Pantherzeit

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Auf dem Balkon trage ich nun jeden Abend um 20 Uhr Rilkes Panthergedicht laut vor, als hätte ich früher nie etwas anderes um diese Uhrzeit getan. Das Gedicht strukturiert meine Gedanken und lässt mich alles genau in Augenschein nehmen. Der Panther bin ich selbst, ich umlauere meine Erkenntnisse, als müsste ich mich noch eine ganze Weile vor etwas schützen, das mich kennt, das aber ich nicht kennenlernen will, weil ich noch keine Kraft dafür habe. Umso deutlicher schaut etwas in mir auf die Außenwelt. Ist es der gleiche Panther? Schenkt der innere Gefangene mir auf diesem Umweg die Fähigkeit, langsam ein Sehen zu erlernen, das später alles auch für mein Selbst ändern wird? Jedenfalls erstaunt es mich, die ich mich allabendlich über meine Mandelstam-Lektüre beuge, dass ein Berliner Essenslieferdienst sich gerade jetzt Kolyma2 nennt und damit an das berüchtigte Straflager des Gulags erinnert. Kolyma2? Sind wir Gefangene unserer eigenen Welt?

Während im Kolyma Sowjetrusslands in arktischer Kälte die Körper der gefangenen Menschen geschunden wurden, war die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Lidia Ginsburg der neunhundert Tage währenden Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht ausgesetzt, so lange, bis die Rote Armee am 27. Januar 1944 den Belagerungsring, der ein Menschheitsverbrechen war, sprengte. Letzten Frühling habe ich ihr Buch „Aufzeichnungen eines Blockademenschen“ gelesen. Es handelt von Krieg, von der Stadt und vom Tod. Wir leben seit Jahrzehnten in Frieden, jedenfalls nennen wir das immer noch so, da keine Waffen auf uns gerichtet werden. Die Stadt und der Tod sind jetzt dennoch auch unsere Themen. Aber wir müssen nicht hungern, noch können wir alles kaufen. Nur können wir uns dabei infizieren. Die Menschen versuchen offenbar panisch, wenigstens über das Toilettenpapier Kontrolle zu erhalten und kaufen alles, was ihnen zwischen die Finger kommt. In den Supermärkten sind jetzt im Zwei-Meter-Abstand Streifen auf dem Boden angebracht, die dazu aufrufen, sich verantwortungsvoll zu verhalten. Vor ein paar Tagen war es noch undenkbar, aber jetzt halten sich tatsächlich alle daran. Der Tod ist nun nicht mehr nur eine Nachricht aus Italien, das jetzt eine einzige große Absperrzone geworden ist. Der Tod ist jetzt überall auf der Welt in Sekundenschnelle denkbar geworden. Auch der eigene Tod. Umso konkreter, ja existenzieller ist dabei aber auch jede kleine Hinwendung ins Menschliche. Meine Augen wandern zum Lichthof gegenüber, zu Anke, Christian und den Kindern. Es ist früher Morgen, ich habe beschlossen, mich zu schminken, jeden Tag, meine Haare zu kämmen, mich so anzuziehen, als sei jeder Gang innerhalb der Wohnung ein Fest für das Leben. Ich erinnere mich jetzt mit täglich wachsender Liebe an die Frauen von Sarajevo, an ihre Würde und ihre beständige Kraft, ihre Entschlossenheit, sich gut zu kleiden und schön zu sein, den Körper als Zeichen der Schönheit zu verstehen, gerade weil die Belagerer danach trachteten, ihn zu zerstören. Im Bad, noch ungeschminkt, höre ich, dass Gregor ein Geburtstagsständchen für unseren kleinen Nachbarn Augustin singt. Heute ist der Junge acht Jahre alt geworden. Von Lichthof zu Lichthof sehen wir einander an. Die fünfköpfige Familie schaut zu uns. Wir, zu dritt, schauen sie an und singen ihnen zu. Daran erschüttert mich plötzlich etwas so sehr, dass mir die Tränen in die Augen schießen. Bevor die anderen das sehen können, gehe ich wieder ins Badezimmer und trage stoisch meinen Lippenstift auf. Ich ziehe mich an. Die Tränen haben mich überrascht. Das Schöne tut fast noch mehr weh als das, was wir derzeit im Schmerz nicht ändern können. Der Ausnahmezustand. Er ist nun unser Normalzustand geworden. Gregor ist wie geplant in aller Frühe mit dem Fahrrad zu unserer Freundin Sarah gefahren und hat ihr die Kartoffeln übergeben. Sarah hat ihr Versprechen gehalten und Schutzmasken und Vinylhandschuhe aus ihrem Bestand abgezwackt, uns eine köstliche Schokolade meiner Lieblingsmarke dazugelegt, ein Überbleibsel aus der alten Zeit, die noch vor wenigen Tagen unsere Gegenwart war. Ein anderes Zeitalter ist da, denn wir freuen uns sogar über Schokolade, wie wir Kinder des Sozialismus uns auf alles Süße und Neue gefreut hatten, als der Eiserne Vorhang von heute auf morgen nur noch ein Begriff aus den Geschichtsbüchern war. Das Gesetz der Geschichte ist nun aber auch unser Gesetz geworden. Darin ist Unerbittlichkeit und Gnade in einem. Wir werden die Ausdauer wie ein wahres Gebet erlernen müssen. Ich bin bereit. Heute kommt mir mein ganzes Leben wie eine einzige Vorbereitung auf dieses Gebet vor. Die Tiefe des Atems und des Innehaltens ist nun mein Weg geworden, den äußeren Dingen mit meiner Gegenwart zu antworten. Die Lungen, ich wundere mich jetzt, dass sie in den verschiedenen Sprachen einmal Einzahl und einmal Mehrzahl sind, sind das in der allmählich sich anbahnenden Belagerung zum Sprechen gekommene Organ unserer Freiheit. Die freie Luft des Einzelnen – sie ist nicht erst jetzt gefährdet. Das Virus zeigt auch, was wir falsch gemacht haben. Es ist ein Zustand voller Forderungen. Sich abzulösen von der Natur und sich selbst nicht für Natur zu halten, wird jetzt von der Natur und ihren Gesetzen revidiert. Wir sind alles, was wir sehen. Ein jeder von uns ist eingemalt in das große Gewebe des Seins. Auch wenn wir unsere Wildheit und das wilde Wunder des inneren Wissens allem Anschein nach vergessen haben, stören die Verbindungslinien sich nicht daran und ergreifen jede Gelegenheit zu sprechen.

Die Einbringungen der Natur, sie fallen mir jetzt wieder ein. Die letzten drei Jahre hörten wir wieder den Wind in vielfachen Stürmen. Wir gewöhnten uns an Regenfälle. Blitz und Donner. Alles war voll von diesen Wetternachrichten, die unübersehbare Veränderungen ankündigten und einen Himmel sichtbar machten, der von seinen neuen Sprachen zu uns Verbindung aufzunehmen versuchte. Es gab nie einen leeren Himmel. Das haben nur diejenigen geglaubt, die sich mit der Moderne den großen Atem abtrainiert haben. „Aufmerken und Gewöhnung, Anstoß nehmen und Hinnehmen sind Wellenberg und Wellental im Meer der Seele“, schreibt einmal Walter Benjamin. Dieser Satz kehrt nun nach Jahren in meine Gedankenwelt zurück, strandet in mir wie der Minotauros in meinem Text, der den Wald sichtbar macht, das Labyrinth, das uns alle ratlos macht, bis wir lernen, dass es nach bestimmten Gesichtspunkten gebaut ist. Es zeigt uns, dass das Leben darauf pocht, es uns lesen zu lehren und das Alte hinter uns zu lassen, es als von allein Abgestorbenes nicht mehr zu lesen, weil ein neues Wetter da ist, ein neues Lebensalphabet. Ich weiß nicht, wie es anderen Menschen geht, aber mit mir redet das in Extremen sich äußernde Wetter immer auf eine sehr direkte Weise und verbindet mich fragend und tastend mit meinen inneren Landschaften. Im Vorbeigehen hörte ich einmal nach starken Regenfällen in Berlin, als die Leute in der Kreuzberger Yorckstraße schwammen, eine Frau sagen, Stürme passten doch gar nicht zu unserem Leben in den Städten. Die Natur wurde von ihr als Fremdkörper wahrgenommen. Das erstaunte mich sehr. Auch in der Stadt ist die Natur da, der Himmel, die Wolken, unsere Lungen, unser ganzer Körper, die Luft, alles ist Natur. Dennoch muss ich mich, während ich das denke, selbst daran erinnern, dass auch ich, dass mein Körper Natur ist.

Die Hitze des Sommers, jenes Jahrhundertsommers, in dem meine Tochter das Licht der Welt erblickte, war beachtlich – vierzig Grad im Schatten, ein Licht so gleißend, wie es in einem August nur in Europas Süden möglich ist, es war nun auch in Berlin wirklich. Auch damals erschien mir die Welt als eine durch die uns geradezu knetendwarme Luft nach innen verschobene. Die Bäume rückten gleichsam klarer in meinen Blick, wie Götter mit uralten vermittelnden Gedächtnissen. Ich bat sie, mich an ihrer Weisheit teilhaben zu lassen. Mit dem stetig wachsenden Kind in mir empfand ich unbändige Lust, barfuß zu gehen, die Erde zu spüren. Nach einem stundenlangen Regen zog ich endlich die Schuhe aus und spürte mit meinen Füßen die nach oben zu Waden, Oberschenkeln und Bauch aufschießende Wärme des Asphalts. Die Leere der Straßen, sie war damals anders als jetzt, trotz des Sturms war noch die Anwesenheit der anderen Menschen zu fühlen. Aber das Licht ist jetzt strenger geworden, es erinnert mich an die Stille der Hundstage in meinem dalmatinischen Dorf, wenn niemand mehr sich aus dem Haus wagte und alle sich vor der sengenden Sonne im Inneren der kühlen Steinhäuser schützten.

Auch denke ich jetzt nach der abendlichen Pantherzeit wieder an jenen Sommer, in dem Millionen Menschen weltweit auf der Flucht waren und auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Jetzt sind wir alle nach innen geflüchtet. Wir schauen staunend nach draußen in die Welt, die noch vor Kurzem der Ort unserer Freiheit war. Hier in Berlin hungert niemand. Niemand ist bedroht vom Krieg. Wir wissen das. Auch wissen wir noch genau, wie es 2015 war, schwer war es für viele Menschen, etwas mit jenen zu teilen, die gar nichts mehr hatten. Nun wird eine neue Zeit kommen. Wir werden, auf die eine oder andere Weise, alles teilen müssen. Der Kapitalismus und seine Kurzzeitreizungen haben unsere Kraft zur Ausdauer unterwandert. Auch können wir auf lange Sicht nicht die Erbitterung dem Mitleid vorziehen, wie es etwa dem Zeugnis von Lidia Ginsburg nach die Menschen im belagerten Leningrad taten, wenn sie stundenlang verzweifelt auf der Suche nach Essbarem waren, aber am Ende immer zu wenig aßen und allmählich doch in ihren eigenen Wohnungen an Hunger und Kälte starben. Die Erbitterung jener, die für ihre Angehörigen, die schon schwächer als sie selbst waren, sorgten und die dann, mit langsam einsetzender Erkenntnis, schmerzlich begreifen mussten, dass sie doch nicht am Leben bleiben würden, setzte eine Verzweiflung in Gang, die auch damit zu tun hatte, dass die Toten nicht begraben werden konnten und wochenlang noch bei den Lebenden in den Wohnungen blieben.

 

Vedrana, die die längste Belagerung des Zwanzigsten Jahrhunderts überlebt hat, jene endlosen wie hoffnungslosen 1425 Tage, in denen die bosnischen Serben Sarajevo umzingelt hielten, ist jetzt, wie wir alle, auf ihre Wohnung in der Isolation zurückgeworfen. Damals im Krieg hat sie in den gleichen vier Wänden überlebt, in denen sie heute immer noch wohnt. Der Beschuss im Kriegszustand hat ihr Disziplin und die Fähigkeit zur inneren Sammlung beigebracht, so hat sie es mir einmal vor über zehn Jahren erzählt. Auf die Frage, wie es ihr jetzt gehe, schreibt sie mir: „Es geht mir gut. Ich übe mich in Geduld und innerer Sammlung.“ Wann werden wir auch anfangen, in diesen geistigen Kategorien zu denken – wir, die westlichen Menschen, denen der Ausklang des Zwanzigsten Jahrhunderts keinen Hunger, keinen Krieg und keine ökologisch bedingten Katastrophen gebracht hat? Da Geduld und innere Sammlung zu meiner Arbeit gehören, sind sie nicht erst jetzt auch Teil meiner Alltagsschritte geworden, auch wenn ich Anfängerin bin und es bleibe, denn am besten ist, wenn ich mich Übende nenne. Ich bemerke seit Tagen, dass ich auch jetzt dazu in der Lage bin, diese Übung fortzusetzen, Anfängerin zu sein und nun nicht mehr nur am Schreibtisch, sondern beim Kochen, beim Wäschewaschen, beim Einkaufen mit der Schutzmaske, Schülerin dieser Disziplin zu bleiben. Ich falle immer wieder aus der Gelassenheit heraus. Besonders die Maske macht mich nervös. Neulich bekam ich einen Riesenschreck, weil mir jemand in einem Laden zu nah kam, als er das Regal neben mir auffüllte. Auch die Erschütterung durch das gegenwärtig vielfach vorhandene Schöne lässt mich vor dem Hintergrund und im Wissen um tausend Tote gestern und allein in Italien wie von innen erzittern, bei Sonne. Es ist ein metaphysisches Zittern. Ich kenne es. Es kommt immer nur dann, wenn alles anders kommt, als ich denke.

Die Toten arbeiten an meiner Tiefenatmung. Wenn Gefahr in der Luft ist, wird alles ruhig in mir, sodass ich mir zu vertrauen weiß. Nicht einmal ansatzweise neige ich in Not zur Hysterie, habe auch keine Angst vor dem Tod, bemerke aber doch, dass das Zittern zunimmt. Denn es passiert mit einem Mal etwas, das mir nur in der zweiten Kindheit geschah. Die zweite Kindheit ist die, die nach der Dorfkindheit kam. Meine deutsche Kindheit in der deutschen Zeit, in der Vater und Mutter plötzlich da waren und mit ihnen die Gewalt. Der Alkohol. Und seine zu allen Überraschungen fähige Abgründigkeit. Vater trinkt und Vater ist blind vor Wut, wenn er trinkt. In dieser zweiten Kindheit verliere ich immer wieder die Worte. Ich bin erschüttert, dass es mir jetzt plötzlich wieder geschieht. Dass die Sprache sich windet. Dass meine Sprache mich verlässt, mich im Stich lässt. Und das ist eine Bedrohung für mich, denn ich kann hin und wieder ganz plötzlich nicht mehr sagen, was ich sagen will. In meinem Vokabular entstehen kleine und größere Lücken. Zu meinem Schrecken kann ich sie nicht kontrollieren. Neulich habe ich verzweifelt nach dem deutschen Wort für Taschenlampe gesucht, als ich Rilkes Panthergedicht auf dem Balkon lesen wollte – es war noch dunkel und meine Augen werden immer schlechter, ich brauche eine bessere Brille, eine Lesebrille. Noch immer ist es März, dunkel die frühen Abende. Taschenlampe also. Sie entzog sich mir als Wort. Wie ein Idiot, der Idiot meiner selbst, sah ich nur das Bild der Taschenlampe vor meinem inneren Auge. Das Wort war weg, hatte sich versteckt. Mir fiel nur die Stimme meines Großvaters ein, der dalmatinische Dialekt, in dem er džepna baterija sagte, wenn er, in der Zeit als wir noch kein Badezimmer besaßen, nachts zur Latrine ging und Licht für den langen Weg durch den Garten brauchte, um sich den Schraten und Elfen und Windwesen anzukündigen, damit sie nicht an ihm zupften. Einen ganzen verzweifelten Moment lang schaue ich mit meinem inneren Tastsinn nach dem Wort, das mir nur als Bild erschienen ist, das Wort, das ich brauche, kommt aber nicht auf meine Zunge, und ich sehe dann zu Gregor, der darauf wartet, dass ich meinen Satz zu Ende sage. Unser Kind schläft friedlich in seinem Bett. Ich suche in meinem Kopf das Ding, mit dem ich lesen kann, sage ich nun. In mir nachhallend hört sich dieser Satz wie der Ton eines verwilderten kleinen Tieres an, dem ein schlimmer Schmerz widerfahren ist. Dabei zeige ich auf das Buch, das auf unserem langen Holztisch liegt: deutsche Gedichte. Gregor beruhigt mich wie immer, wie seit Jahren schon, nur ein Blick und er weiß Bescheid, er sagt es sofort, eine Taschenlampe, du suchst das Wort Taschenlampe, sagt er, damit du lesen kannst. Ja, es ist eine Taschenlampe, die ich suche, die Taschenlampe, derentwegen ich einen Augenblick lang eine Hilflosigkeit erlebe, die ich nur kenne, wenn ich mich nicht mehr kenne.

Die Taschenlampe hat den Anfang vieler kleiner Wortausfälle und Verunsicherungen markiert. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, dass die Sprache von ihren Lücken in solchen Ausleuchtungen spricht und dass es ausgerechnet die Taschenlampe war, die mich darauf hingewiesen hat, so, als dürfte ich das Licht, das in ihr wohnt, nicht vergessen. Ich weiß, dass derart stark Ausgeleuchtetes unweigerlich etwas Größeres ankündigt und so darauf aufmerksam macht, dass es auch wirklich kommen und mir noch viel Kraft abverlangen wird. Jetzt, ein paar Tage später, ist es Alltag für mich geworden, dass die Sprache in jeder Hinsicht das Denken übernimmt und ich mich ihr unterordne, bis sie mir sagt, was sie sagen will. Manchmal fallen mir dann auch in einem einzigen Satz Wörter verschiedener Sprachen zeitgleich ein. Manchmal verweigern sich mir aber auch alle Sprachen, und statt etwas zu sagen, versuche ich dann etwas zu tun. Was das Wort getan hätte, tut jetzt also meine Hand. Ich bin ihr dankbar. Ich will die Liebe dennoch nicht ungesagt lassen. Aber wenn die sanften Häfen ihrer Freude mich in meinem Sprechen entmachten, gebe ich schnell noch ein paar Küsse, statt Anker im Sagbaren auszuwerfen. Allmählich gewöhne ich mich an diese Zeit der bedrängten Lungen. Meine eremitische Natur ist, wie sich nun herausstellt, gar nicht meine einzige Natur. Die mystische Wirkungsweise des Schweigens hat mich übernommen. Dennoch, die Beunruhigung durch die Sprachlücken hat mich in einen Zustand erhöhter Aufmerksamkeit gebracht, und ich vermisse meine Freunde, meine nahen Menschen. Ich weiß jetzt auch mit dem Körper, was Meister Eckhart gemeint hat, als er sagte, keiner habe sich in diesem Leben soweit gelassen, dass er sich nicht noch mehr hätte lassen können. Ich lasse mich, lasse ab von mir. Ich bin immer noch da. Aber anders. Mit anderen Augen. In mir ist Dankbarkeit, in mir ist Leben. Ich nehme wahr, wie alles sich in diesen Innenraum verschiebt, der auf das äußere Ich zu verzichten vermag. Und doch muss ich im Sprechen auf meine Vereinzelung zurückgreifen, ich sagen, mich wenden und dem Wind aussetzen, damit er mich noch mehr lässt im Sinn hinter dem Sinn. Die Beunruhigung bleibt. Das metaphysische Zittern ist nicht weg. Und meine rechte Hand tut immer noch weh. Jede Bewegung schmerzt. Die Schwellung ist rätselhaft groß, weicht nicht. Nichts hilft. Ich habe allmählich keinerlei Freude mehr daran, auch nur irgendetwas auszuprobieren. Ich kann keine Salben mehr sehen. Ich will keine Tabletten mehr nehmen. Kein Cortison. Und auch keine Naturheilmittel, die ich immer allem anderen vorziehe. Ich will überhaupt nichts mehr nehmen. Ich will jetzt nur noch zuschauen. Und alles tun, was ich tun will, dem Schmerz zum Trotz. Oder nein, nicht ihm zum Trotz, sondern mit ihm, mit seiner Hilfe. Ein Satz von Richard Buckminster Fuller fällt mir ein: „Die Minute, in der man beginnt zu tun, was man tun will, ist der Anfang eines wirklich neuen Lebens.“ Ich weiß, dass ich noch nicht so weit bin. Aber ich übe. Die Hand zeigt mir, dass der Schmerz nicht schlimmer wird, als er ist. Und wenn doch, dann nehme ich meine eigene Fähigkeit, ihn betrachten zu können, viel stärker wahr. Wochenlang bin ich nicht Fahrrad gefahren, weil ich nicht bremsen konnte, weil die Hand mir danach noch mehr wehtat, noch mehr anschwoll, jede Radfahrt sich wie eine Art Sünde in die Gelenke einzuschreiben schien und eine noch größere Schwellung, als Strafe für das erlebte Vergnügen, sich zeigte. Nun ist es mir egal. Ich fahre Fahrrad, und der Frühling liebt mich, der Wind freut sich an meinem Haar und mein Haar am Wind, ich könnte singen, so glücklich bin ich, dass ich wieder Fahrrad fahre und dass die Hand das kann. Ich übe das und alles, was mir Freude macht. Ich stärke die Freude. Und die Schwellung ist beleidigt und nimmt sogar ein bisschen ab.

Dann ist alles wieder auch ganz schlicht an die Jahreszeit gebunden, was mich im Empfinden wendet. Mir fehlen die freudigen Stimmen der Menschen im Frühling, deren Beschwingtheit von der Sonne kommt und die besonders an den helleren Tagen zu den Körpern sprechen. Es ist die Verlängerung jener unvergleichlichen Erfahrung, die ich nach der Geburt meiner Tochter machte – dass alle Menschen, von innen betrachtet, wirklich und wahrhaft schön sind. Monatelang hatte ich diesen Blick, der genau sehen konnte, ab wann das Schöne in den mir begegnenden Menschen zugeschüttet worden war. Zubetoniert. Wie der Asphalt die Erde übertüncht, aber nicht das wahre Gesicht der Erde ist, haben viele Menschen jener dicken Schicht der Übermalung vertraut, sie als sich selbst wahrgenommen. Diese Innenzeit, in der wir alle in unseren Wohnungen wie in Häfen unserer seelischen Existenz gestrandet sind, wird das falsche Versprechen des Asphalts ausleuchten, es auf den Kopf stellen. Die Zeit der Lüge ist zwar nicht vorbei, aber die Zeit der Wahrheit und Ehrlichkeit ist dennoch gekommen. „Später werden wir in Worten reden (doch das wird bereits etwas anderes sein)“, heißt es einmal bei Gennadij Ajgi. Wie gilt es doch auch und vor allem für das Schöne! Das erste Meer! Für den ersten Blick auf das Mittelmeer, den ich nie vergessen werde. Mit Beglückung denke ich jetzt an unsere allererste Familienreise nach Tel Aviv, an die kleine, stetig wachsende Hand meiner Tochter und an die kleinen Füße, die sich durch den Sand bis zur Brandung durchschlugen, vor wildem Glück und geleitet vom Taumel der Freude. Wie die warme Luft uns liebte. Wie gut das Wassermelonen-Minze-Shake schmeckte, das Gila mir empfohlen hatte. Als wir nach Berlin zurückkamen, schrieb ich ihr, ich weiß gar nicht, wie ich ohne dieses Wassermelonen-Minze-Shake weiterleben kann. Sie schrieb zurück: Dann geht es dir wie uns allen. Jetzt ist kein Gedanke daran zu verlieren, irgendwohin zu reisen. Der Flughafen in Tel Aviv ist geschlossen. Der Sommer zieht in die Straßen dieser mir vom ersten Augenblick an so vertrauten, wildschönen Stadt ein, er ist König seiner Zeit auch ohne uns Reisende, die wir zur Lautstärke, aber eben auch zur Freude des In-der-Welt-Seins beitragen. In Israel gewesen zu sein und es jetzt zu vermissen, das ist eine neue Sehnsucht, ein neuer milder, aber wachsender Schmerz, denn in meinem Leben schien das Reisen immer möglich zu sein. Nun nicht mehr. Nun wächst an der Stelle der äußeren Reise die innere Hingabe an alle Orte, die ich erleben, betreten und mit den Augen ausforschen, mit der Haut fühlen konnte.

Wenn ich jetzt meine Tochter ins Bett bringe, habe ich keine Pläne mehr im Kopf. Ich denke nicht mehr daran, was ich noch alles erledigen, machen, arbeiten muss, wenn sie eingeschlafen ist. Das fing schon ein paar Wochen vor dem Ausbruch des Virus an – eine neue Geduld entsteht in mir, ein neues Gegenwärtigsein. Ich habe keine Agenda, wenn ich sie in den Schlaf begleite, ich verstehe das und betone es erneut, weil ich vorher eine hatte. Ohne es zu merken. Daher die Unruhe in meinen Gedanken und in meinem Körper und in der Folge auch in ihrem. Schlief sie schneller ein, hatte ich mehr Zeit, um aufzuräumen, zu lesen, um zu essen, umzu, umzu, umzu, usw. bis die Zeit vergeht. Wenn die Zeit bloß vergeht, dann hat sie keine Seele mehr. Und jetzt höre ich nur dem Atem meines Kindes zu, sehe es an, sein sanftes Löwengesicht, in dem sich Monat für Monat ein starker Wille bemerkbar macht und eine so tiefe Freude, dass es mir in seinem Leuchten, kurz bevor der Schlaf sich auf seine Lider legt, überirdisch schön erscheint. Ein Engel ist in mein Leben gekommen und hat mir, jetzt stellt es sich in dieser unvermeidlich gewordenen Isolation heraus, das Fundament für alle Geduld, Umsicht und Güte gelegt, die ich zu leben vermag. Und muss. Wie nie zuvor. Jede Freundlichkeit zählt. Im unsichtbaren Leben der Menschen webt sie an einer leuchtenden Landkarte des Seins, mit der alle, die sich in der Freundlichkeit üben, verbunden sind. Nicht nur das Virus verbreitet sich schnell. Auch die samtene Sanftmut des inneren Lebens macht auf diese Weise auf sich aufmerksam. Wie ließe sich eine solche Landkarte der kleinen und großen Sonnenposten nachzeichnen? Wenn wir uns nur einer besonderen Situation in unserem Leben erinnern, in der ein anderer Mensch etwas Gutes für uns getan hat, und dann nachvollziehen, was daraus geworden ist, können wir sehen, dass es nicht nur uns, sondern auch unzählige andere Menschen, mit denen wir in Berührung gekommen sind, verändert und beschenkt hat. Unsere Sonnenposten leuchten den Raum und die Zeit aus, in denen wir leben. Die anderen Menschen haben wiederum andere getroffen und sie berührt mit ihrem Innenleben, mit dem, was sie zu geben hatten, und alles geht immer so weiter bis ins Unendliche, wo es sich mit anderen Sonnenposten berührt. In der Seele sind Zeit- und Raumgenossenschaft schon immer miteinander verbunden gewesen. Wir sehen diese Berührung im Unendlichen nicht. Aber wir wissen, dass es sie gibt. Ein unsichtbares Netzwerk der Freundlichkeit arbeitet auf seine Weise am Gleichgewicht der Welt. Die Innenwelt der Innenwelt, die eine Brücke zu einer Außenwelt ist und wieder Innenwelt wird, sobald einer die Augen schließt und bereit ist zu sehen. Ich bin jetzt bereit. Ich mache die Augen zu. Und ich fühle einen starken Schmerz, der mich zu belagern versucht. Seit drei Monaten habe ich Handschmerzen. Der Kern meiner Innenwelt schält sich ab und zeigt sich mir. Das ist das Ergebnis einer zweiten Engelsarbeit, die das Grobe und Falsche in mir zum Innehalten gebracht hat. Auch während ich das hier schreibe, ist der Mittelfinger geschwollen und ich empfinde, endlich, auch hier keinerlei Weinerlichkeit mehr. Jedenfalls denke ich das am Anfang, weil ich einen Grund dafür habe und mein Erleben sich anders verortet. Eine neue Entschlossenheit, alles durchzustehen, ist in mich eingezogen – abzuwarten, was die Hand mir ohne Cortison sagt, ohne Schmerzmittel und ohne Beeinflussungen irgendeiner anderen Art. Hin und wieder überfällt mich Selbstmitleid, das ich unerträglich beschämend finde. Ich möchte zurück in den Zustand der Gelassenheit, des Annehmens, des Wissens, dass alles anders werden kann, alles eine Höhe und Tiefe hat und alles irgendwann zu Ende geht. Rilke fällt mir ein und Kafka, die beide schweren und tödlich verlaufenden Krankheiten ausgesetzt waren. Rilke wollte seinen eigenen Tod erleben, nicht den Tod der Ärzte. Ich will meine eigene Gesundheit erleben, nicht die Gesundheit der Ärzte. Auch das Leben gärtnert, nicht nur sein Ende. „Es ist nötig – und dahin wird nach und nach unsere Entwicklung gehen –, dass uns nichts Fremdes widerfahre, sondern nur das, was uns seit Langem gehört. Man hat schon so viele Bewegungsbegriffe umdenken müssen, man wird auch allmählich erkennen lernen, dass das, was wir Schicksal nennen, aus den Menschen hinaustritt, nicht von außen in sie hinein.“ Rilkes Worte strömen nicht nur direkt in mein weisungsbereites Herz, sondern auch in dieses neue Zeitalter hinein. Langsam erahne ich, was es mit dem Pythagoreischen Prinzip auf sich hat, nach dem die Zeit die Seele der Welt ist. Und wenn die Welt, in der wir leben, gar keine Seele hat, was bedeutet das für unser Hiersein? Kann es denn so etwas wie eine vollständig seelenlose Zeit geben? Ich glaube, die Seele lässt sich nicht vergessen. Sie spricht in tausend Versprenkelungen mit uns.

 

Immer öfter überwiegt in mir das Erstaunen darüber, dass meine Hand mich lange vor dem Einbruch der Corona-Pandemie gestoppt hat, dass sie also mit Nachdruck (der sich als Schmerz äußert) auf eine Pause des fortwährenden Tuns gepocht hat. Zu Weihnachten und Neujahr war ich so müde, dass meine einzige Sehnsucht dem Schlaf galt. In den letzten drei Monaten ist jeglicher Aktionismus von mir abgefallen, und ich habe, dieses Mal wahrhaft, mit dem Körper und nicht nur mit dem Verstand begriffen, dass nichts zu tun ist, dass recht besehen nie etwas getan werden muss, sondern dass alles im richtigen Atem beizeiten von allein geschieht und wir dann mitgehen können – und mitgehen müssen, denn darin ist die Handlung enthalten, die uns wirklich an der Stelle in unserem Leben verändert, die verändert werden muss. Die Wandlung wird nicht im alten Muster vollzogen, sie kann nur in etwas Neuem zu sich kommen. Aus der Rückschau betrachtet wird dieses Eingebundensein in den richtigen Rhythmus und in die richtige Zeit eine Tat, die sich im Fließen anbietet und nicht mit der äußeren Willenskraft errungen werden kann. Mitgehen ist in diesem geistigen Imperativ keinesfalls passiv gemeint, es ist das Ergebnis einer langwährenden Geduld und Einsicht in das, was nicht wehtut. Seitdem die Pandemie mich zwingt, ruhig zu sein, begreife ich aber, dass ich, obwohl ich das alles weiß und mein Kind es mir auch jeden Tag zeigt, dem Atem immer wieder zuvorkomme, ihn nicht gewähren, ihn nicht machen lasse, sondern immer zuerst versucht bin, mit dem Willen zu handeln und dem Atem zuvorzukommen. Ein Unterfangen, das bleibt, aber eines, das mir zeigt – ich übe mich, ich bin bereit, mich weiter als Übende zu verstehen. Ich erinnere mich, dass es im Dorf meiner Kindheit immer hieß, ich sei sogar schneller als der liebe Gott – das hätte mich schon damals nachdenklich machen müssen, statt mich mit Stolz zu erfüllen. Der Atem aber, wenn ich ihm die Handlung überlasse, kleidet alles in Ruhe aus. Der Atem braucht keine Schnelligkeit, weil er selbst sein Maß ist. Der natürliche Atem stimmt mich friedlich, er lässt mich in Ruhe, gibt mir Zeit, ist selbst die richtige Zeit. Der Wille macht mich stark, aber auch rastlos, lauernd und jederzeit bereit, neu anzupacken, etwas zu tun, etwas zu machen. Wie schaffe ich es, beide miteinander ins Gespräch zu bringen? Der Lebensgeist aus den vier Himmelsrichtungen kann helfen. Ich werde ihm zuwarten, werde ihn machen lassen, was ich selbst nicht machen kann.

Seit über zwanzig Jahren übe ich mich wohl in dem, was mir nun als Frage begegnen kann. Dennoch wird mir die Bedeutung dieser Atemarbeit erst jetzt in ihrer Tragweite bewusst. Ich praktiziere Yoga, seit Jahren, jeden Morgen, und meditiere und bete mich wort- und buchstabenweise ins Nichts. 2020 begann mit einer so dichten inneren Dunkelheit, dass ich, seit Jahrzehnten eigentlich, zum ersten Mal eine ernsthafte Ahnung vom inneren Nichts erhielt, wie es mir schon eine lange Zeit bekannt und in verschiedensten Abstufungen begegnet war – in meinen eigenen Abgründen, Epiphanien, nach zu Ende gegangenen Liebesgeschichten, aus Träumen, beim Schreiben, aber auch deshalb beim Lesen mystischer Texte wie sie bei Mechthild von Magdeburg zu finden sind, bei Teresa von Avila und vor allem bei Juan de la Cruz in seiner Formulierung von der dunklen Nacht der Seele. Ich bin schon seit Januar eingekapselt in die Wahrnehmungsfelder, die die Bewegungslosigkeit mir zugespielt hat. Jetzt ist bald April und in mir ist Scheu, die Jahreszeit zu wechseln. Bestimmt genieße ich auch deshalb die äußere Helligkeit wie noch nie zuvor. Die Erde ist das Paradies, das wir alle suchen. Die innere Dunkelheit fing sich langsam an zu lichten, als die Pandemie sich rasant über die Welt verbreitete. Blitzartig wusste ich, dass das etwas mit meiner eigenen Entwicklung zu hatte, dass das, was ich geglaubt hatte, überwunden zu haben, erst am Anfang seiner Mitteilung war und dass der Anfang lange währen, sich nicht so schnell überschreiben, wegdenken und vergessen lassen würde, dass es also in allem ein Wendepunkt war und sich selbst unauslöschlich in Bewusstsein übersetzen wollte. Die Sommerzeit hat nun begonnen. Die Hand ist geschwollen und der Schmerz brennt. Und ich bin ohne weiteres bereit, Schutzmasken selbst zu basteln wie es ein jetzt schon berühmter Virologe in einer Berliner Tageszeitung dargelegt hat. Unsere ungewollt und unwissend in China bestellten Masken sind immer noch nicht da. Gregor hat jetzt alles für die Masken zum Selbermachen bestellt, die von unserer Freundin haben wir fast schon alle verbraucht. Ein Teeversand hat Lieferschwierigkeiten und wundert sich über die enormen Bestellungen, zu denen auch unsere gehört – der in Papier gelegte Draht, der sonst für das Verschließen von Teepackungen gebraucht wird, findet gerade reißenden Absatz. Vor einigen Wochen habe ich noch über eine osteuropäische Ministerpräsidentin gestaunt, die sich zu ihrem lila Kleid eine lila Maske hatte nähen lassen. Es kam mir so grotesk und falsch vor. Augenblicklich ging dabei meine Hand zum Mund, wie um ein Erschrecken zu benennen und das als sinnlos Erlebte zu bannen. Das Basteln ist jetzt vorbei. Jetzt nähen sich längst alle schon eine eigene Schutzmaske in den Mustern und Farben, die ihnen gefallen oder zu ihrer Kleidung passen. Ich halte den Kopf meines schlafenden Kindes, meine Hände finden dafür Worte ohne meinen Mund. Fingerkuppe und Schläfe reden miteinander. Immer mehr liebe ich sie, diese heilsame Kraft des Schweigens.

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