Waldviertelblut

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

5. Kapitel

»Schnell! Ein nasses Tuch. Habt ihr nicht gehört: Wir brauchen ein nasses Tuch und ein Glas Wasser. Sofort!«

»Sie bewegt sich nicht, aber sie atmet.«

Adile Gül lag am Boden. Ihren Kopf hatte man sanft auf eine Teppichrolle abgelegt. Der Anblick des toten Mannes hatte ihr so zugesetzt, dass sie plötzlich in sich zusammengesunken war. Walli Winzer hatte neben ihr gestanden und sie noch rechtzeitig auffangen können. Den unsanften Aufprall mit dem Kopf auf dem harten Parkettboden konnte sie dadurch gerade noch so verhindern.

Geschäftsführer Eraydin Turan kniete hilflos neben der jungen Frau und starrte sie unentwegt an. Als müsste er sich auf das Schlimmste gefasst machen. Ob die umstehenden Männer tatsächlich auf seinen vorherigen Zuruf reagierten, darauf achtete er nicht. Der Anblick der leblosen Adile setzte ihm dermaßen zu, dass er damit rang, nicht selbst das Bewusstsein zu verlieren.

»Jetzt machen Sie mal und fangen sich wieder. Das geht so doch nicht. Eine Leiche und eine Ohnmächtige reichen mir für heute.« Walli Winzer, die Adile Güls Kopf streichelte, klopfte plötzlich dem Teppichhändler auf die Schulter, um ihn bei Bewusstsein zu halten. Der schwankte daraufhin ein wenig, fand aber sein Gleichgewicht wieder. Im selben Moment blickte er zur Seite auf den Toten.

Keiner der umstehenden Männer war unterwegs, um ein Tuch zu besorgen. Nur eine junge Frau kam damit angelaufen und reichte es Walli Winzer. Diese legte es Adile auf die Stirn und tätschelte ihre Wange. Langsam kam sie wieder zu sich. Noch benommen wollte sie sich aufrichten, aber es gelang ihr nicht. Vom Schock zuvor war sie noch zu geschwächt.

Im Nebenraum breitete sich Tumult aus. Es klang fast wie ein Handgemenge. Die im Raum verbliebenen Männer eilten hinaus, nur um wieder zurückgedrängt zu werden. Konfus stießen sie einander an und wichen vor Bülent Yüksel zurück, der einen großen hageren Mann mit groben Hieben vor sich hertrieb. »Ich habe ihn im Lager erwischt, als er gerade hinauslaufen wollte.«

Yüksel versetzte ihm einen kräftigen Stoß, der den Mann Halt suchen ließ. Mit seinen Armen konnte er gerade noch sein Gleichgewicht wiederfinden und landete vor Walli Winzer.

»Nico! Was machen Sie denn da?«

Die mittlerweile fast überforderte PR-Expertin erhob sich, fühlte sich aber selbst nach all der Aufregung einem Schwächeanfall nahe. Und jetzt auch noch die Überraschung mit dem Waldviertler. »Was soll das?«, stöhnte sie genervt.

Nico Salmer sah sie mit großen, ausdruckslosen Augen an, wirkte hochgradig nervös und brachte keine Silbe heraus. Stattdessen hob Bülent Yüksel zu einem wahren Orkan der Worte an.

»Er wollte flüchten, als er mich sah. Außerdem habe ich vorher gesehen, dass er in einer Kiste nach Unterlagen geschnüffelt hat. Dann habe ich ihn gepackt. Er wollte entwischen …«

Walli Winzer stoppte den aufgeregten Wortschwall, indem sie laut dazwischenfuhr: »Ja, das haben wir schon gehört! Was war das für eine Kiste?«

»Also, so eine kleine war das. Mit Lieferscheinen und anderem. Sonst hab ich keine Ahnung.«

Walli Winzer sah zu Nico Salmer, der sich immer noch nicht zu den Vorwürfen äußerte. Sie raufte nervös ihre blonde Haarpracht. Im selben Moment entsann Walli sich, dass sie dadurch die Wirkung des Tafts, den sie morgendlich sanft über ihre Frisur hatte gleiten lassen, zerstörte. Schnell richtete sie mit ein paar Handgriffen die widerspenstigen Strähnen und bemühte sich, den vorherigen Zustand wiederherzustellen. Den Umstehenden hingegen war es völlig egal, wie die flotte Geschäftspartnerin aktuell aussah. Keiner der Männer nahm Notiz von ihr. Alle starrten auf Nico Salmer und ließen ihn keine Sekunde aus den Augen, oder sie hefteten ihre Blicke aufgeregt Richtung Fenster. Denn obwohl es draußen noch hell war, flutete jetzt das Blaulicht der Einsatzwagen den Schauraum.

Abgefahrene Situation, dachte Walli Winzer und schloss vor der neuen Situation kurz die Augen.

Es war keine Viertelstunde her, dass Adile Gül ohnmächtig geworden war und bezüglich Nico nicht einmal die gröbsten Umrisse seiner überraschenden Anwesenheit geklärt waren. Weshalb war er wirklich ins Teppichgeschäft gekommen? Und wieso war Manfred Tuchner zurückgekommen? Wer hatte ihn getötet? Warum?

Einen Augenaufschlag nach Wallis Überlegung kämpfte sich ein Polizeibeamter in zivil durch die Menge. Sein Blick blieb sofort am toten Tuchner hängen: »Da liegt er. Holt’s die Silvia rein. Die soll sich das gleich genauer anschauen und dann zu mir kommen. Ich will ihre ersten Eindrücke hören. Dann bestellt’s die Spurensicherung. Und du, Martin, komm sofort her!«

Ein schlanker junger Mann hörte auf diesen Namen. Sein Gesicht war auffällig blass. Sonne schien es schon länger nicht abgekommen zu haben. Er stellte sich neben den leitenden Ermittlungsbeamten: »Martin, schau, dass keiner von denen da das Geschäft hier verlässt.« Er zeigte auf die Männer. »Verstanden? Wir vernehmen sie hier an Ort und Stelle, einen nach dem anderen. Das Protokoll schreibst du nachher aber nicht selbst, sondern lass es unseren Kleinen von der Polizeischule am Laptop abtippen. Das geht schneller.«

Der junge Mann verzog unwirsch sein Gesicht und bestätigte mit »Jawohl, Major Kuntner«. Er war wie sein Chef in Zivil und versammelte eine Gruppe uniformierter Beamter um sich. Die Polizisten begleiteten die Mitarbeiter des Geschäfts in einen Nebenraum.

Bülent Yüksel schien davon wenig begeistert zu sein. Er wehrte sich. »Was? Sind wir jetzt alle verdächtig?«, richtete er dem Polizeimajor seinen Protest im Vorübergehen aus.

»Na, so wie’s ausschaut, wollen wir wissen, was ihr vorher g’macht habt. Alle. Ohne Ausnahme. Der Reihe nach.«

Widerwillig ließ sich Yüksel zu den anderen begleiten. Nur noch wenige Beamte blieben im Schauraum zurück. Mit einem Mal war es ziemlich ruhig geworden.

Major Kuntner stellte sich neben die Leiche. Er starrte sie wortlos an, dann beugte er sich über sie. Die Augen des Toten standen noch offen. Kuntner schien das nicht zu stören. Vielmehr vermittelte er auch hierbei den Eindruck von abgebrühter Routine. Nach kurzer Zeit ging er in die Hocke, um den Körper näher zu betrachten. Was er vor sich hinmurmelte, hätte Walli Winzer in diesem Moment interessiert. Sie stand jedoch entfernt und konnte die Situation daher nur aus dem Augenwinkel wahrnehmen.

Einige Polizisten hatten Nico Salmer in eine Ecke des Zimmers gedrängt. Er stand lammfromm da und wartete geduldig, was mit ihm nun weiter geschehen würde. Walli Winzer ging auf ihn zu. Sie spürte seine Erleichterung. Trotzdem sah sie die Verzweiflung in seinem Blick. »Nico, was ist denn passiert? Warum sind Sie hier?«

Er blickte ins Leere und schloss dann die Augen. Noch bevor er antworten konnte, gab Major Kuntner eine laute Anweisung an zwei seiner Mitarbeiter: »Nowak, Wastracil! Wo ist die Dr. Eichinger? Ich hab doch nach ihr rufen lassen. Wie lang soll ich noch warten, bis die endlich da ist?«

»Wir haben sie angerufen, und die Frau Dr. Eichinger hat gesagt, dass sie gleich da sein wird.«

»Dann ruafts es glei noch amoi an: Sie soll sich beeilen.«

Dieser Zeitgenosse der Polizei war definitiv keiner von der angenehmen Sorte, stand es für Walli eindeutig fest. Ob das überhaupt jemand jemals in solch einem Beruf würde sein können? Sie hatte ihre Zweifel.

Walli Winzer beschloss, sicherheitshalber in Nico Salmers Nähe zu bleiben. Auch wenn er in einem Alter war, in dem ein Mann für sich selbst einstehen konnte. Doch Nico schien da eine Ausnahme, das hatte sie im Gefühl.

Warum er prinzipiell verstummte, wenn sie in seine Nähe kam, konnte Walli sich sowieso nicht erklären. Dabei hatte sie ihn einmal mit dem Sepp Grubinger im Wirtshaus vom Hannes Lechner in Großlichten erlebt. Da war der Nico ganz und gar nicht schüchtern gewesen. Vielmehr war er lustig. Aber das war vielleicht wegen des Grubingers. Weil der die Dorfleute mit seiner speziellen Art nahm, so wie sie waren. Und mit ihnen beinahe konspirativ die Köpfe zusammensteckte. Auch mit dem Nico. Dadurch viel von ihnen erfuhr und aus ihnen herausholen konnte. Für die im Waldviertel meist gewählte Knappheit der Worte war das offenbar etwas Besonderes. Den Inhalt verstand nur der engere Kreis der Alteingesessenen. Zumindest konnte man das leicht glauben. Denn Fremden gegenüber verhielten sie sich anders. Bei genauerer Analyse dieser Kommunikationstechnik stand Walli Winzer vor einem Rätsel. Bestand sie doch weniger aus zusammenhängenden Sätzen, als aus lose aneinandergereihten Worten, die mit Kopfnicken und Anheben und Absenken der Schultern bestätigt oder infrage gestellt wurden.

Manchmal überkam Walli der Eindruck, dass die regionale Kommunikation überwiegend aus Pausen bestand, in denen man einander ansah und abwartete. Jedenfalls hielten jene, die so redeten, mehr Stille miteinander aus, als Walli Winzer sich das für sich vorstellen konnte. Dabei fand sie, dass es ihr nach ihrem Sabbatical im Waldviertel mittlerweile besser gelang als zuvor.

Betrachtete sie allerdings den groben Wiener Polizeikommandanten, war ihr inneres Gleichgewicht – so sie dies überhaupt zustande brachte – gleich dahin.

Adile Gül erhob sich langsam von ihrem Stuhl und ging, begleitet von ihrem Chef Eraydin Turan und dem ungeschickten Praktikanten, in Richtung Vernehmungszimmer.

Sie drängten sich an einigen neu eintreffenden Polizisten vorbei, die den Schauraum betraten. Eine junge Frau in weißem Arztkittel und einige Rettungseinsatzkräfte kreuzten ebenso ihre Wege. Diese ließ sich, ohne genauer in die Runde zu blicken, neben Kuntner nieder, ignorierte ihn trotz kurzen Grußes und betrachtete das Mordopfer. Sie holte Untersuchungsinstrumente aus ihrer großen Arzttasche und begann sofort mit einer ersten Einschätzung.

 

Kuntner blieb neben ihr und schaute eine Weile zu. Die Ärztin leuchtete dem Toten mit einer Taschenlampe in die Augen. Hob dessen Lider mit einer Pinzette, bewegte die Leiche aber keinen Millimeter.

»Hast du schon die Spurensicherung verständigt?«, fragte sie schließlich den Polizisten.

»Ja, schon vor einer halben Stunde.«

Die Ärztin spürte unweigerlich den vorwurfsvollen Unterton in Kuntners Stimme und fühlte sich bemüßigt, darauf zu antworten: »Also, ob man jetzt fünf Minuten früher oder später bei einem Toten ankommt, is a scho wurscht – bei dem Autoverkehr. Denn, der da is eindeutig tot. Wie du unschwer erkennen kannst, wurde er erdrosselt. Die roten Abriebe an seinem Hals bestätigen das. Da, schau!« Sie reichte Kuntner mit einer neuen Pinzette ein buntes indisches Halstuch, das sie dem Opfer abgenommen hatte. Der wich überrascht zurück. »Da!«, wiederholte sie mit Nachdruck: »Die Tatwaffe gibt’s schon.«

»Martin!«, rief der Polizeimajor so laut, dass sogar Dr. Silvia Eichinger zusammenzuckte. Seine Hände beließ er in den Hosentaschen.

»Ja, was gibt’s?« Der Kriminalbeamte war sofort zur Stelle.

»Geh, gib des Tüchl in eines von unseren Plastiksackerl und dann gleich an die Spurensicherung weiter.« Gesagt – getan.

Kurz darauf übergab der Polizist seinem Vorgesetzten das sorgsam in Plastik verpackte Tatwerkzeug. Der leitende Ermittler hielt die Tüte von sich weg, sah sich aber das Halstuch genauer an. Polizeibeamter Martin machte sich unaufgefordert wieder in Richtung des Vernehmungstrupps auf.

»Sag, Klaus, was ist dir über die Leber gelaufen, dass du in letzter Zeit so unwirsch bist?«, fragte Frau Dr. Eichinger, während sie ihre Arzttasche einräumte.

Der Polizeimajor kam nicht mehr dazu, darauf zu antworten. Die kurze private Unterredung wurde unterbrochen. Die Spurensicherung war eingetroffen, und die ersten von ihnen begannen, sich ihre weißen, keimfreien Overalls überzuziehen.

Klaus Kuntner schien das nur recht zu sein, nicht mehr auf die zuvor gestellte Frage antworten zu müssen. Stattdessen ließ er die Ärztin wortlos stehen und ging auf den Ranghöchsten zu. Offenbar kannten sie einander, das ließ der sehr akzentuierte, feste Männerhandschlag vermuten. Ein nachfolgender freundlicher Gruß bestätigte das. Die Spurenermittler gruppierten sich ohne Anweisung um die Leiche und begannen mit deren Vermessung. Ein Fotograf hielt zusätzlich die Position der Leiche fest. Auch der Teppich wurde ins Bild gesetzt.

Nach kurzer Absprache mit den Kollegen von der Spurensicherung, ordnete Kuntner an, Männer zu rufen, die mit Plastikhandschuhen beim Einrollen des riesigen Stücks helfen sollten. Es boten sich gleich mehrere an. Offensichtlich hofften sie, dadurch schneller beim Verhör dranzukommen. Sie drängten zur Tür herein, was wieder für Unruhe sorgte.

Auch Nico Salmer wurde langsam unrund. »Ich hab damit nix zum tuan und möcht endlich ham gehen.« Er wollte sich an Walli Winzer und den nebenstehenden Polizeibeamten vorbeischlängeln, was diese mit sicherem Griff zu verhindern wussten.

»Sie mochn jetzt amoi goar nix und bleiben da. Punktum!«, befahl Klaus Kuntner barsch.

Nico rüttelte an der offenbar zu groben Fixierung seiner Arme.

»Also, was soll das? Sie können doch niemanden auf Verdacht festhalten. Was können Sie Herrn Salmer konkret vorwerfen?«, schaltete sich Walli Winzer ein.

»Ganz einfach: Er wurde in einer eindeutigen Situation beim Schnüffeln entdeckt und wollte fliehen. Ein Mitarbeiter stellte ihn. Der Flüchtende reagierte zuvor nicht auf Zurufe. Eine Erklärung gibt er bis jetzt nicht ab.«

»Sie hobn mei Halstuch in der Hand! Was mochn Sie damit?« Nico starrte auf die textile Tatwaffe.

»Nein, das gibt’s ja net!«, war Klaus Kuntner nun fassungslos. »Das ist Ihres?«

Walli Winzer wurde in diesem Moment kreidebleich. Auch ihr neues Make-up konnte nichts daran ändern. Ihr fiel wieder ein, Nico Salmer am Gang vor Tuchners Büro mit diesem auffälligen Halstuch gesehen zu haben. Ach Gott! Die Situation schien im Augenblick verfahren.

Nico sah sie verzweifelt an. Kuntner gab den Befehl, ihn sofort ins Polizeirevier mitzunehmen. »Frau Winzer! Bitte, ich hoffe, Sie glauben mir. Ich war’s nicht. Bitte helfen Sie mir und sagen S’ das auch dem Sepp Grubinger!«

»Schluss jetzt. Wir sind fertig. Raus mit Ihnen!« Ein unsanfter Ruck versetzte Nico Salmer in Bewegung. Kuntner wies die Umstehenden an, ihre Berichte so schnell wie möglich fertigzustellen und an ihn zu schicken. »Fall geklärt!«, rief er ihnen triumphierend zu. Dann murmelte er hörbar und amüsiert vor sich hin: »So blöd muass ja amoi einer sein, dass er net nur davonrennt, sondern freiwillig zugibt, dass die Mordwaffe a no sein Tüchl is!«

Zugegeben, auch Walli Winzer stand jetzt betroppezt da und war ratlos. Doch sie glaubte Nicos Worten. Zumindest – wollte sie es.

6. Kapitel

Noch war sie allein. Sie hatte sich inzwischen einen Drink bestellt. Nach dem ersten Schluck ihres Gin-Lillet-Cocktails stieß sie in regelmäßigen Abständen gedankenverloren die Limettenspirale darin mit einem pinken Plastikgäbelchen an. Ausweichend wippte das Geschmacksaccessoire neben einem Eiswürfel hin und her. Ihren linken Ellbogen stützte Walli Winzer auf den Tresen der Bar und hielt mit der Hand ihren Kopf. Starr hatte sie ihren Blick auf das kleine optische Schauspiel vor sich gerichtet.

Was war das nur wieder für ein Tag gewesen, fragte sie sich. Dabei war sie selbst glimpflich davongekommen. Ihre Einvernahme in der Polizeistation würde erst morgen stattfinden. Da konnte sie noch genauer nachdenken, was tatsächlich abgelaufen war oder was sie bemerkt hatte. Leider war das eben nicht viel. Schließlich hatte sie sich während der Vorbereitungen zur Teppichschau im Vorgespräch mit dem Geschäftsführer befunden, was interessant gewesen war. Walli Winzer hatte daher nicht darauf geachtet, was sich um sie herum abgespielt hatte. Sie erinnerte sich nur, dass viele Menschen im Schauraum gewesen waren.

Sie nahm einen Schluck.

Den dazu gereichten Snack allerdings nichts.

Noch ein Schluck.

Nichts. Rein gar nichts fiel ihr ein.

Walli behielt das Cocktailglas in der Hand und schwenkte es. Das Bild der tanzenden Limette beruhigte sie.

Langsam sah sie hoch und ließ ihren Blick durch die dämmrige Bar in der Wiener Innenstadt gleiten. Diese befand sich über den Dächern der Altstadt. Aus der Ferne sah sie die beleuchteten Türme des Wiener Stephansdoms.

Postkartenidylle.

Walli Winzer kauerte auf dem Barhocker. Trotz des malerischen Ausblicks, dessentwegen viele Touristen hierherkamen, schloss sie die Augen. Sie wollte bei sich sein. Durchatmen. Bevor die anderen da sein würden. Kurz noch.

Solche Momente schob sie jetzt öfter in ihren Alltag ein. Abschalten. Zwischendurch regenerieren. Nichts beachten. Nicht einmal sich selbst.

Das hatte sie im Waldviertel gelernt. Auf ihren Spaziergängen. Den vielen. Durch die Wälder oder auf den Wanderwegen durch die Felder.

Es waren Orte der Stille. Kraftorte gewissermaßen. Um aufzutanken.

Wie laut war für sie daher das Getöse, das sie in Wien erwartete. Die vielen Menschen. »Mittlerweile zu viele«, murmelte sie bereits entspannter vor sich hin. Vor allem hier im Zentrum, um den Stephansplatz herum. Menschenmassen schoben einen tagtäglich wie in Venedig vor sich her. Ein Zielort war bei ihnen nicht auszumachen. Und betrachten oder fotografieren konnte man bei diesem Gedränge und Geschiebe auch nichts. Also, warum das alles?

Jetzt lehnte sie hier. Nur weil Lena unbedingt hierher wollte. Walli hatte schließlich zugestimmt. Ihre beste Freundin Lena Breitenecker hatte die Bar neu entdeckt und vorgeschlagen. Mit einigen Geschäftspartnern und ihrem Ehemann Hans ließ sie hier häufig erfolgreiche Verhandlungen ausklingen.

Es war noch sehr früh. Walli war vorzeitig gekommen, da sie nach den unerwarteten Ereignissen nicht mehr bei ihrer Wohnung vorbeifahren wollte. Es war zu spät geworden, um sich umzuziehen. Gut, da die Kleidungsvorschriften überall bereits salopper gehandhabt wurden, würde ihr Tageshosenanzug am Abend auch nicht weiter auffallen. Und wen das tatsächlich störte, der konnte auch wegschauen. Spießer! Solche konnte sie sowieso nie ausstehen.

Da Walli sonst nichts zu tun hatte und der Keeper gerade mit dem Eiscrusher beschäftigt war und daher für Small Talk nicht zur Verfügung stand, blickte sie in die Runde. Wen würde sie in der topmodernen und chillig designten Bar sympathisch finden? Hm. Auf den ersten Blick fiel das schwer. Heute waren außerdem Haltungen und Einstellungen nicht mehr so eindeutig wie früher mit Kleidung verbunden. Das hatte sich grundlegend verändert. Wer heute Geld und Einfluss besaß, kleidete sich oft im Sinne des Understatements, also mit Zurückhaltung. Fast könnte man sagen: verlottert.

Wallis Ding war so etwas allerdings nicht. Na ja, sie war ja auch nicht so vermögend wie etwa Bill Gates. Der konnte daher im ewigen Studentenlook herumlaufen. Er war und würde immer Bill Gates sein und bleiben. Da konnte eine Walli Winzer, auch wenn ihr das Glück bisher im Leben – mit Ausnahme einiger Ausreißer – hold geblieben war, eindeutig nicht mithalten. Und bei Frauen war das sowieso ganz anders als bei Männern.

Frauen waren einander die größten Kritikerinnen. Passende Kleidung putzte selbst graue Mäuse heraus. Da konnten einige reden, was sie wollten. Auch die wussten, dass es noch eine Zeit lang so bleiben würde. Die jahrhundertelang antrainierte Stutenbissigkeit würde nicht so schnell abgelegt werden können. Und die meisten Männer hatten sicher nichts dagegen, eine gepflegte, gut gekleidete Frau vor sich zu haben.

Auch wenn, wie bei Walli Winzer, die Kleidung in Gegenwart attraktiver Männer rasch wenig Bedeutung für beide hatte. Einfach deshalb, weil bald keiner mehr welche trug. Sie schmunzelte. Gut, das war wieder ein bisschen aus ihrem Nähkästchen geplaudert.

Also, wie tickte das Publikum hier, in dieser Wiener Nobelmeile? Walli Winzer fielen zwei smarte Männer auf. Beide elegant gekleidet mit perfektem Messerhaarschnitt. Sie redeten angeregt miteinander. Das Gespräch blieb vorerst ernst, um dann … aha, Walli grinste … ins Flirten umzuschlagen.

Lionel Richie tönte dazu mit seinem 1980er-Hit »All Night Long« aus der unsichtbaren Konserve. Ob das nun ein Geschäftsabschluss der beiden oder ein Date in der Bar war, die Grenzen verschwammen eben. Walli war sich nicht sicher. Durch ihren Mitarbeiter Tobias Stieglitz und seinen Lebensgefährten stand sie in engem Kontakt mit deren Freundes- und Bekanntenkreis. In der PR-Branche war das keineswegs ungewöhnlich, eher nützlich. Denn Männer tauschten regelmäßig Informationen miteinander aus. Auch aus ihrem Tätigkeitsbereich. Sie waren also meist auf dem neuesten Stand.

Was konnte einem daher Besseres passieren, als davon zu profitieren? Walli mochte die Jungs, und diese mochten Walli. Schließlich konnte sie durch ihre Umtriebigkeit auch die einen oder anderen News beisteuern. Denn Walli hielt ihre Ohren immer und überall offen. So ging’s!

Sie setzte sich auf dem Barhocker ein wenig seitlich und erblickte ein unauffälliges Paar mittleren Alters. Hierbei handelte es sich offenbar um ein Date. Beide saßen einander angespannt gegenüber und wussten nicht recht, was sie einander erzählen sollten. Wallis Einschätzung stand nach wenigen Minuten fest: Höchstwahrscheinlich würde es das letzte Date der beiden bleiben.

Allerdings sprach, statistisch erwiesen, auch ein Ehepaar nicht mehr als fünf Minuten am Tag miteinander. Dann befanden sich die beiden vielleicht doch schon am Beginn einer gemeinsamen Zukunft? Viele wollten letztlich nicht alleine bleiben. Aber ob sich so ein wortkarges Wesen besser machte als ein Haustier? So was war doch schrecklich, so ganz ohne die Liebe. Nur mit dem Kopf geplant, seufzte Walli. Aber gut, dass alle Menschen verschieden waren.

Sympathisch hingegen wirkte auf sie ein junges Paar. Walli Winzer vermutete, dass sie sich wohl auf einen Aperitif getroffen hatten, um danach noch etwas zu unternehmen. Sie wirkten aneinander interessiert und lachten immer wieder herzhaft. Glücklich nahm er zwischendurch ihre Hand und hielt sie sanft in der seinen.

Der Anblick erfreute Walli.

Plötzlich fiel ihr wieder Nico Salmer ein. Der hatte mit Sicherheit gerade keinen Grund zur Freude. Er würde in einer Verwahrungszelle des Grauen Hauses, der Justizanstalt Josefstadt, sitzen und darauf warten, was weiter mit ihm geschehen sollte.

 

Walli Winzer erinnerte sich an seinen flehenden Blick. Er hatte sich von ihr gewünscht, dass sie Sepp Grubinger über seine Unschuld informierte. Als könnte ihm der Polizist aus dem kleinen Kaff Großlichten im Waldviertel helfen! Bei der legendär grantigen Wiener Polizei. Die sich für das Maß aller Dinge hielt. Walli stellte sich Grubinger als Einsatzkommandant vor und musste lachen.

Allerdings war dieser Wiener Polizeimajor tatsächlich ein Kapitel für sich. Mit seiner Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit. Und wie er den Nico abgekanzelt hatte. Als wäre ohne echte Ermittlungen schon alles geklärt. Das hatte er ja auch laut hinausposaunt.

Walli holte tief Luft.

Ach, dieser Nico. Er war schon eine Nummer für sich. Eine ziemlich schräge. Mehr wollte sie jetzt nicht denken.

Um das Ende des Tages endlich auch für sich einzuläuten, stach sie mit der kleinen Plastikgabel zielsicher in die Limettenspirale und führte sie zum Mund. Sie spülte mit einem weiteren Schluck Lillet-Cocktail nach. Dann starrte sie reglos in ihr Glas. Dass ihr der Barkeeper inzwischen unaufgefordert nachschenkte, entging ihr.

Erst als jemand sanft ihre Schulter berührte, zuckte sie zusammen. Sie krallte sich am Tresen fest und verhinderte so, dass sie seitwärts vom Hocker kippte.

»Ah du, Lena!«, stieß sie daher vorerst wenig erfreut hervor.

»Klar, wen hast du sonst erwartet?«, grinste die Freundin sie erwartungsvoll an.

»Ach, ich dachte eben noch ein wenig über die Unterredung mit Thomas vor einer Stunde nach.«

»Ihr habt euch getroffen? Davon hast du mir nichts erzählt«, war Lena Breitenecker verwundert. Meist war sie über Gebühr über die privaten Aktivitäten ihrer Freundin informiert. Einschließlich sämtlicher intimer Details, auch wenn sie diese nicht interessierten. Wobei sie doch feststellen musste, das hatte sie Walli einmal erzählt, dass sie dadurch einiges zur Freude ihres Ehemanns Hans dazugelernt hatte. Vielleicht halfen Wallis detailreiche Erlebnis-Schilderung indirekt mit, ihre Ehe nach Jahrzehnten noch erotisch am Kribbeln zu halten. Vielleicht erfanden sich Lena und Hans immer wieder neu durch ihre Erzählungen von Erfolg und Niederlage in den obersten Etagen der internationalen PR-Branche, inklusive anziehender Männer. Das bot sicher viel Raum für die eigene Fantasie und erweiterte die Breitenecker’sche kleine Biobauernhof-Welt in Großlichten. Dabei wusste Walli, dass Lena manchmal ganz kräftig an den Gewohnheiten ihres Mannes rüttelte, damit der aus seinem Alltagstrott und der vielen Arbeit ausstieg, die wohl auf einem Bauernhof nie enden wollte.

»Ja, gleich bei ihm ums Eck. Du weißt schon, im 18. Bezirk im Kaffeehaus.«

»Und wie war’s?«

»Na ja, erstaunlicherweise ganz nett.«

»Ist doch erfreulich. Warum bist du trotzdem nachdenklich? Er entwickelt sich weiter. Ist doch gut. Das wolltest du doch immer.«

»Hm?«

»Was soll das heißen?«

»Verstehe mich nicht falsch: Klar fände ich es gut, wenn er etwas flexibler und großzügiger in seinen Standpunkten würde. Aber er ist so … also… er hat sich ganz anders verhalten. Als hätte man ihm … beinahe möchte ich sagen, einen Chip ins Gehirn gesetzt.«

»Geh, Walli! Nichts passt dir. Ist er so, hast du etwas zu meckern, ist er anders, ist es dir auch nicht recht. Du bist in letzter Zeit schon ein bisschen schrullig g’worden. Dir würde eine dauerhafte Beziehung auch mal wieder guttun.«

»Jetzt hör auf!«, entgegnete Walli Winzer grob. »Die hab ich mit Thomas gehabt. Deshalb weiß ich ja, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt. Nicht stimmen kann. Der ist sonst nicht so drauf!«

»Vielleicht bist du doch ein wenig eifersüchtig auf seine Frau? Dass sie deinen Platz eingenommen hat? Eine anhaltende Zweisamkeit ist nämlich schon etwas Schönes«, sagte Lena.

»Ach, lass mich!«, tat Walli Winzer gereizt, aber grinsend die ihr lästigen Worte mit einer Handbewegung ab. »Bestell dir lieber etwas zu trinken!«

Lena amüsierte sich wohl, weil sie es einmal geschafft hatte, ihrer eloquenten Freundin den Schneid abzukaufen. Als der Barkeeper ihr ein Campari-Soda hinstellte, nahm sie es und drehte sich um. Sie lehnte jetzt mit dem Rücken an der Theke. Währenddessen blieb ihr Blick an zwei jüngeren Frauen hängen, die eben zur Tür hereinkamen.

»Walli! Silvia und Anna sind da«, freute sich Lena.

Jetzt drehte sich auch Walli Winzer um und sah vorerst nur ins Dunkel der Bar, aus der schließlich die beiden attraktiven Frauen auf sie zukamen. Sie gingen ihnen auf halbem Weg entgegen und umarmten einander herzlich.

»Schön, dass ihr gekommen seid! Ist ja mal was anderes, sich nicht nur privat, sondern auch in einer Bar zu treffen.«

Silvia lachte und sah sich um. »Ja, sieht nicht schlecht aus. War noch nie hier … und dieser Blick auf den Stephansdom! Den findet man anderswo nicht.«

Anna stellte ihre Tasche auf einen der Barhocker und zog ihr läutendes Handy heraus. »Entschuldigt. Ah! Sybille, meine Tante, ruft gerade an.« Sie nahm das Gespräch entgegen und ging einige Schritte zur Seite.

Walli Winzer verdrehte die Augen. Wenn sie den Namen ihrer Nachbarin in Großlichten nur hörte, musste sie schon seufzen. Nie zuvor hatte sie eine derart neugierige und aufdringliche Person kennengelernt wie Sybille Karner. Zugegeben: Trotz ihrer nervigen Art hatte sie schon auch Gutes bewirkt. Etwa Wallis Kater Filou aus einer misslichen Situation gerettet. Diese Episode ließ bei ihr gleich mehr Milde für die spröden Charaktereigenschaften der Nachbarin aufkommen. Und immerhin war sie auch die Tante von Anna, die Walli Winzer nun wirklich sehr mochte. Eben hatte sie diese als Fast-Schwiegertochter umarmt. So ein Glück! Wie freute sie sich für ihre einstige Mentee und jetzige Miteigentümerin der PR-Agentur Silvia. Sie und Anna waren seit Kurzem ein Paar.

Wie sehr hatte Walli sich das für die beiden gewünscht. Und jetzt war es so weit. Endlich! Lang hatte es gedauert. Aber dadurch indirekt mit Sybille Karner verwandt zu sein, bereitete ihr einiges Unbehagen. Aber that’s it! Life is life! Und Anna war großartig, wie sie sich seinerzeit gegenüber dem Toten und diesem Karpfenteichbesitzer verhalten hatte.

Walli war überhaupt davon überzeugt, dass man Menschen nur in Ausnahmesituationen richtig kennenlernen konnte. Wie sie sich darin verhielten, ließ Rückschlüsse auf deren Grundwesen zu. Die soziale Maske fiel. Der wahre Charakter kam zum Vorschein. Wie bei Anna. Daher ein Glücksfall für Silvia. Durch dieses Zeitlassen war jede der anderen auf besondere Weise vertraut geworden. Sie verstanden einander immer besser. Die Liebe konnte wachsen. Und das war gut so!

Silvia bestellte ihren Cocktail an der Bar und wandte sich Walli und Lena zu.

»Was? Du bestellst einen Ananas- und einen Gemüsecocktail? Bist du noch zu retten? Ich wusste gar nicht, dass es hier so etwas überhaupt gibt«, entrüstete sich Walli, nachdem sie die Bestellung gehört hatte.

»Warum nicht? Zwischendurch ein bisschen Abstinenz schadet nicht.«

Walli Winzer ließ das nicht gelten: »Ja, dafür gehe ich doch nicht in eine Bar.«

»Lass mal, Walli! Das ist doch ihre Angelegenheit. Was mischt du dich schon wieder ein?«, versuchte Lena Breitenecker die Situation zu beruhigen.

Walli hatte verstanden und ließ die eindrucksvollen Fruchtcocktails, die der Barkeeper brachte, unkommentiert.

Silvia nutzte Annas Abwesenheit, um Walli schnell noch Infos über ihr aktuelles Projekt zuzutragen. Auch Walli informierte ihre Co-Geschäftsführerin über den Stand in der Angelegenheit des Bachwirken-Projekts, samt der tragischen News über den Tod des Auftraggebers Manfred Tuchner.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?