Tübinger Fieberwahn

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»Da ist er runtergekommen.« Wolfgang deutete nach oben. Aus der maroden Burgmauer hatten sich Steine gelöst und einen Teil des Gerüsts mit sich gerissen.

»Dann mal hinauf in luftige Höhen!«, flachste Bernadette. Nach zehn Minuten standen die drei schwer atmend im Burghof.

Unterwegs hatten sie die Angestellten des Bestattungsunternehmens mit einem Metallsarg getroffen. Die armen Schweine mussten den schweren Leichnam den Berg hochschleppen. Sie taten Wilde leid.

Weiter hinten im Hof lagen Baumaterial, Zementsäcke und Pflastersteine. Neben einem Bauwagen lehnte ein blaues Dixi-Klo. Ein Schild am Eingang zum Burghof verkündete: »Betreten der Baustelle strengstens verboten!«

Bernadette löste sich aus der Gruppe und begann, den Bauwagen zu umrunden. Wilde schritt zügig auf das Dixi-Klo zu und verschwand darin. Schickenrieder schnäuzte sich lautstark. Dann zog er sein Smartphone heraus und fotografierte die weißen Sneaker, die neben dem herausgebrochenen Mauerstück standen. Blaugestreifte Armanisocken lagen sorgfältig gefaltet daneben.

»Ob die wohl unserem Toten gehört haben?«, fragte Bernadette in die Runde.

»Das werden wir sehen!« Sie zog einen Plastikbeutel aus ihrer Jackentasche. Schickenrieder streifte sich dünne Plastikhandschuhe über und steckte Schuhe und Socken in das Behältnis. Der kalte Wind hatte etwas nachgelassen. Er wehte weiße Blütenblätter und süßen Fliederduft über den gepflasterten Hof.

Wilde setzte sich auf die Bierbank neben dem Bauwagen. Bernadette und Wolfgang gesellten sich dazu. Wolfgang holte ein Fläschchen Nasentropfen aus der Hosentasche, legte seinen Kopf in den Nacken und tröpfelte zwei Tropfen in jedes Nasenloch. Im Frühling, sobald die ersten Weidenkätzchen blühten, kämpfte der Ärmste jedes Jahr mit seiner Pollenallergie. Er schniefte. Dann schwiegen die drei in stiller Übereinkunft und ließen den mutmaßlichen Tatort auf sich wirken.

Es herrschte idyllische Ruhe. Vögel zwitscherten, ein Kuckuck rief. Plötzlich ertönte ein silberheller Gongschlag und dann setzte leise fernöstliche Musik ein.

Hinter dem Burgfried trat eine schmächtige Frau hervor. Ihre dunklen Haare hatte sie im Nacken zusammengebunden. Sie trug eine schwarze Yogahose und eine graue Vliesjacke mit Kapuze.

Sie legte einen Gegenstand auf den Boden und stellte eine Thermoskanne und einen Becher daneben. Ihre Füße waren hüftbreit aufgestellt, ihren Rücken hielt sie gerade wie eine Statue. Dann hob sie langsam den Kopf und blickte der aufgehenden Sonne entgegen, die sich durch die grauen Wolken quälte. Jetzt begann sie sich in fließenden Bewegungen wie in Zeitlupe zu bewegen.

Sie streckte die Arme aus, fing einen imaginären Ball, drehte den Kopf ganz sacht, strich sich über den Bauch. Dabei blickte sie wie in Trance über die Burgmauer hinweg weit ins Land hinaus, über blühende Obstwiesen, Weinberge, Hügel, Straßen und Wälder. Überall stiegen leichte Nebelschwaden auf.

»Qigong«, flüsterte Bernadette, »die acht Brokatübungen-Baduanjin.«

Wilde sah sie fragend an.

»Die Kultivierung des Qi durch Atmung und Vorstellungskraft«, fügte sie hinzu.

»Kann ich nichts mit anfangen«, brummelte Schickenrieder, »warum die Dame das mitten in einer Baustelle betreibt, übersteigt meine Vorstellungskraft.«

»Dann wollen wir die Teestunde mal hinterfragen«, konstatierte Wilde. Er stand auf, lief auf die Gestalt zu und tippte sie vorsichtig an der Schulter an. Die Frau fuhr erschrocken herum. Wilde blickte in ein blasses Gesicht, aus dem ihn dunkle Augen überrascht anstarrten. Er zückte seinen Polizeiausweis.

»Bitte nicht erschrecken! Hauptkommissar Wotan Wilde, Kriminalpolizei Tübingen. Das sind meine Mitarbeiter Hauptkommissarin Bernadette von Hohenstein und Hauptkommissar Wolfgang Schickenrieder.« Er deutete auf seine Mitarbeiter auf der Bierbank.

»Und mit wem haben wir das Vergnügen zu dieser frühen Stunde?«, fragte er die Fremde.

»Ich bin Silja Gundel und mache hier meine Morgenmeditation. Heute habe ich das Carsharing Auto, darum bin ich auf die Burg gefahren. Ein besonders intensiver Kraftort«, antwortete die Frau mit brüchiger Stimme und erstaunlich unaufgeregt. Dabei rang sie nach Atem, als wenn sie gerade erst den Burgberg bestiegen hätte.

»Was ist denn passiert?« Sie bückte sich, schraubte ruhig die Thermoskanne auf, goss eine dampfende Flüssigkeit in den Becher und nippte daran.

»Ein Unfall mit Todesfolge, unten im Tobel. Haben Sie etwas Auffälliges bemerkt?«, fragte Wotan.

»Ich habe nichts gesehen! Ich bin gerade erst hier eingetroffen!«, meinte Silja Gundel und nahm einen weiteren Schluck.

»Kommen Sie doch heute Nachmittag zu uns ins Kommissariat und wir machen ein Protokoll.« Wotan überreichte ihr eine Visitenkarte, die er aus seiner Brieftasche gefischt hatte.

»Kriminalkommissariat Tübingen, Konrad-Adenauer-Straße 30«, las sie laut vor, »da kann ich mit dem Bus hinfahren.«

Wilde warf Bernadette einen auffordernden Blick zu. »Meine Kollegin wird Ihre Daten aufnehmen. Dann schönen Tag noch! Wo geht’s hier zum Parkplatz?«

Silja Gundel zeigte auf einen kleinen Torbogen: »Da durch und dann die steile Auffahrt immer bergab. Kann man nicht verfehlen.«

Die beiden Männer liefen los und standen schon an ihren Autos, als Bernadette angerannt kam. Sie warf Wotan den Schlüssel zu.

»Damit du dich nicht wieder über meinen sportlichen Fahrstil beschwerst«, erklärte sie aufgekratzt.

»Danke, Bernie!«, grinste Wotan.

»Lagebesprechung in meinem Büro«, ergänzte er, an Schickenrieder gewandt, und stieg ein. Bernadette machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem.

Silja Gundel stand noch wie angewurzelt da, als sie die Motoren der Kommissare anspringen hörte und die Motorgeräusche dann leiser wurden. Wie in Trance steckte sie Becher, Thermoskanne und Handy in den Leinenrucksack, der am Boden lag. Ihr Atem ging pfeifend, als sie den kleinen Pfad in den Tobel hinabschritt.

Du musst mit deinen Kräften haushalten, mahnte sie sich innerlich. Mit ihrer angeschlagenen Lunge war nicht zu spaßen und sie hatte ihr Spray zu Hause im Bad vergessen. Der Tatort war mit einem rotweißen Band abgesperrt. Sie musste sich beeilen, bevor der Körper abtransportiert wurde. Sie wollte einen letzten Blick auf ihn werfen.

»Halt! Am Tatort kein Durchgang!« Ein Polizist in Uniform versperrte ihr den Weg. Silja starrte ihn wortlos an. Momentan konnte sie nichts tun. Sie hatte ja das Foto aus der Nacht, das musste erst mal genügen. Sie drehte sich um und lief den Pfad in Richtung Parkplatz bergauf. Sie keuchte vor Anstrengung und rang nach Luft, als sie endlich vor dem weißen Fiat mit dem Logo der Carsharingfirma stand.

Sie wartete eine kleine Weile, bis sie wieder zu Atem kam. Dann stellte sie sich breitbeinig hin und breitete die Arme aus. Ihr Blick ging in Richtung der aufgehenden Sonne. Sie warf den Kopf zurück und stieß ein lautes, stakkatoartiges Lachen aus. Dabei liefen Tränen über ihre Wangen.

5. Die ersten Fragen

»Sehen toll aus, die Osterglocken in der Rabatte«, bemerkte Bernadette, während sie das alte Holzfenster im Büro öffnete, um Frischluft hereinzulassen und einen Blick auf den Parkplatz vor dem Kommissariat mit seinen riesigen alten Kastanien zu werfen.

»Die neuen Möbel riechen so …, so neu!«, teilte sie mit.

Es roch wirklich etwas penetrant nach den nagelneuen Möbeln, die sie erst letzte Woche bekommen hatten. Die Industrieleuchten, die den Raum erhellten, hatten das falsche Licht für die farbenfrohe Einrichtung, sie sollten aber auch noch ausgetauscht werden.

Die drei Schreibtische und die Aktenschränke waren in Dunkelgrau gehalten mit hellgrauen Kanten und roten Schubladen. Die ergonomischen Bürostühle waren mit rotem Kunstleder bespannt. Nur der hellgraue, abgetretene Boden war nicht ausgetauscht worden. Er passte nicht so recht zu dem neuen Design.

Außerdem hatte man ihnen ein paar Grünpflanzen in Hydrokultur spendiert, die von der Gärtnerei »Rudenauer« geliefert worden waren und auch von deren Mitarbeitern gepflegt werden sollten. Sonst hätten sie wohl nicht lange überlebt.

Bernadettes Kollegen Robert Altmann und Wotan Wilde saßen schon am Besprechungstisch.

Alle starrten auf die »Wand der Schande«, wie sie die magnetische Glastafel nannten, die auf Stelzen im Raum stand. Bernadette behauptete immer, dass das nicht mit rechten Dingen zugehen könnte. Glas konnte nicht magnetisch sein. Trotzdem pinnte sie die Bilder und Dokumente mit den Magneten, die auf der Seite der Tafel gebunkert waren, an das Board.

Momentan hingen das vergrößerte Foto aus dem Ausweis des Toten und Bilder vom Tatort an der Wand.

Jetzt öffnete sich die Tür und Wolfgang kam herein.

»Macht das Fenster zu, da kommen alle Pollen rein!«, rief er panisch. Seufzend erhob sich Bernadette und schloss das Fenster. Sie kannten alle Wolfgangs Pollenallergie, die ihn besonders im Frühling plagte, und taten alles, um seine Leiden zu lindern.

Erleichtert verkündete der große Rothaarige: »Einen schönen guten Morgen, liebe Kinder. Papa hat euch Frühstück mitgebracht. Vier Teile zum Preis von drei.«

Er trug einen Becherhalter mit vier Pappbechern und warf eine Tüte mit dem Logo der Bäckerei Padeffke auf den Tisch. »Dreimal Kaffee für unser Spitzenteam und einmal Tee für den Herrn Altmann. Dazu Butterbrezeln und ein Croissant für Eure Durchlaucht, die Prinzessin.« Er verbeugte sich leicht in Richtung Bernadette.

»Du immer mit deinen Sonderangeboten. Ist ja schon krankhaft!«, murrte Robert.

Wolfgang ließ sich durch diese Bemerkung nicht seine gute Laune verderben. Na und, er war ein Schnäppchenjäger. Die Discounter machten es einem doch einfach mit ihren Preisschlachten. Und so üppig war sein Gehalt ja auch wieder nicht. Heute Abend würde er noch bei Aldi vorbeifahren und die günstigen Duftkerzen für seine Freundin Claudia besorgen.

 

Er sah Bernadette beifallheischend an. Die blickte kurz auf, verdrehte ihre Augen und starrte dann wieder auf die Tafel.

»In Zukunft gibt es bei Padeffke nur noch heiße Getränke im Mehrwegbecher, soll ich ausrichten! Aber hoffentlich bekommen wir bald unsere neue Kaffeemaschine, dann hat sich das sowieso erledigt!«, laberte Wolfgang Schickenrieder ungerührt weiter. »Und dir, lieber Wotan, hab ich einen Flyer für die Schwerterausstellung im Alten Schloss in Stuttgart mitgebracht.«

Er legte Wotan die dunkelrote Broschüre neben sein Handy. Der warf einen interessierten Blick darauf. »Faszination Schwert«, las er laut und schob die Broschüre neben seinen aufgeklappten Laptop.

»Ich habe schon eine neue Maschine beantragt, aber ihr wisst doch, dass unser Controller da extrem pingelig ist«, bemerkte Wotan.

Die alte Jura-Maschine gab nur noch gurgelnde Geräusche von sich, ohne das ersehnte braune Getränk auszustoßen. Außerdem bildete sich regelmäßig eine Wasserlache unter dem Gerät, wenn man auf den Ausgabeknopf drückte. Und den Kaffee aus dem Automaten im Eingangsbereich des Kommissariats konnte man beim besten Willen nicht trinken.

Wolfgang verteilte die Kaffeebecher auf dem Besprechungstisch und riss die Tüte mit dem Gebäck auf. Alle griffen beherzt zu und ließen es sich schmecken.

Dann konzentrierte sich die Truppe auf die Fotos an der Tafel.

»Was wissen wir schon von dem Toten von Hohenneuffen?« Robert Altmann nahm den Becher mit dem Tee, öffnete den Deckel und schnupperte.

»Warum hast du keinen Rooibos Orange genommen?«, fragte der Teekenner anklagend.

»War aus! Vanille wird dich nicht umbringen!«, antwortete Wolfgang gleichmütig und biss in seine Butterbrezel.

»Also Schluss jetzt mit den Essensgesprächen!«, fuhr Wilde dazwischen. »Welche Infos gibt es zur Identität der Barfußleiche?«

Bernadette stand auf und ging zur Tafel. Mit weißem Filzer schrieb sie unter das vergrößerte Passfoto »Werner Wüst«. Sie malte ein Kreuz vor seinen Namen.

»Der Tote war ein gewisser Werner Wüst«, sagte sie ergänzend. »Geboren am 2.8.1957 in Tübingen. Er wohnte hier in der Meisenstraße drei. Ein Schickimicki-Viertel, wenn ihr mich fragt. Er fuhr einen Porsche Chayenne, laut Kraftfahrzeugschein. Außerdem waren in seinem Geldbeutel noch Karten von einem Fitnesstempel, obwohl er nicht so aussah, als wäre er einmal dort gewesen, die Eintrittskarte zur Spielbank im SI-Centrum in Stuttgart, ein Organspenderausweis, diverse Kreditkarten, ein Foto von einem sehr gut aussehenden dunkelhäutigen Mann und etwa 200 Euro in bar. Wir haben seinen Wohnungs-, nicht aber seinen Autoschlüssel gefunden.«

»Hat man seinen Wagen an der Burg entdeckt?«, fragte Wilde.

»Nein, da sind wir noch dran«, antwortete Bernadette.

Jetzt meldete sich Robert Altmann zu Wort: »In seiner Hosentasche war ein iPhone, das neueste Modell von Apple. Leider hat es durch das Wasser und den Aufprall Schaden genommen. Unsere Techniker sind aber dran und versuchen, zumindest den Speicherchip zu retten.«

»Hat ihn noch niemand vermisst?« Wilde legte die angebissene Butterbrezel auf eine Serviette und rührte den Kaffee um.

»Robert, du schaust mal in der Meisenstraße vorbei. Wir kennen seinen Familienstatus nicht. Du bist doch der Einfühlsamste von uns!«, schmeichelte Bernadette.

Der zog eine Grimasse und schob seine Lesebrille auf die Stirn. Außendienst war nicht so sein Ding. Er widmete sich lieber Computerproblemen. Bernadette knabberte dem Croissant eine Ecke ab und wischte sich die Brösel von ihrer Jeans.

»Was sagt eigentlich unser allseits geschätzter Pathologe Herr Burmeister? Gibt es schon Fakten von der Obduktion oder soll ich mal anrufen?«, fragte Wolfgang dazwischen.

»Ich fahr nachher mal bei ihm in der Pathologie vorbei«, beeilte sich Bernadette zu versichern. Wenn man genau hinsah, konnte man das Leuchten in ihren Augen bemerken.

Robert machte hinter ihrem Rücken einen Kussmund und Wotan klimperte mit den Wimpern und zog seine gespitzten Lippen mit einem imaginären Lippenstift nach. Jeder hier wusste, dass Bernadette einen Narren an dem smarten Kollegen gefressen hatte.

»Ich fasse zusammen«, Wilde wandte sich wieder seinem Laptop zu, »der gute Mann heißt Werner Wüst, hat ein teures Auto, wohnt in einer teuren Wohngegend in Stuttgart, geht ins Spielcasino, geistert nachts mit einer Stablampe über den Burghof von Hohenneuffen. Wie er dorthin kam, ist rätselhaft. Er macht schließlich einen Kopfsprung von der Burgmauer. Wir warten mal ab, was der Doc sagt.«

»Das Seltsamste ist aber, dass er vor seinem Sprung in den Abgrund seine Schuhe und Socken auszieht und sie fein säuberlich abstellt.« Bernadette zeigte auf das Foto mit den ordentlich abgestellten Mokassins.

Ratloses Schweigen machte sich breit. Alle starrten auf die Schuhe und ein Foto von den nackten Füßen des Opfers. Wotan zuckte die Schultern.

»Das Problem werden wir wohl jetzt nicht lösen!«, meinte er. »Robert und Wolfgang, ihr stattet der Wohnung von Wüst einen Besuch ab, Bernadette, du schaust beim Doc vorbei! Und ich versuche, noch mehr über den Toten zu erfahren!«

Wotan stand auf und steuerte auf seinen Schreibtisch zu. Auch die anderen brachen auf.

»Nehmt ihr den Dienstwagen! Ich fahre mit meinem gelben Flitzer!«, meinte Bernadette und warf Wolfgang den Autoschlüssel für den BMW zu.

6. Der seltsame Geruch

»Leopold! Hier, nimm die Mütze mit! Es ist kalt!«, rief Saskia Klaschke ihrem Sohn vom Balkon aus zu und hielt die graue Wollmütze in die Höhe.

»Lass gut sein, Mütterchen! Ich bin schon groß!«, rief Leopold, und sag nicht immer Leopold zu mir. Das macht mich alt, setzte er in Gedanken hinzu und grinste innerlich.

Der hochgewachsene junge Mann auf dem Gehweg winkte seiner Mutter kurz zu, zog sich die Kapuze über den Lockenkopf und rannte durch den Nieselregen in Richtung Blaue Brücke und zu seinem Unigebäude. Sein Donnerstagseminar bei Professor Horneber begann in 20 Minuten. Da musste er sich beeilen.

Saskia Klaschke schloss die Balkontür und warf die Mütze über einen Garderobenhaken.

»Und sag nicht immer Mütterchen zu mir. Das macht mich alt«, murmelte sie vor sich hin und lächelte. Er war schon ein guter Junge, der Leo. Sie hatte ihn sehr vermisst, als er nach dem Abi mehrere Monate als Backpacker durch Asien, Australien und Neuseeland gereist war.

»Weißt du, Ma, ich brauch erst mal ’ne Auszeit. Ich hab noch keine Ahnung, was ich studieren soll«, hatte er erklärt. Sie hatte ihm verschwiegen, dass sie seine Reisen im Internet akribisch mitverfolgt und sich über Land, Leute, Speisen und Klima informiert hatte. Nach seiner Rückkehr schrieb er sich an der Uni Tübingen für Computational Linguistics ein. Sie hätte eher einen Studiengang erwartet, der sich mit Sprachen oder Geschichte beschäftigte.

»Weißt du, Ma«, hatte er ihr erklärt, »IT-Spezialisten sind gefragt, das hat Zukunft.«

Im Studentenwohnheim in Dehrendingen stand er auf der Warteliste. Jetzt bewohnte er vorübergehend ein Zimmer im Hotel Mama: Neubau, Südseite mit Blick auf den Kinderspielplatz, Gästebad, Frühstücks- und Wäscheservice.

Saskia machte einen Schritt in Leos Zimmer. Der Computertisch mit den beiden 16 Zoll Bildschirmen und dem Kabelgewirr drum herum erschien ihr wie die Kommandozentrale für ein Raumschiff.

Auf dem hellen Parkett lagen aufgeschlagene Aktenordner und Lehrbücher. Saskia bückte sich und streckte die Hand aus, um die Wäschestücke auf dem Boden und dem zerwühlten Bett einzusammeln.

Sie hielt inne und schnupperte. Es roch irgendwie seltsam hier. Saskia warf einen Blick in den Papierkorb, der jedoch nur eine leere Chipstüte enthielt.

Sie stutzte einen Moment, machte dann auf dem Absatz kehrt und schloss energisch die Tür hinter sich. Nein, das war Leos Zimmer. Dafür war nur er verantwortlich.

Sie hatte als alleinerziehende Mutter genug zu tun. Es lagen bewegte Zeiten hinter ihr. Nach der Trennung von Johannes, dem Fantasten und Traumtänzer, der mit Kind und Familie überfordert war, jobbte sie beim Schmuckhersteller »Silber & Bernstein«.

Sie hatte sich zur Leiterin der Designabteilung hochgearbeitet. Nachdem die Firma von einem chinesischen Investor gekauft worden war und dessen billige Produkte verkaufte, hatte sie gekündigt und sich selbstständig gemacht. Sie hatte da keine Zukunft für sich gesehen und wollte keinen billigen Modeschmuck verkaufen.

Jetzt entwarf sie eine eigene Schmucklinie, schrieb Fachbücher über römischen Schmuck, ein uraltes Hobby von ihr, und arbeitete nebenbei als Sachverständige für Schmuck, was ihr immer wieder Reisen ins europäische Ausland bescherte.

Ihr Terminkalender war gut gefüllt. Sie hatte einen netten Bekanntenkreis.

Dennoch fühlte sie eine gewisse Leere in ihrem Leben, ein Sehnen nach Austausch und Gleichklang, nach heißen Liebesnächten. Sie schaute einfach zu viele Rosamunde-Pilcher-Filme.

Ihr Blick fiel auf die Prospekte, die auf dem Garderobenschrank lagen. Ganz oben lag der Bericht von Daniela Leinweber, der Frau, die zu sich fand und nebenbei noch 50 Kilo abnahm während ihrer Wanderung im Südwesten Englands. Sie war zwei Monate an der atemberaubenden Küste entlang, der Rosamunde-Pilcher-Filmkulisse, gewandert. Das wäre auch Saskias ganz großer Traum. Das würde sie machen, wenn Leo ausgezogen war.

Einfacher zu bewerkstelligen war der Besuch der Ausstellung »Faszination Schwert« in Stuttgart. Sie klappte die Broschüre auseinander, die sie in der Bücherei mitgenommen hatte. Im Rahmen der Veranstaltung gab es auch eine Sonderausstellung zum Thema »Römische Schmuckstücke«.

»Zum letzten Mittel, wenn kein anderes mehr verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben«, deklamierte sie laut Wilhelm Tells Worte, die auf der Rückseite standen. Das Alte Schloss in Stuttgart war gut mit der Bahn zu erreichen. Vielleicht würde sie mal an einem Sonntag nach Stuttgart fahren. Die Ausstellung ging noch bis zum 28. Mai. Sie pinnte den Prospekt an die Korktafel neben dem Spiegel.

Automatisch warf sie einen Blick in den Garderobenspiegel und fuhr sich durch die kinnlangen kastanienbraunen Haare. Man sah ihr das halbe Jahrhundert nicht an. In einem Monat würde sie ihren 50. Geburtstag feiern.

Sie starrte auf den schmalen grauen Haaransatz. Das Nachfärben kostete sie ein Vermögen. Sie würde einfach in den nächsten Tagen ein Tuch über dem Ansatz tragen und so den Friseurbesuch noch etwas hinauszögern.

Saskia schaltete die Espressomaschine ein. Dann ging sie ins Schlafzimmer und tauschte den Morgenmantel gegen den karierten Jumpsuit, den sie in Edinburgh bei H&M gekauft hatte. Sie liebte das bequeme Kleidungsstück. Sie fühlte sich darin jung und lebendig. Was waren schon 49 Jährchen? Sie hatte noch so viele Träume.

Sie angelte sich eine Banane aus der Obstschale auf dem Küchentisch. Die Kaffeemaschine zischte gurgelnd, als der doppelte Espresso in die geblümte Tasse lief. Heiß und mit drei Stück Zucker, so liebte sie ihren Muntermacher. Sie schälte die Banane, warf die Schale in den Bioeimer, der unter der Spüle stand. Auch hier roch es irgendwie seltsam. Sie sog prüfend die Luft ein. In dem Eimer lag neben der Bananenschale nur ein Apfelbutzen. Der konnte aber den Duft nicht verströmen.

An der Küchenzeile im Landhausstil fehlten noch die Türen und der Dunstabzug. »Küchen Block anrufen!«, stand mit mehreren Ausrufezeichen auf dem roten Post It an der Pinnwand im Flur. Sie sah auf die Uhr. 7.55 Uhr, noch zu früh für einen Anruf!

Saskia zog den weißen Stuhl heran, setzte sich an den Küchentisch und fuhr den Laptop hoch.

Heute sollte sie noch den Klappentext und ein letztes Kapitel ihres neuen Buches »Feminae – Der Schmuck der Römerin« schaffen. Es ging nur zäh voran. Besonders die Recherchen kosteten sie viel Zeit. Das Buch musste bis zur Buchmesse in Frankfurt 2021 fertig sein. Die Lektorin saß ihr im Nacken. Saskia verspeiste den Rest der Banane, stand auf und suchte nach einer Serviette.

Da sie nicht fündig wurde, ließ sie Wasser über die klebrigen Finger laufen und trocknete sich am Geschirrtuch mit dem Hahnmotiv ab, einem Mitbringsel aus dem Elsass. Gedankenverloren wanderte sie durch die Wohnung, drehte eine Runde durchs Wohnzimmer und blieb vor dem Regal mit dem Schmuckbäumchen stehen.

 

Nach genauer Abwägung wählte sie einen silbernen Anhänger in Distelform mit einem Stein aus grünem schottischem Marmor aus, der hervorragend zu ihren braunen Augen passte. Sie legte die Kette um, ging zum Küchentisch zurück und setzte sich. Sie schloss die Hand um den Stein. Er würde sie inspirieren.

Normalerweise schrieb sie in der Küche am effektivsten. Sie starrte auf die Tastatur. Dann stand sie wieder auf und öffnete die Tür zum Balkon einen Spaltbreit. Kühle Luft strömte herein. Heute konnte sie sich einfach nicht auf ihre Arbeit konzentrieren.

Lag das an den zahlreichen Rechnungen, die seit dem Einzug in die neue Wohnung beglichen werden mussten? Oder hing es mit dem Mann in der Penthouse-Wohnung zusammen? Saskia wurde es plötzlich heiß und kalt. Sie drehte sich um und drückte zum zweiten Mal auf den Knopf an der Espressomaschine. Die rote Anzeige blinkte, Wasser fehlte.

Sie beschloss, dem Tag durch eine Putzaktion einen positiven Dreh zu geben. Vielleicht fand sie dann einen Einstieg in ihr Buch.

Nach 20 Minuten waren die Böden gewischt. Es roch nach zitroniger Sauberkeit, unterfüttert von einem modrigen Duft. Vielleicht kochten ihre Hausbewohner etwas Exotisches? Saskia öffnete die Wohnungstür und schnupperte ins Treppenhaus.

Sie hörte, wie Emily im Erdgeschoss aus der Wohnung kam. Helle Kinderstimmen sangen und plapperten durcheinander. Dann fiel die Haustür ins Schloss.

Die Kostkas im 3. Stock konnten es nicht sein, die waren bestimmt schon in ihrem Gartenbaubetrieb. Da wurde erst abends gekocht.

Saskia wollte die Tür schon wieder schließen, als ihr ein Päckchen auf dem Boden auffiel. Es stand halb auf dem Fußabstreifer, wie unabsichtlich hingeworfen. Warum hatte der Paketdienst nicht geklingelt? Hatte Leo Druckerpatronen oder Computerzubehör bestellt?

Neugierig zog sie den Karton mit dem Fuß zu sich. Er war an der Seite leicht aufgerissen. Sie schob ihn mit dem linken Fuß in ihre Wohnung und ließ die Tür leise ins Schloss fallen.

›Ambrosius Ackermann, Am Alten Güterbahnhof 17, 72072 Tübingen‹, stand in fetten Druckbuchstaben auf dem Adressaufkleber. Darunter klebte der gelbe Warnhinweis: ›Zerbrechlich‹. Die chinesischen Schriftzeichen darunter wiesen auf eine exotische Herkunft hin.

Saskias Herz machte einen kleinen Hüpfer. Das Schicksal meinte es heute doch noch gut mit ihr. Schon seit Tagen versuchte sie, ihren neuen Nachbarn anzusprechen. Sie hatte ihn zum ersten Mal gesehen, als er einen dicken Umschlag aus seinem Briefkasten nahm.

›Ambrosius Ackermann‹, stand in Goldbuchstaben auf dem Namensschild. Er hatte sich umgewandt und ihr kurz zugelächelt. Da war es um sie geschehen. So wie es bei den Pilcherfilmen immer war. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, zumindest bei ihr. Seitdem loderte ihr Herz in heißer Liebe für ihn.

Saskia fühlte eine Welle der Sympathie in sich aufsteigen. Sie umfasste den grünen Marmorstein ihres Glücksbringers.

Dieser Ambrosius war genau ihr Typ, eine Mischung aus Marlon Brando und James Bond, kräftig und männlich. Gestern war ihr Traummann vor ihr in den Fahrstuhl geschlüpft. Nur den Duft eines herben Parfums hatte er hinterlassen.

Sie hatte sich anschließend im Drogeriemarkt durch die Männerdüfte geschnüffelt und in Duftfantasien geschwelgt. Es war »Versace Eros«, hatte sie herausgefunden.

»Danke, liebe Post!«, rief sie strahlend. Jetzt hatte sie endlich einen Anlass, an der Tür von Ambrosius zu klingeln. Sie hob das schwere Päckchen auf, drückte es an die Brust und tänzelte damit durch die Wohnung. Soweit man mit Fellhausschuhen in Form eines Schweinchens tänzeln konnte.

Sie würde jetzt duschen, die neue schwarze Spitzenunterwäsche anziehen und … Ihre Fantasie ging mit ihr durch.

Sie stutzte. Erst jetzt bemerkte sie es. Der Liebestaumel hatte anscheinend ihre Sinne vernebelt. Das Päckchen war es, von dem dieser unangenehme Geruch ausging. Das Ding verströmte einen geradezu bestialischen Gestank. Saskia hielt die Luft an. Sie rannte angewidert zur Balkontür und beförderte das stinkende Paket hinaus. Dann schloss sie die Tür und fächelte sich mit dem Geschirrtuch Luft zu.

In diesem Augenblick klingelte es Sturm an ihrer Wohnungstür. Wer war das? Sie erwartete niemanden! Außerdem würgte sie an dem widerlichen Geruch, der ihre Wohnung verpestete.

»Was!«, schrie Saskia und riss gleichzeitig die Tür auf. Sie zuckte zurück. Vor ihr stand Ambrosius Ackermann in voller Größe. Er trug eine rosa geblümte Schürze über einem schwarzen Jogginganzug. Seine Füße steckten in goldenen Crocs.

Er funkelte sie aus geröteten Augen an. Seine sonst so sorgfältig frisierten dunklen Haare standen in allen Richtungen vom Kopf ab. Er fuchtelte mit einem riesigen Küchenmesser vor ihrer Nase herum. Saskia trat einen Schritt zurück.

»Wo ist sie? Ich hatte sie nur kurz hier im Flur abgestellt!«, stieß er mit hochrotem Gesicht hervor.

Dann schnupperte er, schob Saskia grob zur Seite und steuerte auf die Küche zu. Er schnüffelte lautstark und blickte suchend um sich. Dann entdeckte er das Päckchen auf dem Balkon.

»Gott sei Dank! Nicht in den Müll geworfen! Ohne meine Durianfrucht kann ich das ›Perfekte Dinner‹ nicht gewinnen!«, schnaubte er.

Ambrosius riss die Tür auf, hob das bestialisch stinkende Paket triumphierend auf, klemmte es sich unter den Arm und wandte sich Saskia zu.

Er beugte sich vor und drückte einen flüchtigen Kuss auf ihre Wange.

»Am Samstag um 10.00 Uhr feiern wir meinen Sieg beim ›Perfekten Dinner‹ mit einem Sektfrühstück! Sie sind eingeladen!«, rief er glücklich und hastete davon.

Saskia ließ sich aufs Sofa fallen und befühlte ungläubig ihre Wange.

»Ambrosius mit dem Stinkepaket, der Anfang einer glücklichen Beziehung«, hauchte sie.

Dann stand sie auf und öffnete alle Fenster ihrer Wohnung sperrangelweit.

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