Der Schreckenswald des Hoia Baciu

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Kapitel 3

Zeitloses Mädchen

Kreis Cluj, 29. April 1975

»Mama, wann gibt es endlich Abendessen? Ich habe schon einen Bärenhunger«, rief die fünfjährige Marta über den Gartenzaun. Der kleine Wirbelwind hopste fröhlich den schmalen Feldweg entlang, der unmittelbar an das Grundstück des recht kleinen, etwas baufälligen Hauses grenzte. Bei jedem Hüpfer flogen ihre braunen Zöpfe in die Höhe.

Ihre Mutter lächelte, richtete sich stöhnend auf. Sie hatte im Gemüsebeet schon den ganzen Vormittag lang Unkraut gejätet. Beide Hände ins schmerzende Kreuz gestützt, antwortete sie:

»Das wird noch gut eine Stunde dauern. Ich muss das hier erst fertig machen, sonst erstickt mir die Queckenplage meine jungen Salatpflänzchen. Iss derweil einen Apfel, oder geh noch ein bisschen auf die Wiese spielen. Das Wetter ist heute so schön. Man mag gar nicht glauben, dass es in der vergangenen Woche kalt war und geregnet hat!«

»Au ja, mach ich. Ich hole gleich meinen Ball!«, lachte Marta vergnügt und verschwand im Schuppen. Anna Ionescu blickte ihr versonnen nach. Ihr ging das Herz auf. Was für ein aufgewecktes Kind! Und so hübsch anzusehen mit ihrem herzförmigen Gesichtchen, den Sommersprossen auf der Stupsnase und seinen großen, braunen Rehaugen. Es bereitete der stolzen Mutter viel Freude, der Kleinen ausgefallene Kleidchen zu nähen. Heute trug sie ihr Lieblingskleid. Jenes zartgelbe mit den großen, weißen Margeriten am ausgestellten Saum, das sie erst am vergangenen Wochenende fertiggestellt hatte.

»Aber bleib in Rufweite! Mach dich nicht schmutzig und geh keinesfalls in den verwunschenen Wald, hörst du?«, rief Anna ihrer Tochter noch hinterher. »Ja ja, Mama«, tönte es fröhlich über die Wiese – und schon war das quirlige Mädchen über den Hügel und außer Sicht.

Anna war fest überzeugt, dass Marta sich zuverlässig von diesem verfluchten Waldstück fernhalten werde. Schließlich hatte sie sämtliche Märchen, in denen Kindern irgendetwas Schlimmes zustieß, kurzerhand an genau diesen Schauplatz verlegt. Die kleine Maus liebte Schauergeschichten über Hexen, verschleppte Prinzessinnen, Zwerge und böse Schwiegermütter. Es grenzte an ein Wunder, dass sie danach allabendlich, selig wie ein Engel, mit ihrem Stoffbären im Arm einschlief.

Als Annas Ehemann dieses Häuschen am Ortsrand von Baciu vor einigen Jahren geerbt hatte, war sie alles andere als begeistert gewesen, hier einzuziehen. Alleine schon in einer Ortschaft leben zu müssen, die nach einem spurlos verschwundenen Schäfer benannt war, jagte ihr auch nach acht Jahren noch eiskalte Schauer über den Rücken. Aber sie hatte damals ihm zuliebe zugestimmt. Er hatte im Grunde ja recht – man brauchte nur den merkwürdigen Wald zu meiden. Der Boden dieser Gegend war fruchtbar, das Haus in einem noch annehmbaren Zustand. Was wollte man mehr? Nun ja, sie konnte und wollte das Kind nicht einsperren. Marta musste wie alle anderen Kinder lernen, dass der Wald tabu war. Dann wäre dieser Wohnort so sicher wie jeder andere auch.

Und doch … immer wieder tauchten haarsträubende Geschichten auf. Mal war in der Nachbarschaft die Rede von verwirrten Wanderern, die jede Orientierung verloren hatten, mal wurden nachts grüne Lichter beobachtet, die geisterhaft zwischen den Bäumen zu schweben schienen. Im vergangenen Herbst gar hatte der alte Ciprian beim Pilze suchen am Waldrand angeblich fünf metallische Zylinder entdeckt, die kreisförmig aufgestellt gewesen waren. Realität oder Einbildung? Wie auch immer … diese Entdeckung musste den Achtundsiebzigjährigen so sehr aufgeregt haben, dass er einen Tag später an einem Schlaganfall verstarb.

Während Anna nachdenklich jätete, übte sich ihre kleine Tochter im Weitwerfen. Sie stellte sich dazu auf einen Felsblock, hob den Ball über den Kopf und versuchte, ihn über die mit einem Stock gekennzeichnete Markierung zu befördern. Hurra, wieder ein neuer Rekord!

Ein wenig außer Atem gekommen, legte Marta ihren Stock gut einen halben Meter weiter in Richtung des Waldrandes. Immer wieder schielte sie mutig dorthin. Zwischen den Bäumen sah es doch eigentlich ganz normal aus, überhaupt nicht gefährlich. Jetzt, am späten Nachmittag, war der verhexte Ort in ein warmes goldgelbes Licht getaucht, das ließ ihn wunderschön aussehen. Zartgrüne Blätter knospten an den Bäumen, Vögel sangen.

Marta stellte sich wieder auf ihrem Felsen in Position, holte tief Luft und strengte sich ganz besonders an. Weit flog der Ball, viel weiter, als sie es für möglich gehalten hätte. Sie jauchzte vor Freude, beschirmte ihre Augen gegen die tief stehende Sonne und suchte aufmerksam die Wiese ab. Verflixt – wo war der knallrote Ball mit den weißen Punkten bloß gelandet? Wenn er im Gras lag, sah er immer wie ein großer Fliegenpilz aus. Aber sie konnte nichts dergleichen erkennen.

Zehn Minuten später standen dem Mädchen Tränen in den großen Augen. Ihr geliebtes Spielzeug war beim besten Willen nicht auffindbar, obwohl sie die Umgebung sorgfältig abgesucht hatte. Tante Baba hatte ihn ihr zu Weihnachten geschenkt. Ob sie vielleicht lieber nach ihrer Mutter rufen sollte? Aber Mama hatte doch schon so viel Arbeit und musste nachher noch kochen …

Wieder ein großer Schritt Richtung Waldrand. Nichts geschah, auch der Ball blieb verschwunden. Mittlerweile grummelte Martas Magen. Sie blieb stehen, drehte grübelnd ein Zopfende um ihren rechten Zeigefinger.

Da, was war denn das? Sie kannte diesen wunderschönen Anblick seit dem letzten Sommer, als die Familie Oma Ionescu in den Bergen besucht hatte. Ein Strauch mit dicken, roten Himbeeren leuchtete zwischen zwei schlanken Birkenbäumen hervor! ›Hmmm … diese Beeren schmecken sooo lecker … man muss nur aufpassen, dass kein Würmchen darin wohnt, bevor man sie in den Mund steckt‹, erinnerte sich das Kind.

Marta lief beim Gedanken an die fruchtigen Köstlichkeiten augenblicklich das Wasser im Mund zusammen. Ihr Bäuchlein zwickte, als wolle es sie zum Naschen auffordern.

Ach, was sollte da schon passieren? Von hier aus konnte sie schließlich den kleinen Hügel noch sehen, der direkt gegenüber ihrem Elternhaus lag. Wenn sie kurz dorthin ginge, wäre sie ja eigentlich noch nicht im Wald, sondern nur an dessen Rand … und da – genau vor dem Himbeerstrauch lag auch der gesuchte Ball! Martas Entschluss stand fest. Sie würde ihn holen gehen, schnell ein paar der saftigen Beeren pflücken und dann wie der Wind zurück nach Hause laufen.

Dass Waldhimbeeren normalerweise erst Ende Juli/Anfang August reif werden, konnte die Kleine natürlich nicht wissen. Und genau diese kindliche Sorglosigkeit wurde ihr jetzt zum Verhängnis.

*

Anna Ionescu trat aus dem Gartentürchen, formte ihre Hände zu einem Trichter. »Marta! Komm endlich, es gibt heute deine Lieblingsnudeln!«

Keine Antwort.

›Ach, dass dieses lebhafte Kind über dem Spielen aber auch immer völlig die Zeit vergessen muss!‹, dachte die junge Mutter schmunzelnd. Die Sonne ging schon unter, schickte die letzten Strahlen über den kleinen Hügel. Es wurde allmählich höchste Zeit, dass Marta zurückkehrte. Kopfschüttelnd erklomm Anna die sanfte Anhöhe, die einen weiten Rundumblick zuließ. Ein kühles Lüftchen ließ sie frösteln.

Sie erwartete eigentlich, ihre Tochter inmitten der Wiese sitzen zu sehen, versunken einen bunten Blumenkranz flechtend. Das Mädchen war geschickt in solchen Dingen. Manchmal suchte sie nach vierblättrigen Kleeblättern, die sie hinterher in einem dicken Buch presste um das Glück für die Ewigkeit zu konservieren. Oder sie rupfte mit Feuereifer einen Strauß Wiesenblumen, verschenkte ihn mit einem Küsschen. Besonders die dottergelben Schlüsselblumen hatten es ihr schwer angetan.

Anna erstarrte vor Schreck. Die Wiese lag still und verlassen in der hereinbrechenden Dämmerung, kein Kind war weit und breit zu sehen! Sie schrie, so laut sie nur konnte. »Martha! Bitte mein Schatz, tu mir das nicht an. Komm heraus, zum Versteckspielen ist es zu spät. Es wird bald dunkel!«

Doch kein schokoladenbrauner Haarschopf tauchte zwischen den Gräsern auf, kein Kinderlachen erklang. Immer hysterischer rief die Näherin nach ihrer Kleinen – vergebens. Ein Schwarm Krähen ließ sich lärmend am Waldrand nieder, als wäre es ein böses Omen.

Die letzten Sonnenstrahlen verblassten gerade am Horizont, als die besorgte Mutter wie von Sinnen Richtung Wald hastete. Erste Nebelschwaden quollen daraus hervor. Sie färbten sich im Zwielicht graugelblich, was der Szenerie einen schaurigen Anstrich verlieh.

Anna schickte in Gedanken ein Stoßgebet zum Himmel, obwohl sie nur pro forma dem katholischen Glauben angehörte.

›Oh Gott, lieber Gott, bitte hilf uns! Mach, dass sie nicht da drin ist!‹ Aber wo hätte sie sonst nach ihrer Marta suchen sollen? Sie verspürte keine Angst um ihr eigenes Leben, wollte einfach nur ihr geliebtes Kind wieder in die Arme schließen. So betrat Anna das vermaledeite Waldstück, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.

»Marta, bist du da irgendwo? Hast du dich verirrt, mein Liebling? Falls du mich hören kannst, bleib bitte stehen und antworte mir. Dann weiß ich, wo du bist und kann dich sofort holen kommen. Du musst keine Angst haben, ich werde nicht mit dir schimpfen! Wir gehen heim und essen Nudeln mit Tomatensoße«, schrie die aufgelöste Mutter zwischen die Bäume.

Nichts. Keuchend bahnte sich Anna einen Weg durch Sträucher, über moosige Wurzeln und am Boden liegendes Totholz. Da sich niemand freiwillig in diesem Waldstück aufhielt, gab es darin natürlich keine angelegten Spazierwege. Mehrfach schlug die Fünfundzwanzigjährige hin, riss sich dabei die Knie auf, zerkratzte sich Gesicht, Arme und Beine. Sie bemerkte es kaum. Schluchzend arbeitete sie sich Meter für Meter voran, ziellos und verzweifelt.

 

Da! Ein helles Kinderlachen … nein, mehr ein Kichern! Anna stoppte abrupt, ihr blieb schier die Luft weg. »Marta!!! Wo bist du? So sag doch was!«

Es kam keine Antwort. Immer wieder rief Anna den Namen ihrer Tochter in die grauschwarze Dunkelheit, doch der Wald schien ihre Stimme zu dämpfen. Es war vollkommen windstill, ein fahler Vollmond ging über den Baumwipfeln auf; außer dem Knistern und Knacken der Zweige, auf die Anna beim Gehen trat, war überhaupt kein Geräusch mehr zu hören. Längst hatte sie die Orientierung verloren.

Jäh schoss der jungen Frau ein schrecklicher Gedanke durchs Gehirn. Ihr Ehemann musste inzwischen zu Hause eingetroffen sein und sie hatte es vor dem Losgehen versäumt, einen Zettel zu hinterlegen! Anstatt sie beide zu suchen oder die Polizei zu alarmieren, würde er bestimmt annehmen, dass sie mit Marta irgendwo hingefahren sei und lediglich vergessen hätte, ihn zu informieren. Außerdem hatte sie vorhin in der Annahme, gleich zurückzukehren, die Herdplatte angelassen … wie lange mochte das her sein? Zwei Stunden vielleicht? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Himmel, hoffentlich brannte das Haus nicht ab!

Weinend irrte sie weiter durch die Dunkelheit. Ihre Stimme wurde heiser, das stetige Rufen nach Marta klang nun eher wie ein hysterisches Kreischen. Das Waldstück wollte einfach kein Ende nehmen. Es gab keinerlei Landmarken, an denen man sich hätte orientieren können. Womöglich ging sie im Kreis.

Nach einer weiteren halben Stunde rutschte Anna auf morastigem Boden aus, klatschte rücklings in den eiskalten Schlamm.

Für einige Minuten blieb sie dort entkräftet liegen, lauschte in die bleierne Dunkelheit. Falls dieser verfluchte Wald ihre Tochter geholt hatte, konnte sie ebenso gut gleich hier liegen bleiben und allmählich im Boden versinken, dachte sie resigniert. Sie fühlte es mit jeder Faser ihres Körpers – hier stimmte etwas nicht! Falls es so etwas wie eine Hölle tatsächlich gab, so war sie sicher hier zu finden.

Gerade als sie sich wieder aufrappeln wollte, bemerkte sie ein schwaches, grünliches Glimmen, in etwa hundert Metern Entfernung. Das Leuchten irisierte zwischen einem zarten Lindgrün, mehreren Weißund Graustufen sowie einem kräftigeren Apfelgrün. Worum konnte es sich dabei handeln – Sumpfgase, die an die Oberfläche stiegen? Oder spielte ihr jemand einen üblen Streich?

Anna rann Schlamm in die Augen, während sie sich japsend in Richtung des Phänomens voran arbeitete. Der Wald schien sie mit aller Macht zurückhalten zu wollen. Ständig verfing sich ihre Kleidung in Ästen und Zweigen. Dornige Schlingpflanzen griffen nach ihren Fesseln, rissen tiefe, blutende Wunden. Sie spürte es nicht.

»Marta, bist du dort vorne?« Es war mehr ein Röcheln, das der Geschundenen über die trockenen Lippen kam. Die letzten Meter kroch sie bäuchlings über den Boden, immer auf die kleine, illuminierte Stelle zu. Eine kreisrunde Lichtung! Kaum hatte Anna sie entdeckt, erstarb das mysteriöse Leuchten so plötzlich wie es aufgetaucht war. Zurück blieb nichts als undurchdringliche Schwärze, denn der Vollmond wurde zur Gänze von einer anthrazitfarbenen Wolkenbank verdeckt.

Anna schrie panisch auf, trommelte mit beiden Fäusten auf den Waldboden ein und weinte hemmungslos. Ihr Kind hatte sie nicht finden können und nun verschluckte dieser grausame Moloch sie ebenfalls mit Haut und Haar. Sie bibberte vor Kälte, die schlammverschmierte Kleidung klebte ihr eng am Körper.

Endlich lugte das blasse Mondlicht wieder hinter den Wolken hervor. Es verbesserte die Sichtverhältnisse allerdings nur unwesentlich, weil mausgraue Nebelschwaden zäh über den Waldboden krochen. Sie verhüllten Bäume, Gräser und Blaubeersträucher, hinterließen ein kühlfeuchtes Nichts.

Anna hockte sich mitten auf der Lichtung hin, umschlang ihre Knie mit beiden Armen, barg ihr nasses Gesicht dazwischen. Hier gab es keinerlei Bewuchs, der Boden fühlte sich eben und ein wenig wärmer an als die Umgebung. Nur festgetretene Erde schien diese Stelle zu bedecken. Jetzt verspürte Anna auf einmal starke Schmerzen, die im Rhythmus ihres Herzschlags in Fußgelenken, Schläfen und im unteren Rücken pochten. Ihre Zähne klapperten, die Kopfhaut fühlte sich taub an.

Noch erheblich schlimmer als Annas beklagenswerter körperlicher Zustand war gleichwohl der psychische. Sie glaubte, jeden Augenblick wahnsinnig zu werden. Die Tränen waren allesamt vergossen, sie starrte nur noch mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin. Des rationalen Denkens nicht mehr fähig, jagten wirre Gedankenfetzen einander wie kopflose Rinder in einer Stampede. Hatte sie vor einer Ewigkeit wirklich Kinderlachen gehört – oder war das Einbildung gewesen? Unzusammenhängende Bilder von Margeriten, grinsenden Unholden und einem grünlichen Höllenschlund zogen in unsinniger Abfolge vor Annas geistigem Auge vorbei.

Die Kopfhaut prickelte. Dann setzte unversehens ein nahezu unerträglicher Juckreiz ein. Unwillkürlich riss die junge Mutter ihre Arme nach oben, kratzte sich ausgiebig an Kopf und Hals. Das machte die Sache jedoch nur schlimmer. Es fühlte sich an, als würden Ameisenkolonnen über ihren ganzen Körper laufen.

»Geht weg, lasst mich gefälligst in Frieden«, wimmerte Anna, schlug mit fahrigen Bewegungen auf die eigenen Gliedmaßen ein und scharrte sich blutige Striemen in beide Wangen. Nach einer gefühlten Ewigkeit verirrte sich ein silbriger Mondstrahl auf ihre Hände. Voller Entsetzen erkannte sie, dass ihre gesamte Haut von zahllosen Bläschen übersät war. An den Stellen, wo sie diese bereits aufgekratzt hatte, lief Flüssigkeit heraus.

»Wo bist du, wenn man in Not ist und dich braucht? Warum hast du mein kleines Mädchen nicht beschützt?«, krächzte Anna mit letzter Kraft. Sie richtete ihren glasigen Blick gen Himmel und verlor das Bewusstsein.

*

Man fand Anna Ionescu am nächsten Morgen gegen 9 Uhr. Sie kauerte immer noch ängstlich auf der kleinen Lichtung, obwohl bereits die Sonne ihre wärmenden Strahlen in den Wald schickte. Dass eine Polizistin sie vorsichtig ansprach, schien sie nicht einmal zu bemerken. Sie saß nur statisch da, stierte mit blutunterlaufenen Augen geradeaus und wiegte ihren Oberkörper vor und zurück.

Eugen Ionescu war von einem Verbrechen ausgegangen, hatte am Vorabend gegen 22 Uhr die Polizei alarmiert. Beim Betreten des Hauses waren ihm nämlich schwarze Rauchwolken entgegen gewabert, die aus der Küche kamen. Zwei Herdplatten waren auf höchster Stufe eingeschaltet gewesen. In einem der beiden Töpfe verkochte eine Portion Spaghetti zu einer breiigen Masse, im anderen, kleineren befand sich ein undefinierbares schwarzes Etwas. Wahrscheinlich verkohlte Nudelsoße.

Eugen hatte sich hustend ein Tuch vor den Mund gepresst, die Drehknöpfe auf null gestellt, die Töpfe vom Herd gezogen, durchgelüftet und im ganzen Haus nach Frau und Tochter gesucht. Mit einer Rauchgasvergiftung durfte man schließlich nicht spaßen. Ganz zum Schluss hatte er im Garten nachgesehen und entsetzt festgestellt, dass das Türchen zur Wiese sperrangelweit offen stand.

In diesem Moment war dem Familienvater schlagartig bewusst geworden, dass an der Sache irgendetwas faul sein musste. Seine Frau konnte als ordentlich, fast schon pedantisch gelten. Niemals hätte sie die Gartenharke einfach mitten im Gemüsebeet liegen lassen, geschweige denn, dass Anna jemals das Absperren oder das Abdrehen der Herdplatten vergessen hätte.

Nein … irgendjemand musste sie bei der Gartenarbeit hinterrücks überrascht haben, vielleicht war sie sogar mitsamt der Tochter verschleppt worden. So hatte der besorgte Eugen keine Zeit mehr verloren, war auf dem schnellsten Wege zur Polizeistation im Nachbarort gefahren und hatte seine Familie als vermisst gemeldet. Schweren Herzens hatte er sich bis zum Morgengrauen gedulden müssen, denn für den Rest der Nacht hätten die Polizisten keine Möglichkeit für eine Suchaktion gesehen.

Und nun saß seine schöne, kluge Anna reglos auf einer Waldlichtung im Sonnenschein, war trotz aller Bemühungen nicht ansprechbar. Das Haar stand in schlammverkrusteten Strähnen wirr vom Kopf ab, die Haut starrte vor gelblichen Pusteln und war blutverschmiert. Die attraktive Frau war kaum wiederzuerkennen, schien die Sprachfähigkeit verloren zu haben. Von Marta fehlte bislang jede Spur.

Man lieferte Anna Ionescu in die Psychiatrie der Nervenheilanstalt Cluj-Napoca ein, wo sie zwei Monate lang stationär behandelt wurde. Die Entlassung erfolgte unter Vorbehalt, denn die junge Frau behauptete immer noch steif und fest, der Wald sei böse und habe ihre Tochter geholt.

Ihre behandelnden Psychiater waren sich indes unsicher, ob Anna das tatsächlich glaubte und somit an Wahnvorstellungen litt. Oder ob ihre Psyche womöglich eine furchtbare Bluttat aus dem bewussten Erleben ausblendete, in Wirklichkeit sie selbst für das Verschwinden ihrer Tochter verantwortlich sein könnte. So etwas kam leider immer wieder vor.

»Vielleicht hat Ihre Frau dem Mädchen eine schallende Ohrfeige verpasst … dieses fiel unglücklich, zum Beispiel mit dem Kopf gegen eine Tischkante oder auf einen Stein, und kam dabei zu Tode. Das wiederum hätte der Mutter einen gewaltigen Schock versetzt, erst recht, wenn sie das Kind abgöttisch geliebt hat. Wenn sie im geistig verwirrten Zustand ihr totes Kind im Wald verscharrt hätte, könnte sie sich hinterher tatsächlich nicht mehr daran erinnern«, hatte der Professor schulterzuckend behauptet. Eugen wäre ihm für diese ungeheuerliche Theorie am liebsten an die Gurgel gesprungen.

Anna musste sich nach ihrer Entlassung monatelang in polizeilichen Befragungen rechtfertigen, bis das Ermittlungsverfahren gegen sie mangels neuer Erkenntnisse vorläufig eingestellt wurde. Im Wald fanden sich keinerlei Spuren, die darauf hingewiesen hätten, dass dort in jüngerer Zeit jemand gegraben hätte. Das Kind – oder gegebenenfalls dessen Leichnam – war und blieb spurlos verschwunden.

Restzweifel blieben dennoch bestehen; Freunde und Nachbarn aus dem Dorf mieden Anna Ionescu, die sich von ihrem furchtbaren Erlebnis nie mehr vollständig erholte. Die körperlichen Wunden heilten zwar vollständig ab, die seelischen jedoch nicht. Sie konnte seit jenem schicksalsschweren Tag im Frühling 1975 als menschenscheu, verschroben und depressiv gelten.

»Meine Tochter ist im Teufelswald gefangen, wartet dort auf uns … wir müssen sie endlich befreien. Sie lebt noch!«, insistierte Anna stereotyp. Niemand nahm das für bare Münze, obwohl oder gerade weil sich etliche Legenden um diesen Ort spannen. Viele gingen davon aus, dass sie mit ihren Schauergeschichten lediglich von ihrer eigenen Gräueltat ablenken wollte. Alle paar Tage irrte sie kreuz und quer durch das Waldstück und kam kreidebleich zurück.

Nahezu der Einzige, der weiterhin felsenfest an Annas Unschuld glaubte, war ihr liebender Ehemann. Er war wild entschlossen, den mutmaßlichen Mädchenhändler, der seine Tochter mitgenommen und seine Frau als seelisches Wrack zurückgelassen hatte, eines Tages auf bestialische Weise zur Verantwortung zu ziehen.

Die Zigeunerclans der Umgebung suchten die Schuld für Martas geheimnisvolles Verschwinden eher in den finsteren Mysterien eines heimtückischen Waldes, über welchen man sich schon an den Lagerfeuern ihrer Vorfahren so allerlei Haarsträubendes erzählt hatte.

*

Kreis Cluj, 29. April 1980

Es regnete in Strömen. Ein böiger Wind trieb faserige Wolkenfetzen in rasender Geschwindigkeit über den grauen Himmel. Die Luft war für die Jahreszeit zu kühl, roch nach feuchter Erde und den Abgasen der nahen Stadt. Das nordostrumänische ClujNapoca wuchs unaufhörlich, Industrie siedelte sich an und die Fahrzeugdichte nahm zu. Wann immer eine undurchdringliche Wolkenschicht über der Landschaft hing, drückte diese den braungrauen Rauch von stinkenden Fabrikschloten und Autoauspuffen nach unten.

Auf einer kreisrunden Waldlichtung nahe der Ortschaft Baciu stand verdutzt ein kleines, etwa fünfjähriges Mädchen im Sommerkleid, das fröstelnd einen knallroten Ball mit weißen Punkten umklammert hielt.

›Wie bin ich nur hierhergekommen? Gerade schien doch noch die Sonne und ich habe am Waldrand ein paar Himbeeren gepflückt … ich muss sogleich nach Hause, sonst wird es dunkel. Mama macht sich bestimmt schon Sorgen‹, dachte das Kind.

Die Kleine drehte sich mehrmals um die eigene Achse, konnte jedoch den Waldrand nirgends entdecken. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie war unschlüssig, in welche Richtung sie gehen sollte. Schließlich fasste sie sich ein Herz und tapste einfach los.

 

Nach wenigen Schritten hatte sie den Rand der Lichtung erreicht. Mit einem schmatzenden Geräusch versank ihr rechter Fuß mitsamt der leichten Sandale bis zum Knöchel im morastigen Boden. Erschrocken zog sie ihn heraus, hüpfte instinktiv einen Schritt zurück. Wieso war der Boden dort vorne matschig und hier auf der kleinen Lichtung nicht?

Sie versuchte an mehreren Seiten, die Stelle trockenen Fußes zu verlassen, erzielte aber überall dasselbe Ergebnis. Schließlich zog sie Sandalen und Söckchen aus, nahm beides in die freie Hand und quälte sich dort weiter über den Waldboden, wo ihr der zähflüssige Dreck am seichtesten schien. Nach etwa einhundert Metern erreichte sie festeren Grund. Hier war der Boden von Fichtennadeln und Blaubeersträuchern bedeckt. Das Mädchen blieb stehen, sah sich ängstlich um. Es dämmerte.

»Mama, kannst du mich bitte abholen kommen? Ich fürchte mich«, rief sie mit ihrer silberhellen Stimme. Natürlich hörte sie niemand. Der Ort, an dem sie sich gerade befand, erinnerte sie allzu stark an schreckliche Szenen aus einigen Märchen, die sie eigentlich sehr liebte. Jetzt allerdings wäre sie gerne zu Hause in der warmen Stube gewesen und hätte von einem düsteren Wald nichts hören oder sehen müssen. Immer wieder sah sie beunruhigt über ihre linke Schulter zurück.

Während sie weinend weiterging, verwandelte sich der gleichmäßige Regenguss in einen Wolkenbruch. Die Tropfen verbanden sich miteinander, prasselten wie silbrige Bindfäden vom Himmel herab. Nach wenigen Schritten blieb das Kind irritiert stehen. Etwas war völlig anders als sonst … genau, man hörte das Rauschen des Regens gar nicht! Normalerweise klatschten Tropfen auf Blätter und Äste, zerschellten anschließend auf dem Boden. Plitsch – platsch … Oft hatte sie diesen gleichmäßigen Geräuschen gelauscht und es bedauert, wenn sie bei schlechtem Wetter nicht draußen spielen durfte.

Mittlerweile war es stockdunkel geworden. Das Sommerkleid schlotterte ihr klitschnass um die Beine, der Regen schien also echt zu sein. Doch es war trotzdem still hier, totenstill. Da kamen ihr plötzlich die warnenden Worte ihrer Mutter wieder in den Sinn.

›Der Wald ist verhext, Marta. Geh niemals dort hinein!‹

Und nun war sie wegen ihrem Appetit auf Himbeeren doch irgendwie in den Wald gelangt. In einen finsteren Wald, in dem es sogar verhexten Regen gab. Hätte sie ihren Fehler doch rückgängig machen können!

*

Den Rest der Nacht verbrachte Marta zusammengekauert in einer kleinen Bodenmulde, unter dem schützenden Blätterdach einer Buche. Nachdem sie ein paarmal hingefallen war, hatte sie verstanden, dass weiteres Herumirren in der totalen Dunkelheit keinen Sinn machte. Frierend schlang sie ihre dünnen Ärmchen um den kleinen Körper. Das dünne, total durchnässte Sommerkleid wärmte ihren Körper überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Ihre Füße fühlten sich wie taube Eisklumpen an.

Das Mädchen wagte kaum die Augen zu schließen, obwohl es todmüde war. Es hatte in der Ferne etwas wie Wolfsgeheul vernommen, fürchtete sich sehr. In Martas heißgeliebten Märchen kamen schließlich immer wieder böse Wölfe vor, die Arges im Schilde führten. Jedes Geräusch ließ sie zusammenfahren, vor Angst wimmern. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Warum wurde es immer noch nicht hell?

Oh je … sie glaubte den Grund zu kennen, erinnerte sich plötzlich an jedes einzelne Wort einer überlieferten Geschichte, die ihr Mama erst vor einigen Tagen zum x-ten Mal beim Zubettgehen wieder erzählt hatte. Wie ging die noch gleich?

»Einst war die Sonne als junges Fräulein auf die Erde herabgestiegen. Sie blieb aber nicht lange hier, denn ein böser Drache erfasste sie und schloss sie in seiner Burg ein. Die ganze Welt verfiel in Dunkelheit. Die Menschen waren traurig und die Kinder vergaßen das Spielen. Ein tapferer junger Mann beobachtete, was ohne Sonnenschein auf der Erde los war. Er beschloss, den Drachen zu bekämpfen und das Mädchen zu befreien. Das tat er dann auch. Er schaffte es, den bösen Drachen zu bezwingen und die Sonne wieder in Freiheit zu setzen«, murmelte Marta verstört vor sich hin.

War der gefräßige Drache zurückgekehrt, hatte er erneut die Sonne eingesperrt? Dann würde es nie wieder hell werden – und sie wäre verloren.

»Mami, bitte komm mich doch holen! Ich fürchte mich, halte es nicht mehr aus«, wisperte sie und barg ihren Kopf zwischen den Knien. Sie fror inzwischen dermaßen, dass ihre Zähne aufeinander klapperten.

Als Marta den Kopf wieder hob, um sich mit dem Unterarm das tränennasse Gesicht zu trocknen, stutzte sie. Der Drache konnte offenbar die Sonne doch nicht gefressen haben! Ganz zaghaft stahlen sich die ersten Strahlen der Morgendämmerung zwischen den Bäumen hindurch. Lichtreflexe tanzten auf ihrer geröteten Stupsnase, streichelten die Haut mit noch kaum spürbarer Wärme.

Wenige Minuten später wollte sie sich erheben, weil sich allmählich die Silhouetten von Bäumen, Gräben und Büschen aus der Dunkelheit schälten, immer deutlicher sichtbar wurden. Sie musste weitergehen, endlich einen Ausgang aus dem verhexten Waldstück finden. Aber ihre Glieder waren so steif und klamm, dass ihr das Aufstehen erst nach mehreren Anläufen gelang.

Wieder stolperte das kleine Mädchen ziellos durch jenen kühlfeuchten Wald, welcher so feindselig wirkte. Da plötzlich – die goldene Sonne brach vollends durch den milchig weißen Morgennebel, ließ die Tautropfen auf den Gräsern glitzern und funkeln. Zahllose Spinnennetze wirkten wie kostbare Spitze, in die jemand Diamanten gewoben hatte.

Marta schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die grelle Helligkeit ab, schaute so weit wie möglich in die Ferne. Zu ihrer Linken standen die Bäume in größerem Abstand auseinander, der Wald wirkte dort licht und freundlich. Sie beschleunigte ihre Schritte, schlug diese Richtung ein – und stand nur Minuten später am Waldrand, blickte über eine saftig grüne Hügelwiese. Sie kam ihr bekannt vor. Nun weinte sie vor Erleichterung.

Die Kleine fand bald einen Feldweg, dem sie folgen konnte. So jung sie auch war, wusste sie doch, dass jeglicher Weg früher oder später bei einem Haus oder Dorf endete. Bevor es jedoch so weit war, sah sie eine fremde, schwarzhaarige Frau am Wegrand kauern. Sie schien Kräuter zu pflücken.

»Hallo, bitte hilf mir! Du musst meine Mama suchen gehen«, rief Marta ihr schon von weitem zu. Dann begann sie zu laufen, so schnell es ihre zerschundenen Füße zuließen. Die Frau drehte sich erstaunt um. Um diese frühe Tageszeit hatte sie wohl nicht damit gerechnet, auf einen Spaziergänger zu treffen – schon gar nicht auf einen dermaßen jungen, der mutterseelenalleine unterwegs war.

Die rassige Kräuterfrau mochte vielleicht dreißig Jahre alt sein. Sie war barfuß unterwegs, trug einen knöchellangen Stufenrock, eine großmaschige grüne Strickjacke und darunter eine mehrfarbige Bluse. Das kräftige, fast hüftlange Haar hatte sie mit einem bunten Tuch zurückgebunden. Kaum hatte sie Marta aus der Nähe gesehen, fuhr sie zusammen. Sie ließ ihr Körbchen fallen, raffte ihren Rock zusammen und rannte panisch davon.

»Warum rennst du denn weg? Ich bin’s doch nur, die Marta Ionescu!«, schrie sie der Flüchtenden hinterher. Vergebens. Die Frau drehte sich nicht einmal mehr um, gab nur einen kreischenden Ton von sich. Dem Kind blieb nichts anderes übrig, als in dieselbe Richtung weiterzugehen.

Es dauerte noch zehn Minuten, dann kam endlich eine kleine Siedlung in Sicht. Von neuer Hoffnung beseelt, beschleunigte Marta ihren Schritt. Sie kannte diesen Weiler, es handelte sich um die Nachbarssiedlung. Marta hatte ihre Mutter schon des Öfteren dorthin begleiten dürfen, weil diese für einige der Frauen bei Bedarf Nähund Stopfarbeiten erledigte. Erleichtert ging sie auf eines der Häuser zu, in denen ihre Mutter bekannt war. Die darin lebende Witwe hatte ihr erst vor kurzem einen Apfel geschenkt.