu.

»Pah«, gab Kim von sich und ging mit verschränkten Armen weiter. Sie schien ein bisschen beleidigt zu sein.

Kurz darauf erreichten sie die Baumgrenze. Kavanaugh warf einen prüfenden Blick auf die in mieser Druckqualität hergestellte Wanderkarte, die sie gestern an einem Kiosk in Cluj-Napoca erworben hatten.

»Wir müssen ungefähr zwei Kilometer geradeaus, immer diesen Weg entlang gehen. Dann rechts abbiegen – und schon sind wir am Ziel«, murmelte er. Die Karte wurde wieder zusammengefaltet und in Kims Rucksack verstaut. Er erhöhte das Marschtempo. Alle drei verspürten jetzt jene zunehmende Erregung, welche sie vor innovativen Experimenten immer befiel. Selbst Kim konnte nicht mehr leugnen, dass die erwartungsvolle Anspannung mit jedem Schritt stieg.

»Hier müssen wir rechts abbiegen! Da vorne, zu dieser Lichtung gehen wir«, japste der Professor, dem die kurze Wanderung körperlich ziemlich zugesetzt hatte. Sein eklatantes Übergewicht erlaubte einfach keine allzu schnellen Bewegungen. Der Professor brachte beachtliche hundertvierzig Kilogramm auf die Waage. Nicht einmal seine buschigen Brauen konnten den Schweiß jetzt mehr davon abhalten, in die Augen zu rinnen.

»Da ist ja wirklich nichts zu sehen«, staunte Brian. »Nur eine Lichtung … und eine Reihe seltsam verkrümmter Bäume. Wollen Sie etwa den kognitiven Einfluss gewundener Baumstämme auf die Gehirnfunktionen studieren?«, versuchte er sich an einem halbseidenen Witz. Niemand lachte.

»Ihr könnt das Zeug jetzt irgendwo abstellen. Als erstes müssen wir uns darum kümmern, dass die blaue Plastikplane straff zwischen drei Bäumen gespannt wird. Nicht auszudenken, wenn die wertvolle Ausrüstung nass werden würde! Der Himmel sieht mir nicht gerade vertrauenerweckend aus. Danach basteln wir uns auf der Lichtung eine Stelle für das Lagerfeuer und beginnen sogleich mit der ersten Testreihe. Es wird kühl werden heute Abend.«

»Sie wollen doch nicht etwa über die gesamte Nacht hierbleiben?«, hauchte Kimberley entsetzt. Vorstellungen von ekligen Käfern, die unter den Klamotten ihren Rücken hinauf krochen und von klammer, alles durchdringender Kälte spukten durch ihre Erinnerungen an das letzte Ferienlager.

»Was sonst? Nachts wird es erst richtig interessant, weil die Wahrnehmung nicht so sehr von der Umgebung abgelenkt wird. Das kennst du doch von früheren Testreihen, Kim. Außerdem würden wir im Dunkeln kaum heil aus dem Wald herauskommen. Also bleiben wir bis zum Morgengrauen und finden heraus, was es hier eben herauszufinden gibt«, verfügte Kavanaugh. Kim und Brian setzten sich gehorsam in Bewegung, um die Plane aufzuspannen. Ihr Professor suchte derweil Feuerholz zusammen und legte einen Kreis aus Steinen, bereitete die Feuerstelle vor. Er wirkte über die Maßen aufgeregt, als handele es sich um einen Selbstversuch mit aufputschenden Drogen.

»Hast du eine Ahnung, was das hier werden soll?«, raunte die Studentin ihrem Kommilitonen zu. Der zuckte nur ratlos mit den Schultern.

»Ist doch vollkommen egal. Der Kavanaugh wird schon wissen, was er tut. Denk doch mal an unsere vorherigen Einsätze. Teils gruselig, teils beängstigend, manchmal überraschend im Ergebnis – aber immer sehr kurzweilig und überdies lehrreich sind sie gewesen. Wir verdanken dem Mann einiges, vergiss das nicht. Wenn ich nur an die Nacht denke, die wir letztes Jahr im verlassenen Wohnhaus dieses Serienmörders verbracht haben … ich hätte zuvor niemandem geglaubt, dass ich derart psychotisch auf jede Kleinigkeit reagieren könnte. Und doch geschah es – und wie!

Warten wir einfach ab. Der Sinn und Zweck der Aktion wird sich noch heute Nacht aufklären. Er fliegt nicht nur aus Spaß und Tollerei, noch dazu mit uns im Schlepptau, hierher, da bin ich sicher. Allein schon die Kosten müssen exorbitant ausfallen. Der Prof bezahlt das aus eigener Tasche, weil die Uni ihm in letzter Sekunde die Mittel verweigert hat«, plauderte der pummelige, nur einen Meter neunundsechzig große Student mit dem kupferblonden Haarschopf.

Eine Dreiviertelstunde später befanden sich alle Ausrüstungsgegenstände an Ort und Stelle. Während der Professor und Brian offensichtlich die Ruhe selbst waren und gemeinsam die Kamera auf ein Dreibeinstativ montierten, wurde die junge Frau immer nervöser. Sie konnte ihre eigene negative Reaktion auf diese harmlose Situation nicht verstehen.

Wieso wollte sie hier nur noch weg, fühlte sich seit der ersten Minute dermaßen unwohl? Der Wald war doch eigentlich ganz hübsch, ein laues Lüftchen wehte an diesem frühherbstlichen Tag und ihre beiden Begleiter mochte sie auch recht gerne leiden. Nichts unterschied diese harmlose Aktion momentan von einem gewöhnlichen Ausflug. Waren die nebulösen Bemerkungen des Professors womöglich bereits Teil des Experiments? Aber falls dem so wäre, was könnte ihre Dauer-Gänsehaut auslösen? Kim beschloss, Kavanaugh danach zu fragen.

»Du merkst also schon etwas? Great! Warte, ich nehme deine Beschreibung gleich auf!«, rief er begeistert. Die Studentin fühlte sich wie ein Versuchskarnickel wider Willen, doch sie riss sich zusammen und tat, was sie gelernt hatte.

»Kimberley Statson, Baciu-Wald, 21. September 1981, 14.35 Uhr.

Wir, der Student Brian McKinney, Professor Kavanaugh und ich, befinden uns seit etwa einer Stunde auf einer überschaubaren, kreisrunden Lichtung, inmitten des besagten Waldstücks. Einzig der Professor ist darüber informiert, worum sich dieses psychologische Experiment, zu dem wir eigens hier angereist sind, dreht. Effekte, die einer Erwartungshaltung geschuldet sind, können somit ausgeschlossen werden.

Ich möchte jetzt meine Empfindungen schildern. Schon vor dem Betreten des Waldstücks beschlich mich ein Gefühl von drohender Gefahr. Ich zögerte, als wolle ich mich selbst vor einem fatalen Fehler schützen. Eine nachvollziehbare Erklärung war nicht auszumachen.

Das Gefühl verstärkte sich, als wir hier auf der Lichtung eintrafen. Die Umgebung wirkt, nüchtern betrachtet, nicht im Mindesten beängstigend. Es scheint ein Wald wie jeder andere zu sein, nur dass einige der nahestehenden Bäume ein äußerst seltsames Wachstum aufweisen. Einer der dünnen Baumstämme sieht fast aus, als hätte jemand einen Knoten hineinknüpfen wollen. Diese speziellen Bäume sind auch erheblich kleiner als alle anderen. Noch etwas kommt mir komisch vor. Diese Lichtung wirkt irgendwie zu sauber, so als hätte jemand den Platz heute erst absichtlich gerodet, um auch kleinste Pflanzen zu beseitigen. Aber trägt eine solche Umgebung im Normalfall dazu bei, sich unwohl zu fühlen? Ich denke nicht.

Und doch prickelt meine Haut am ganzen Körper, als würden Ameisenkolonnen einen Wandertag abhalten. Ich habe eine Gänsehaut, und zwar dauerhaft. Mein Herzschlag ist beschleunigt, ich spüre einen leichten Druck auf der Brust. Meine Ohren klingeln und schmerzen ein wenig. Mir ist zum Davonlaufen zumute. Ende der Aufzeichnung, 14.40 Uhr.«

 

»Sehr gut gemacht«, lobte Kavanaugh. »Und jetzt du, Brian.«

»Aber ich merke doch überhaupt nichts«, protestierte der.

»Wirklich gar nichts?«

»Na schön, ein ganz verhaltenes Kribbeln vielleicht. Aber das könnte auch von Mücken kommen, die hier wahrscheinlich in Kompaniestärke herumschwirren.«

»Mücken? Welche Mücken? Ich habe keine gesehen!«, stellte Kimberley schadenfroh fest.

»Ist ja schon gut. Ich dokumentiere das«, gab Brian sich geschlagen und griff zum Mikrofon.

Der Professor fotografierte derweil die Lichtung aus sämtlichen nur denkbaren Blickwinkeln. Anschließend gab auch er zu Protokoll, dass er ein komisches Bauchgefühl bei sich feststelle und seine Unterschenkel zunehmend von Juckreiz befallen seien. Eine vorherige Berührung durch irgendwelche allergieerzeugenden Pflanzenteile könne er ausschließen, da er feste Wanderschuhe, kniehohe Socken und lange Hosen trage. Mückenstiche seien auf der Haut nicht feststellbar.

Es folgte eine Fotosession. Brian vor verkrümmten Bäumen, Kim, wie sie am Rand der Lichtung gemächlich im Kreis ging und Kavanaugh, wie er mit geschlossenen Augen genau in der Mitte stand. Noch zwei Mal bekräftigten alle drei Aktionisten an diesem Nachmittag, dass sich die geschilderten Symptome leicht zu verstärken schienen, dann senkte sich die Abenddämmerung über den Nordosten Rumäniens. Der Professor schnappte sich das Aufnahmegerät erneut.

»Die Luft kühlt jetzt merklich ab, und doch frösteln wir nicht. Der Boden scheint diffuse Wärme abzustrahlen, was merkwürdig erscheint, denn hier im Wald kann die Sonne diesen im Laufe des Tages ja eigentlich gar nicht so stark aufheizen. Im Übrigen gilt das Phänomen ausschließlich für diese Lichtung, denn anderswo fühlt sich der Boden ganz normal kalt und ein wenig feucht an. Ich habe das rundherum nachgeprüft.

Noch auffälliger ist das totale Fehlen der typischen Geräuschkulisse, die man im Wald um diese Zeit erwarten dürfte. Kein Käuzchen schreit, es raschelt nicht im Gebüsch. Ich frage mich, ob hier überhaupt Tiere oder Insekten leben.

Der Juckreiz auf der Haut wird stärker und Statson leidet mittlerweile zusätzlich unter migräneartigen Kopfschmerzen. Sie ist wortkarg geworden, sitzt bewegungslos auf einer Wolldecke und stiert mit weit aufgerissenen Augen vor ihren Füßen auf den Boden. McKinney versucht seit ein paar Minuten beruhigend auf das Mädchen einzuwirken, aber ohne sichtbaren Erfolg. Auch er muss sich ständig kratzen.

Ich bin der Einzige in der Gruppe, der Informationen über die eigenartigen Vorfälle im Baciu-Wald besitzt, die sich angeblich seit vielen Jahrhunderten ereignen sollen. Daher kann ich natürlich nicht ausschließen, dass dieses Wissen meine eigene Wahrnehmung ein bisschen beeinflusst.

Und trotzdem … ich glaube zu erkennen, dass sich unser Lagerfeuer anormal verhält. Die Flammen bleiben recht klein, messen in der Spitze nur etwa zwanzig Zentimeter. Sie lodern auch beim Nachlegen trockener Äste nicht höher. Die Farben des Feuers weichen ebenfalls von der Norm ab, sind blasser. Wie soll ich das beschreiben … sie changieren grünlich oder lila-bläulich. Ich kann selbstverständlich nicht ausschließen, dass dieser Effekt vom Holz verursacht wird, auch wenn dieses ganz gewöhnlich aussieht. Außerdem fühle ich eine Art … Präsenz. Das kann ich leider nicht näher definieren.«

Er legte das Mikrofon beiseite, griff wieder zum Fotoapparat, um das Gesagte mit aussagekräftigen Bilderserien zu belegen. Manchmal kam es durchaus vor, dass man hinterher etwas Interessantes auf Fotos bemerkte, das sich im Augenblick des Geschehens dem suchenden Blick entzogen hatte. Die menschliche Wahrnehmung weist eigenartige Tücken und Schwächen auf.

Der Auslöser seiner innovativen Spiegelreflexkamera klackte unaufhörlich. Es gab zwischendurch nur kurze Pausen, wenn der Blitz aufgeladen werden musste. Inzwischen hatte auch ihn eine nervöse Unruhe ergriffen, seine Souveränität schwand. Hier war etwas oberfaul. Nur was?

Kavanaugh erhob sich stöhnend aus der Hocke und stakste mit steifen Gliedern zu seinen Studenten hinüber; er fragte fürsorglich nach ihren Empfindungen, aber ausnahmsweise nicht für das Protokoll. Brian bedachte ihn wenigstens mit einem vorwurfsvollen Blick, Kim hingegen äußerte überhaupt nichts. Sie schien ein Loch in den Boden starren zu wollen.

Sollte er das psychologische Experiment besser an diesem kritischen Punkt abbrechen? Die wissenschaftliche Neugierde stritt heftig in seiner Brust – mit der eigenen Angst und der zunehmenden Sorge um die geistige und körperliche Gesundheit seiner Schutzbefohlenen. Andererseits war längst die Nacht hereingebrochen. Es herrschte Neumond und es war mittlerweile so stockdunkel geworden, dass man auf dem Rückweg die Hand vor Augen nicht erkannt hätte. Keine der Taschenlampen funktionierte, obwohl er alle drei in der Pension mit frischen Batterien versehen und ausprobiert hatte. Das Feuer bildete die einzige Lichtquelle.

Kavanaugh wog die Risiken gegeneinander ab und beschloss, fürs Erste zu bleiben. Falls Kims Symptome sich verschlechtern sollten, könnte man sich ja immer noch ein paar Meter von der Lichtung entfernen, sich andernorts in Sicherheit bringen, dachte er. Denn dass die beobachteten Phänomene von hier ausgingen, sah er als relativ sicher an.

In den folgenden drei Stunden intensivierten sich die festgestellten Auswirkungen weiter und das mutmaßlich nur, weil sie auf der Waldlichtung verweilten. Der Professor diktierte:

»Meine Armbanduhr zeigt jetzt 22.23 Uhr. Ich treffe hiermit die schwere Entscheidung, das Experiment abzubrechen. Es ist zu gefährlich geworden. Sollte es meinen Studenten morgen besser gehen, könnten wir einen zweiten Versuch wagen, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Vorausgesetzt sie könnten sich hierzu überwinden, wonach es momentan keineswegs aussieht.

Für mich steht jetzt bereits fest, dass dieser Ort eine deutlich erkennbare Auswirkung auf Geist und Körper zeitigt. Wie oder wodurch, entzieht sich bedauerlicherweise meiner Kenntnis. Ich werde später Analysen durchführen und Theorien aufstellen, wenn ich wieder zu Hause bin. Hier, am Ort des Geschehens, kann ich nicht klar denken.

Statson ist am schlimmsten betroffen. Sie hat sich Arme und Beine blutig gekratzt und vor fünf Minuten eine Panikattacke erlitten. Ich musste ihr ein mittelstarkes Beruhigungsmittel spritzen, welches jedoch nicht im üblichen Maße anschlägt. Sie hat den Wald bereits ängstlich betreten und diese Regung scheint sich ins Uferlose verstärkt zu haben.

McKinney hingegen war von Beginn an sehr entspannt. Das ist er auch jetzt noch – mittlerweile wirkt er sogar lethargisch, teilnahmslos. Er blickt drein, als habe er einen starken Joint geraucht. Auch er kratzt sich pausenlos, jedoch beileibe nicht so hypernervös und hektisch wie Statson, sondern eher mechanisch, mit nahezu roboterhaften Bewegungsabläufen. Er lächelt hintergründig, ist kaum ansprechbar, wirkt geistig abwesend.

Nun zu mir selbst. Beim nachmittäglichen Gang in den Wald war meine Stimmung bestens, ich fühlte mich elektrisiert und zugleich erwartungsfroh. Zur Stunde nimmt eine gewisse Hyperaktivität zu. Ich kann kaum stillsitzen, muss ununterbrochen in Aktion bleiben und bilde mir ein, elektrischer Strom fließe durch meinen Körper, beginnend am Scheitel. Auch ich spüre den Juckreiz, doch er verblasst angesichts dieser ziehenden Schmerzen. Mir kam gerade spontan der Gedanke, dass sich hier auf der Lichtung die jeweilige Stimmungslage massiv verstärkt, wie man sie hierher mitgebracht hat. Aber anstatt weiter hierüber nachzudenken, werde ich jetzt sofort das Nötigste zusammenpacken und mit meinen Studenten für den Rest der Nacht an einen sichereren Ort umziehen, um das Schlimmste zu verhindern.«

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