Der Schreckenswald des Hoia Baciu

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Kapitel 2

Der Nabel des Wahnsinns?

Popeşti/Pfaffendorf, Kreis Cluj, Spätherbst 1954

Das beschauliche Dörfchen Popeşti bestand gerade mal aus fünf bescheidenen Wohnhäusern und einer aus Holz erbauten Kirche, vor welcher ein vergleichsweise riesiges Kruzifix aufgestellt war. Es sollte alle bösen Einflüsse von den Bewohnern fernhalten und das schien auch bitter nötig zu sein.

Im Jahr 1848 hatten sich rumänische Bauern aus dem Landkreis Cluj in der nahen Kleinstadt Luna versammelt, um gegen die Einberufung in die ungarische Revolutionsarmee zu protestieren. Am 12. September desselben Jahres verübte diese Armee, der Geschichtsschreibung nach, unter den Aufständischen ein Massaker. Es forderte dreißig Todesopfer. Unter den Opfern dieser Bluttat war auch ein Bauernsohn aus Popeşti gewesen und seither hielt sich hartnäckig die Mär, dass es in der Gegend spuke.

Aus dieser geschichtlich belegten Begebenheit hatte sich mit der Zeit ein regelrechter Volksglauben entwickelt. Man erzählte sich über Generationen hinweg mit einem gehörigen Schaudern, dass die Seelen der Ermordeten zwischen den Bäumen des nahe gelegenen Baciu-Waldes gefangen seien, dort bis in alle Ewigkeit ruhelos umhergehen müssten. Mit giftgrün schillernden Augen, die aus schwarzen Nebelschwaden leuchteten, machten sie angeblich die Lebenden auf ihre Qual aufmerksam.

Wann immer überlieferte Geschichten lange genug von Mund zu Ohr weitergegeben werden, gelten sie schon nach wenigen Jahrzehnten und Generationen als Legenden. Fakten und subjektive Erinnerungen werden mit zusätzlichen Details angereichert – bis eine in sich stimmige Erzählung entsteht, alle Puzzleteile auf wundersame Weise zusammenzupassen scheinen. Triviale Randereignisse, Theorien und abenteuerliche Schlussfolgerungen von Einzelnen werden mit hinein gewoben, auch wenn sie mit der eigentlichen Story kaum etwas zu tun haben.

Man könnte fast glauben, dass mit jedem Weitergeben ein Stückchen mehr Wahrheit darin enthalten sei, dabei ist eher das Gegenteil der Fall. Speziell das nördliche Rumänien mit seinen schroffen Hügeln, dichten Wäldern und Vampirgeschichten ist von jeher ein Land, in dem solche Legenden nicht nur die Zeiten unbeschadet überdauern, sondern in den Gehirnen quicklebendig bleiben und immer farbiger ausgeschmückt werden. Aus einer Legende kann auf diese Weise Überzeugung, wenn nicht sogar Gewissheit werden.

So geschah es natürlich auch im Falle der ermordeten Bauernschar. Bereits kurz nach diesem furchtbaren Ereignis berichteten nahe Anwohner des Baciu-Waldes von einem unheimlichen Heulen, das vorwiegend des Nachts auftrat. Andere wollten ein diffuses Leuchten wahrgenommen haben. Es strahle zwischen den Bäumen hervor, intensiviere sich und wechsle mehrmals die Farbe von Weiß zu Grün und wieder zurück, wurde erzählt.

Außerdem schworen die Leute Stein und Bein, dass in besagtem Waldstück häufiger Nebel auftrete als anderswo, und dass er undurchdringlicher und dunkler ausfalle. Eine logische Erklärung hatte für diese seltsame Naturerscheinung niemand parat.

In Popeşti wagte kein Einwohner, nach Beginn der Abenddämmerung das Haus zu verlassen. Mehrere Frauen behaupteten hysterisch, mitunter eine gebeugte, durchscheinende Gestalt um die Häuser schleichen zu sehen. Sie bewege ihre Beine nicht, schwebe einfach zehn Zentimeter über dem unebenen Boden. Der Weg dieser Gestalt sei immer der Gleiche: die schnurgerade Dorfstraße entlang, dann einmal um jedes Grundstück herum – und zum Schluss verschwinde der Spuk unversehens hinter der Kirche. Danach sei stets für mehrere Wochen Ruhe.

Zuerst hatte der Gemeindepfarrer in der sonntäglichen Messe wütend gegen diesen gotteslästerlichen Aberglauben gewettert – bis er selbst Zeuge einer solchen Heimsuchung geworden war. Seither hatte man sämtliche Fenster des Dorfes mit blickdichten Vorhängen ausgestattet, damit der mutmaßliche Wiedergänger keine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme bekam. Einige befürchteten, dass der ermordete Bauernsohn Andraş sich ansonsten an der Bevölkerung des Dorfes rächen könnte – weil man ihm in der Stunde seiner höchsten Not nicht zu Hilfe geeilt war. Die Menschen in Popeşti wähnten sich deswegen kollektiv in einer Art Erbsünde gefangen und gaben diese schwere Last an ihre jeweiligen Nachkommen weiter.

Im Jahr 1954 hielten sich immer noch Reste hiervon im Unterbewusstsein der ortsansässigen Leute, auch wenn Angst und Aberglaube nicht mehr ganz so fest in ihrem Alltag verwurzelt waren. Selbst im höchst provinziellen Popeşti hielt die Moderne allmählich Einzug, nur eben langsamer und inkomplett. Mittlerweile wurden allerdings andere, völlig neuartige Ereignisse mit der alten Geschichte verknüpft. Und wieder schienen sich sämtliche Puzzleteile bestens zusammenzufügen …

*

Sobald an irgendeinem Ort etwas scheinbar Unerklärliches geschehen ist, neigen die Menschen dazu, diesen aus gebührendem Abstand mit Argusaugen zu beobachten, und zwar weltweit und unabhängig vom Kulturkreis. Jeder neuerliche Vorfall, so unbedeutend er auch sein mag, wird entsprechend interpretiert – bis er eben stimmig ins Bild passt.

Die Bevölkerung Nordrumäniens bildete da keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. Während jedoch in vergangenen Jahrhunderten hauptsächlich Augenzeugenberichte von grünen Geisteraugen, nächtlichem Frauenund Kinderlachen sowie merkwürdigen Lichtphänomenen die Runde gemacht hatten, ging es jetzt zunehmend um seltsame Wolkenformationen, silberglänzende, fliegende Gegenstände und mutmaßlich böswillige Aktivitäten von Fremden im Baciu-Wald.

Wer oder was diese ominösen Fremden sein sollten, beziehungsweise, was sie dort überhaupt wollten, wusste indes niemand zu deuten. Es kursierten hierüber zwar zahllose Gerüchte, doch tragfähige Beweise fanden sich keine.

Die einzigen Spuren, die in unregelmäßigen Zeitabständen im Waldstück des Teufels gesichtet wurden, waren partiell verkohlte Äste. Allerdings wagten sich meist bloß nichtsahnende Ortsunkundige hinein, was klammheimliche Aktivitäten von ›Fremden‹ sicher problemlos ermöglicht hätte.

An einem wolkenverhangenen, kalten Novemberabend versorgten Dănuţa und Mihai Stanciu gerade ihre Tiere im dem Wohnhaus gegenüber liegenden Ziegenstall, als durch die breiten Ritzen des grob zusammen gezimmerten Bretterverschlags plötzlich grelle Lichtstrahlen ins Innere drangen. Sie schienen irisierend über Boden und Wände zu tanzen.

Beunruhigt sah Mihai hoch, stutzte. Er stieß seine dicke Ehefrau grob in die Seite. Diese beugte sich soeben über die Raufe und hatte daher noch nichts bemerkt. Ihre Leibesfülle ließ jegliche Bewegung zu einem Kraftakt geraten. Mühselig richtete sie sich auf, ächzte und stöhnte dabei.

»Schau mal her! Wo mag dieses außergewöhnlich helle Strahlen bloß herkommen?«, fragte er mit gerunzelter Stirn und stellte langsam die Heugabel in die Ecke zurück, jedoch ohne hierbei das mysteriöse Scheinen aus dem Blick zu lassen. Mit zusammen gekniffenen Augen verfolgte er, wie sich die langen Finger aus Licht ruckartig durch den Stall tasteten.

Dănuţa streckte den Rücken, warf ihren dicken Zopf über die Schulter zurück und kratzte sich am Hinterkopf.

»Was weiß ich? Der Mond vielleicht? Oder es geht jemand mit einer dieser neumodischen Laternen vorbei, will uns drüben im Wohnhaus besuchen?«

»Was bist du doch für ein dämliches, einfältiges Weibsstück«, schimpfte Mihai abfällig. »Der Mond, pah … man sieht doch auf den ersten Blick, dass sich die Lichtquelle da draußen bewegen muss. Der Einstrahlwinkel verändert sich stetig, sieh halt gefälligst genauer hin! Und würde bloß jemand auf unserem Grund und Boden herumgehen, hätte er mitsamt seiner Laterne schon längst den Stall passiert.«

»Wenn du meinst, Meister Oberschlau«, brummte die Rumänin beleidigt. »Dann geh am besten und finde es heraus, bevor du mir Vorträge hältst. Ich mache derweil hier alles fertig.«

Um die Ehe der Stancius stand es schon seit einigen Jahren nicht mehr zum Besten. Dănuţa genoss daher jeden Augenblick, in dem sie sich nicht mit ihrem grantigen, besserwisserischen Gatten befassen musste. Für einen Augenblick beschlich sie der sehnliche Wunschgedanke, etwas Böses möge für das unheimliche Strahlen verantwortlich sein und sie für immer von diesem respektlosen Blödmann befreien.

Zärtlich strich die Frau über den Kopf eines munteren Zickleins, das sie besonders gerne hatte. Das Tier hob erfreut den Kopf, ließ sich zwischen den Hörnchen kraulen.

»Du bist mein kleiner Liebling, nicht wahr?«, flüsterte die korpulente Mittvierzigerin. Sie hatte nach einer dramatischen Fehlgeburt vor mehr als zwanzig Jahren keine Kinder mehr bekommen können, was sie unendlich bedauerte. Wahrscheinlich hatte diese traurige Tatsache maßgeblich dazu beigetragen, dass der damals total untröstliche Mihail sich emotional von ihr entfernte, bis von der Liebe kaum noch etwas übrig war. Seither stürzte Dănuţa sich ersatzweise auf jegliches kleine Wesen, um es mit ihren Gefühlen zu überschütten – egal ob Mensch oder Tier.

Draußen wurde es plötzlich stürmisch. Auffrischender Wind heulte mit schauerlichen Tönen um den Stall, pfiff unangenehm kühl durch die Ritzen und wirbelte feinen Staub auf. Die Partikel schwebten wie Fischschwärme in den Lichtstrahlen, die den Verschlag noch immer diffus erhellten. Dănuţa musste niesen, zog ihr selbstgestricktes Schultertuch enger um den Leib. Mihail war nun schon seit mehreren Minuten weg, ihr wurde nun doch ein wenig mulmig. Ob sie nachsehen gehen sollte?

Mit zitternden Händen drückte die Frau gegen die Lattentür, bis die Scharniere quietschten. Der Wind entriss ihr die Tür, so dass sie krachend außen gegen den Verschlag knallte. Erschrocken steckte sie zunächst nur den Kopf nach draußen, drehte ihn nach links und rechts. Das grelle Licht blendete ihre Augen so sehr, dass man lediglich undefinierte Formen erkennen konnte; Schatten, die mit dem sich verändernden Einstrahlwinkel chaotisch durch die Landschaft zu wandern schienen.

 

»Mihai?« Ihr Ruf ging im Tosen des Sturmes unter. Sie wagte sich nun ganz aus dem Bretterverschlag, tastete sich vorsichtig um die Ecke. Was sie dort zu sehen bekam, ließ ihr fast das Blut in den pochenden Adern gefrieren. Fassungslos stand sie auf der Wiese, beschirmte ihre Augen mit dem rechten Unterarm gegen die gleißende Helligkeit. Der Wind zerrte jählings an ihren Kleidern, drohte sie jeden Moment von den Füßen zu werfen. Sie wagte nicht mehr, sich zu bewegen, stemmte sich bloß verzweifelt gegen den Sturm.

Nur wenige Meter vor ihr stand die dunkle Silhouette ihres Gatten, ebenso unbeweglich wie sie selbst. Auch er schien entgeistert auf das Lichtspektakel zu starren, welches offensichtlich zugleich die Quelle der peitschenden Windböen war. Und nicht nur das … Dănuţa spürte ein Kribbeln und Krabbeln am ganzen Körper, am stärksten am Scheitelpunkt des Kopfes und in den Extremitäten. Es schwoll rhythmisch an und ebbte wieder ab, um die Sequenz gleich darauf von neuem zu beginnen.

Konnte es möglich sein, dass die grünlichen Strahlen hierfür verantwortlich waren? Sie pulsierten im selben Muster, tasteten ihren Körper mehrfach von oben bis unten ab. Sie begann gellend zu schreien, als urplötzlich das giftgrüne Leuchten mitsamt dem Kreischen des Windes erlosch und eine unheilvolle Stille zurückließ.

Für wenige Sekunden entstand eine Art starker Sog, dann ein Vakuum, das Mihai und Dănuţa brutal den Atem aus den Lungen presste. Es war indessen vollkommen windstill geworden. Eine Art dunkler Nebel umfing die aufgelöste, japsende Frau, die deshalb den Standort ihres Mannes nicht mehr ausmachen konnte. Panik befiel sie.

Auf einmal verebbten auch Dănuţas Schreie. Jegliches Geräusch erstarb, obwohl sie schon wieder nach Leibeskräften ihre Angst hinausplärrte. Ihr war, als würde ihr der Erdboden unter den Füßen weggezogen. Es gab einen Knall, ein Riss bildete sich in dem finsteren Nebelgespinst und für einen kurzen Augenblick bemerkte sie einen schmutzig wirkenden Regenbogen, in dessen fahlem Licht sich sie und ihr Mihail widerspiegelten. Die Schemen der beiden Körper wirkten durchscheinend, standen auf dem Kopf. Dann war unversehens auch dieses Schauspiel vorbei. Der Nebel wurde dünner, verflüchtigte sich in Nichts.

Verdattert standen die Eheleute in der hügeligen Landschaft, trauten sich kaum vom Fleck zu rühren. Der Spuk war vorüber, hatte nichts Ungewöhnliches zurückgelassen. Beide schlotterten am ganzen Körper, brachten keinen Ton heraus.

Erst die Laute der verschreckten Tiere im Stall führten dazu, dass Mihai Stanciu und seine Ehefrau allmählich in die nüchterne Realität zurückfanden, schließlich aufeinander zugingen und sich erleichtert umarmten. Lange Zeit standen sie, sich fest umklammernd, auf der Wiese.

»Was, um Himmels willen, war das?«, hauchte Dănuţa, inzwischen bibbernd vor Kälte.

»Ich weiß es auch nicht. Aber ich fühle, dass sich etwas verändert hat. Als hätte eine unbekannte, jedoch völlig kompromisslose Macht das Ruder übernommen. Hast du das silbrig glänzende Etwas im Licht bemerkt?«

Seine Frau nickte nur, barg verstört ihren pausbäckigen Kopf an seiner Schulter. Ihr Gehirn weigerte sich strikt darüber nachzudenken, worum es sich dabei gehandelt haben könnte. Mihais Knie fühlten sich immer noch weich an. Er führte seine käseweiße Frau zum Wohnhaus und bemerkte beim Gehen, dass der Raureif von der Wiese verschwunden war.

Von dieser Nacht an lebten die Stancius zurückgezogen, verrammelten täglich vor Einbruch der Dunkelheit alle Fenster und Türen. Sie sprachen mit keinem einzigen Menschen über ihr unheimliches Erlebnis der Dritten Art, weil sie von den weiter entfernt angesiedelten Nachbarn ihres Einödhofes möglichst nicht für verrückt gehalten werden wollten. Grausige Albträume suchten sie jede Nacht heim. Für den Rest ihres gemeinsamen Lebens schwiegen sie und warteten darauf, dass die fremdartige Macht, die ihnen eine schauerliche Kostprobe ihrer Fähigkeiten geschickt hatte, die gesamte Erde übernähme.

Doch das geschah wider Erwarten nicht. Erst auf dem Totenbett erzählte Dănuţa einem Priester, was sie in jener Nacht erbeziehungsweise überlebt hatte. Er schob das wilde Fantasieren auf den halb entrückten Geisteszustand einer Sterbenden.

*

In der Nähe des Baciu-Waldes, 18. August 1968

Bereits am Morgen dieses wunderschönen Sommertages wurden im Kreis Cluj über dreißig Grad Celsius gemessen. Bei solch einem heißen, sonnigen Wetter wollte sich kein Mensch freiwillig in geschlossenen Räumen aufhalten, auch der fünfundvierzigjährige Emil Barnea nicht. Zu seiner Freude hatte der gewissenhafte Techniker sich freinehmen und auch seine Freundin Zamfira Mattea zu einem Tag Urlaub überreden können. Sie arbeitete als Angestellte für eine Wohltätigkeitsorganisation. Begeistert hatte die Vierunddreißigjährige ihren Emil gefragt, ob sie noch zwei lieben Freunden Bescheid geben könne. Ein Autoausflug mit gemütlichem Picknick wäre doch heute genau das Richtige! Das sahen besagte Freunde dann genauso, denn ihnen war es selbst leider noch nicht vergönnt gewesen, ein eigenes Auto zu erwerben. Im Rumänien der 1950-er Jahre waren Privatfahrzeuge noch eine rare Mangelware.

Gut gelaunt fuhr die Gruppe los. Man besichtigte zusammen einige Sehenswürdigkeiten und Aussichtspunkte, ging eine Weile in der Innenstadt von Cluj-Napoca bummeln, verdrückte Eistüten und fuhr anschließend ziellos durch die Gegend.

»Ich bekomme langsam Hunger. Wie ist das mit euch?«, fragte Zamfira, drehte sich zum Fond des Wagens um.

»Ebenfalls! Kommt, lasst uns jetzt etwas essen. Ich habe lauter selbstgemachte Leckereien eingepackt, Bier für euch Männer ist natürlich auch dabei!«, lachte ihre Freundin ausgelassen.

»Was für eine aufmerksame Traumfrau mein Schatz doch ist«, schwärmte ihr Begleiter strahlend. Er faltete andächtig die Hände und erntete einen forschen Nasenstüber.

An einem Waldstück, in der Nähe der Landstraße von Cluj nach Bukarest, stiegen die Freunde aus, gingen plaudernd und scherzend wandern. Ein lauschiges Plätzchen auf einer kleinen Lichtung kam alsbald in Sicht, perfekt für eine Rast. Es empfahl sich heute, weitgehend im Schatten der Bäume zu bleiben, denn es war vollkommen windstill und die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel. Die Temperatur war mittlerweile auf sechsunddreißig Grad angestiegen.

Gut gelaunt machte sich Emil auf, nach trockenem Feuerholz für ein Lagerfeuer zu suchen. Die anderen bereiteten derweil das Picknick vor. Die Vögel sangen und er dachte bei sich: ›Was für ein perfekter Tag! Es könnte wirklich nichts Schöneres geben, als mit seiner Geliebten und den besten Freunden Spaß zu haben. In letzter Zeit habe ich dermaßen viel gearbeitet, dass ich es mir ausnahmsweise erlauben kann.‹

Zamfiras helle Stimme riss ihn gegen 13.30 Uhr aus seinen angenehmen Gedanken. Sie klang sehr aufgeregt.

»Emil! Bitte komm schnell her! Das musst du gesehen haben! Oh Gott … was könnte das nur sein … ?«

Barnea ließ das Bündel Zweige fallen und eilte zur Lichtung zurück. Schon aus einiger Entfernung bemerkte er, dass Zamfira und seine Freunde allesamt wie gebannt in den Himmel starrten. Gleich darauf bemerkte er es auch. Himmel noch mal … so etwas hatte er noch nie zuvor gesehen! Etwas metallisch Glänzendes schwebte langsam über die Lichtung hinweg und das vollkommen geräuschlos. Das Ding reflektierte das Sonnenlicht, wirkte wie komplett mit Silber überzogen. Die vier Ausflügler verfolgten das unbekannte Flugobjekt atemlos mit den Augen,

keiner sprach ein Wort.

Plötzlich kam Bewegung in Emil. Er stürzte zu seiner Tasche, zog seine Kamera hervor, maß mit zitternden Fingern die Belichtung und stellte die ungefähre Distanz zum Zielobjekt ein. Dann riss er sich zusammen, atmete aus und drückte ruhig auf den Auslöser. Da die Maschine – oder worum auch immer es sich da handelte – sehr langsam flog, blieb sogar Zeit für einen zweiten Schnappschuss.

Während des Fotografierens bemerkte er, dass die Helligkeit des Objekts sich stetig veränderte. Das daraus hervorströmende Licht schien rhythmisch zu pulsieren. Plötzlich stieg es in rasender Geschwindigkeit steil nach oben und Barnea bekam gerade noch Gelegenheit, weitere zwei Male auf den Knopf zu drücken. Dann geriet die unbekannte Maschine außer Sicht. Das gesamte Ereignis hatte nicht mehr als zwei Minuten gedauert.

Die vier Freunde waren baff vor Faszination. Sie blieben etwa weitere zwei Minuten wie angewurzelt stehen, keiner wagte sich zu rühren. Befanden sie sich hier womöglich in Lebensgefahr?

Mit offenen Mündern suchten sie weiterhin den Himmel nach dem Objekt ab, doch das obskure Schauspiel war offensichtlich vorbei. Anschließend packten sie schweigend ihre Siebensachen zusammen und verließen hektisch den Wald, denn er war ihnen nicht mehr geheuer.

Der Schock über diese unerklärliche Beobachtung saß dermaßen tief, dass niemand sprach. Schweißgebadet, mit leichenblassen Gesichtern, saß die Gruppe wenig später im Auto. Die Vesper blieb unangetastet im Kofferraum liegen.

»Ihr habt es aber auch alle gesehen, oder? Ich bin doch nicht verrückt geworden!«, war das Einzige, was Zamfira mit herausgedrehten Augäpfeln von sich gab. Sie wirkte kleinlaut. Ihre drei Begleiter nickten nur mechanisch und Emil startete fahrig den Motor des Dacia, nachdem er ihn zweimal abgewürgt hatte. Die Heimfahrt verlief bedrückend stumm.

*

Am schnellsten erholte sich Emil Barnea von den Ereignissen dieses Nachmittags. Als ehemaliger Militärangehöriger kam er mit Außergewöhnlichem eher klar als seine Freundin oder die beiden jüngeren Bekannten. Letztere hatten ihn bereits eindringlich gebeten, sie vollständig aus der ominösen Sache herauszuhalten. Er dürfe nirgends namentlich erwähnen, dass sie es gewesen seien, die dieses Ding ebenfalls gesehen hatten.

Nach einigen Tagen konnte Barnea sich endlich dazu überwinden, den ORWO-Film aus seiner FED 2-Kamera entwickeln zu lassen. Er war sich selbst nicht mehr sicher, ob er tatsächlich ein nicht identifizierbares Flugobjekt abgelichtet hatte. Vielleicht hatten sie im Wald aufgrund der Hitze nur überreagiert, waren einer Spiegelung von irgendwas zum Opfer gefallen. Einer Art Fata Morgana – oder so. Die dichten Wälder Transsilvaniens waren schließlich bekannt dafür, dass sie Angst erzeugen konnten. Aber diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen.

Knapp zwei Wochen später hielt er die Ausdrucke in Händen und fragte sich beunruhigt, was er hiermit nun anfangen sollte. Das fliegende Objekt war auf den Fotografien gestochen scharf zu erkennen, doch er wusste ziemlich genau, wie die Leute über abstruse Erzählungen dachten – und natürlich über diejenigen, welche mit solchen Geschichten über verhexte Wälder daherkamen. Er wollte sich nicht zum Gespött machen.

So wandte er sich nach dessen Urlaubsrückkehr an den rumänischen Ingenieur Florin Gheorghita, weil er wusste, dass der sich brennend für solche Phänomene interessierte. Mehrmals hatte er bereits UFO-Sichtungen untersucht. Barnea kannte den Mann von früher, hatte bereits zwei Jahre lang auf einer Baustelle mit ihm zusammengearbeitet.

Er zeigte ihm die ersten drei Fotos, auf denen das fragliche Objekt relativ groß abgebildet war. Gheorghita stellte daraufhin eigene Ermittlungen an und rekonstruierte die Flugbahn. Diese stimmte mit den Zeugenangaben von Emil und Zamfira, sowie den Fotos überein. Der Ingenieur blieb aber dennoch skeptisch. Auch er hatte einen Ruf zu verlieren.

Eines der Fotos wurde dennoch am 18. September 1968 in einigen Zeitungen der Region abgedruckt, und zwar zusammen mit einem durchwegs sachlich gehaltenen Augenzeugenbericht von Barnea. Nicht jeder nahm das gelassen auf.

Der Direktor des Observatoriums in Cluj fühlte sich daraufhin leider berufen, eine Gegendarstellung in die Welt zu setzen. In Unkenntnis dessen, dass nur ein einziges Objekt mehrmals fotografiert worden war, behauptete er kurzerhand, es habe sich garantiert um eine Ansammlung von Wetterballons gehandelt. Barnea sei bestimmt nichts als ein ignoranter Alkoholiker, der sich wichtigmachen wolle und habe die Fotos gefälscht. Wohlgemerkt – Wetterballons waren während der fraglichen Zeitspanne in der gesamten Region Cluj-Napoca nicht aufgestiegen, was sich hinterher leicht beweisen ließ.

 

Die Sache stieß bei einem Fotoreporter aus Cluj auf Interesse. Er und ein weiterer Fotograf einer Presseagentur aus Bukarest gingen der Sache auf eigene Faust nach und prüften die Fotografien akribisch auf Echtheit. Sie fanden keinen Hinweis auf irgendeine Trickserei. Sogar ein großes Fotolabor untersuchte sie auf Ungereimtheiten – ebenfalls ergebnislos.

Weitere Zeitungsveröffentlichungen, und zwar aller drei Fotos, zogen schier endlose Debatten in der Öffentlichkeit nach sich. Emil Barnea und seine Freundin wurden vom Staatsfernsehen interviewt. Ersterer wurde sogar auf neurologische Auffälligkeiten untersucht, allerdings fand sich hierbei nichts Außergewöhnliches. Aber wie hätten die beiden bekannten Augenzeugen zweifelsfrei beweisen sollen, dass sie die Wahrheit sprachen, nichts hinzugefügt oder weggelassen hatten?

Zum Schluss nahmen sich Techniker der Universität Cluj der Sache an, untersuchten die Fotografien sehr lange und fertigten sogar maßstabgerechte Modelle der abgebildeten Flugscheibe an. Jeder Schatten war in Übereinstimmung mit den beschriebenen Manövern vorhanden, man sah die Reflektionen der Sonne und sogar die Eigenbeleuchtung des Objekts. Eine geschickte Fälschung schien auch nach ihren Schlussfolgerungen ausgeschlossen zu sein.

Das UFO hätte demnach einen Durchmesser von mehr als dreißig Metern haben müssen. Es sei in sechshundert Metern Höhe erst langsam Richtung Nordost, zum Schluss in südwestlicher Richtung davon geflogen und hierbei leicht gesunken, hielten die Techniker in ihrem Abschlussbericht fest.

Zweimal traf sich Emil Barnea mit dem rumänischen Ufologen Ion Hobana, einmal 1968 und einmal 1970. Dieser fand in Befragungen heraus, dass weder Emil Barnea noch seine Freundin Zamfira Mattea viel über UFOs wussten und die Geschichte somit wohl kaum erfunden haben konnten, um sich interessant zu machen. Zu dieser Zeit wurden in Rumänien schließlich auch noch keinerlei Bücher über UFOs verkauft.

Hobana hielt das Ereignis über dem Baciu-Wald für eine der wichtigsten UFO-Sichtungen überhaupt. Die vierte Fotografie reichte Barnea ihm und seinem Bekannten Gheorghita mit erheblicher Verspätung nach. Auf diesem war das mutmaßliche Fluggerät wegen der erheblich größeren Entfernung viel kleiner festgehalten, es verschwand gerade in einer Wolkenbank.

Der Name Emil Barnea sollte für immer mit dieser Sichtung in Verbindung stehen, später massenhaft durch eine Erfindung namens Internet geistern und, über Jahrzehnte hinweg, weiterhin für Diskussionsstoff bei Skeptikern und Ufologen sorgen. Aber das konnte er damals natürlich nicht voraussehen.