Intertextualität und Parodie in Ovids Remedia amoris

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Z serii: Classica Monacensia #58
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4.3.1.1 Die intertextuelle Anbindung der Remedia an die Autosuggestionspassage in Hor. sat. 1, 3 und Ovids Rezeption des vitium-Begriffs

Zunächst soll es um eine bereits besprochene Passage der Remedia gehen – den Abschnitt zu Euphemisierungsstrategien und Autosuggestion (vgl. rem. 315–340), in dem der praeceptor sanitatis seinem Schüler vorschlägt, dass er nur an die Fehler der Freundin denken und ihre Vorzüge durch die Praxis des Schlechtredens ins Gegenteil verkehren solle. Neben dem lukrezischen Prätext (vgl. Lucr. 4, 1149–1170), der für die Interpretation von Ovids Umgang mit dem Lehrgedicht wichtig ist,1 muss man noch weitere Vorlagen berücksichtigen. Das Thema der negativen oder positiven „ästhetischen Autosuggestion“2 ist bereits bei Platon vorgeprägt: Sokrates entfaltet dem Interlokutor Glaukon gegenüber sein Argument, dass man als Philosoph die gesamte Weisheit lieben solle, mithilfe der Analogie zu Liebhabern. Jeder, der etwas liebe, widme sich seiner Leidenschaft zu hundert Prozent, wie man am Beispiel eines Verliebten sehen könne, der sich auch missgestaltete Knaben durch Euphemisierungen schönrede (vgl. Platon, rep. 474d–475a). Der Einfluss dieser in der Antike berühmten Passage erstreckte sich bis auf die späteren lateinischen Texte, in denen die beschriebene ‚rhetorische Strategie‘ entfaltet wird, u. a. die genannte Lukrezstelle,3 die selbst wiederum zu einem Intertext für die Remedia amoris-Passage wurde. Doch damit nicht genug: Ovids eigene Liebeskunst (ars 2, 641–662) ist, wie bereits angeführt,4 der zweite inter- (bzw. intra-)textuelle Referenzpunkt, und auch Horaz’ Satire 1, 3, 38–75 ist ein Bezugstext.5 Bevor ich konkret auf das Verhältnis zwischen der horazischen und der ovidischen Euphemisierungspassage blicke, sei die intertextuelle Vierecksbeziehung zwischen den lateinischen Texten in einer Zusammenschau betrachtet (für Visualisierungen im Rahmen des Modells zur Intertextualitätspyramide siehe Abbildungen 6 und 7).

Abbildung 6:

Euphemisierungsstrategien und ‚rhetorische Selbstmanipulation‘ im

Pyramidenmodell zu den Remedia amoris

Abbildung 7:

Intertextualitätsvieleck zu Euphemisierungsstrategien und ‚rhetorischer Selbstmanipulation‘

Lukrez geißelt auf satirische Weise6 die Tendenz Verliebter, sich die geliebten Partner schönzureden. Ovid hingegen fordert im zweiten Buch seiner Liebeskunst im Rahmen der Gewöhnungsmethode, auch mit Blick auf Lukrez, den Schüler nun auf, sich seine Geliebte eben schönzureden:


parcite praecipue uitia exprobrare puellis,
utile quae multis dissimulasse fuit.
[…]
nominibus mollire licet mala: fusca uocetur,
nigrior Illyrica cui pice sanguis erit;
si paeta est, Veneri similis; si raua, Mineruae;
sit gracilis, macie quae male uiua sua est;
dic habilem, quaecumque breuis, quae turgida, plenam;

Bei Horaz wiederum, der Lukrez als „satirical ancestor“ für sich beansprucht,8 ist die erotische Komponente zwar auch ein Bestandteil von 1, 3, doch liegt der Fokus in dieser moralphilosophisch geprägten Satire auf einem anderen Themengebiet: der Toleranz gegenüber den Fehlern von Freunden.9


Illuc praeuertamur, amatorem quod amicae
turpia decipiunt caecum, uitia aut etiam ipsa haec
delectant, ueluti Balbinum polypus Hagnae. 40
uellem in amicitia sic erraremus, et isti
errori nomen Virtus posuisset honestum.
ac pater ut gnati, sic nos debemus amici
si quod sit uitium non fastidire. strabonem
appellat paetum pater et pullum, male paruus 45
si cui filius est, ut abortiuus fuit olim
Sisyphus; hunc uarum distortis cruribus, illum
balbutit scaurum prauis fultum male talis. (Hor. sat. 1, 3, 38–48)

So wie also erfahrungsgemäß Verliebte über Fehler ihrer Partner hinwegsehen oder auch ein Vater kleine Makel seines Sohnes durch positive Autosuggestion schönredet und akzeptiert,10 soll man sich – anders als es in gegenwärtigen Zeiten, in denen Schwächen fokussiert und Eigenheiten schlechtgeredet würden, üblich sei – auch bei Freunden verhalten. Dadurch könne man sowohl neue Freundschaften knüpfen als auch bestehende erhalten. Und wenn man über die kleinen Schwächen der Freunde hinwegsieht, könne man gleichzeitig erwarten, dass diese dann bei unseren eigenen Schwächen nachsichtig sind – niemand wird schließlich ohne Fehler geboren:


parcius hic uiuit: frugi dicatur. ineptus
et iactantior hic paulo est: concinnus amicis 50
postulat ut uideatur. at est truculentior atque
plus aequo liber; simplex fortisque habeatur.
caldior est: acris inter numeretur. opinor,
haec res et iungit iunctos et seruat amicos.
at nos uirtutes ipsas inuertimus atque 55
sincerum furimus uas incrustare. probus quis
nobiscum uiuit, multum demissus homo: illi
tardo cognomen, pingui damus. hic fugit omnis
insidias nullique malo latus obdit apertum,
cum genus hoc inter uitae uersemur ubi acris 60
inuidia atque uigent ubi crimina: pro bene sano
ac non incauto fictum astutumque uocamus.
simplicior quis et est qualem me saepe libenter
obtulerim tibi, Maecenas, ut forte legentem
aut tacitum impellat quouis sermone molestus: 65
‘communi sensu plane caret’ inquimus. eheu,
quam temere in nosmet legem sancimus iniquam!
nam uitiis nemo sine nascitur; optimus ille est
qui minimis urgetur. amicus dulcis, ut aequum est,
cum mea compensat uitiis bona , pluribus hisce, 70
si modo plura mihi bona sunt, inclinet . Amari

Erklärt man die intertextuelle Beziehung zwischen den Texten aus der Perspektive der Remedia amoris als Spitze der Intertextualitätspyramide,12 kann man sagen: Ovid invertiert zunächst den Grundtenor der Ars amatoria und verknüpft dabei intratextuell die Bücher seines Erotiklehrgangs. War es in der Liebeskunst noch das Ziel, sich durch aktives Bemühen zu verlieben, gilt es in den Heilmitteln gegen die Liebe, Strategien zu finden, mit denen man die Liebe beenden kann. Dabei nähert sich Ovid wiederum dem lukrezischen Prätext an, von dem er sich in der Ars inhaltlich entfernt hatte,13 und geht, wie gezeigt, einen Schritt weiter, indem er zur Diffamierung, zum Schlechtreden der puella und ihrer Eigenschaften, rät.

 

Was geschieht nun hinsichtlich des horazischen Intertextes? Auch hier invertiert Ovid den argumentativen Grundtenor. Denn Ovid propagiert die von Horaz beklagte negative Tendenz der rhetorischen Selbstmanipulation: Je effektiver man sich die puella schlechtreden kann, desto größer ist das Erfolgserlebnis im Prozess des Lösung von der Liebe (vgl. rem. 309–316). Zudem bleibt die ovidische Lehrer-Persona im Bereich der Erotik, die für Horaz hingegen nur als Analogie und Beispiel für den argumentativen Transfer dient (vgl. sat. 1, 3, 38–42): Denn in Satire 1, 3 steht der moralphilosophische Kontext der Toleranz in Freundschaftsangelegenheiten im Zentrum, den Ovid – in Fortführung der Ars – in einen rein erotodidaktischen rückverwandelt. Dass man von einer solchen aktiven Bezugnahme auf den horazischen Prätext sprechen darf, die dritte Satire also neben Lukrez und der Ars zum Intertext der Remedia-Stelle erklärt, lässt sich auch belegen, wenn man beide Passagen einander vergleichend gegenüberstellt.


Hor. sat. 1, 3, 38–72 Ov. rem. 315–348 und 417f.
Illuc praeuertamur, amatorem quod amicae profuit assidue uitiis insistere amicae ,
turpia decipiunt caecum, uitia aut etiam ipsa haec idque mihi factum saepe salubre fuit.
delectant, ueluti Balbinum polypus Hagnae. ‘quam mala’ dicebam ‘nostrae sunt crura puellae!’
uellem in amicitia sic erraremus, et isti (nec tamen, ut uere confiteamur, erant);
errori nomen uirtus posuisset honestum . ‘bracchia quam non sunt nostrae formosa puellae!’
ac pater ut gnati, sic nos debemus amici (et tamen, ut uere confiteamur, erant);
si quod sit uitium non fastidire. strabonem quam breuis est !’ (nec erat), ‘quam multum poscit
appellat paetum pater et pullum, male paruus amantem!’;
si cui filius est , ut abortiuus fuit olim haec odio uenit maxima causa meo.
Sisyphus; hunc uarum distortis cruribus , illum et mala sunt uicina bonis : errore sub illo
balbutit scaurum prauis fultum male talis. pro uitio uirtus crimina saepe tulit.
[…] qua potes, in peius dotes deflecte puellae
at nos uirtutes ipsas inuertimus atque iudiciumque breui limite falle tuum.
sincerum furimus uas incrustare. […] […]
[…] durius incedit, fac inambulet; omne papillae
nam uitiis nemo sine nascitur; optimus ille est pectus habent, uitium fascia nulla tegat.
qui minimis urgetur. amicus dulcis, ut aequum est, […]
cum mea compensat uitiis bona, pluribus hisce, improuisus ades: deprendes tutus inermem:
si modo plura mihi bona sunt, inclinet. amari infelix uitiis excidet illa suis.
si uolet: hac lege in trutina ponetur eadem.
tunc animo signa, quaecumque in corpore menda est,
luminaque in uitiis illius usque tene.

In beiden Texten ist eingangs von den uitia amicae (rem. 315 und sat. 1, 3, 38f.) die Rede,14 und auch in zwei inhaltlichen Punkten finden sich Übereinstimmungen: bezüglich des autosuggestiven Umgangs mit der Schienbeinform der puella (vgl. rem. 317f. und sat. 1, 3, 47) und der Größe des Objektes der Autosuggestion (vgl. rem. 321 zur puella und sat. 1, 3, 45f. zum Sohn, den sich der liebende Vater schönredet). Während sich der Blick auf die Größe auch in ars 2, 661 und Lucr. 4, 1162 findet, werden die Schienbeine explizit nur bei Horaz und in den Remedia angeführt.15 Hervorzuheben ist zudem die beiderseitige Rekurrenz auf den „in der Rhetorik und Historiographie geläufigen Topos von der Affinität von virtus und vitium“16 (vgl. rem. 323f. und sat. 1, 3, 41f.17). Bereits ars 2, 662 greift das Motiv auf und stellt dabei die direkte Rezeptionsfolie für diese Remedia-Stelle dar.18 Doch ist es möglich, dass sowohl die Ars als auch Horaz’ Satire, die beide das Motiv verarbeiten, gleichzeitig Intertexte für die Remedia sind.19 Ein weiteres Argument, das die aktive Bezugnahme auf Horaz nahelegt, ist die inhaltliche Parallele zwischen Ov. rem. 325f. (qua potes, in peius dotes deflecte puellae / iudiciumque breui limite falle tuum) und Hor. sat. 1, 3, 55f. (at nos uirtutes ipsas inuertimus atque / sincerum furimus uas incrustare). Auch wenn sich keine lexikalischen Übereinstimmungen finden, so fällt doch auf: Horaz beklagt die Tatsache, dass wir positive Eigenschaften in schlechte verkehren. Ovid macht aus eben dieser Aussage eine Aufforderung: Wende die Gaben deiner Geliebten ins Schlechte!20 Und in beiden Fällen folgt auf diese Thematik ein sprachliches Bild. Bei Horaz verschmutzen wir durch die Praktik des Schlechtredens ein ‚reines Gefäß‘,21 bei Ovid sollen wir uns selbst – durch die Diffamierung der puella – so täuschen, dass wir über die imaginäre Grenze hinweggehen, welche die nah beieinander liegenden Bereiche ‚gut‘ und ‚schlecht‘ trennt.22 Zudem wird in beiden Fällen je ein Distichon darauf verwendet.23 Folglich behaupte ich, dass Ovid den horazischen Tadel insofern invertiert, als er zum einen den Satzmodus verändert, also eine Handlungsanweisung gibt, anstatt zu konstatieren, und zum anderen aus dem beklagten Zustand einen temporär idealen macht – die inhaltliche Fokussierung auf das Schlechtreden bleibt jedoch bestehen. Da sich weder in der Ars noch bei Lukrez zu diesen beiden Distichen Parallelen finden,24 lässt sich so die These, dass Ovid auf Horaz Bezug nimmt und nicht einfach nur die Weisungen seiner Ars amatoria ins Gegenteil verkehrt, weiter bekräftigen. Auch dem Einwand, dass der horazische Intertext nur vermittelt über die Ars relevant ist, kann man anhand dieses Beispiels widersprechen. Zudem verfallen von den 21 Versen der Ars-Passage zehn Verse auf die „sentenziöse Würdigung des Faktors Gewohnheit […] mit Analogien aus der Pflanzen- und Tierwelt“25; die Vergleichsstellen, in denen es konkret um Autosuggestion und Beispiele bzw. praecepta geht, sind also zahlenmäßig um einiges geringer als sowohl im lukrezischen als auch im horazischen Prätext. Dadurch wird es wahrscheinlicher, dass die Aussagen der Remedia zusätzliche Parallelen in eben diesen Textstellen haben.26

 

Zusätzlich fällt noch die Präsenz des Begriffes vitium in beiden Texten auf. Dieser kann mit Blick auf die dritte Satire von Horaz als das zentrale Leitmotiv und Thema bezeichnet werden, was eine quantitative Analyse bestätigt: Zehn Mal wird das Wort in Satire 1, 3 verwendet, im ersten Buch insgesamt ‚nur‘ 20 Mal und im zweiten Buch an 17 Stellen, wenn man die Formen des Verbs vitiare und das Adjektiv vitiosus ebenfalls mitrechnet.27 Bei Horaz werden einige der verschiedenen, möglichen Denotationen des Begriffs, dessen Grundbedeutung „physischer und moralischer Defekt“ ist,28 akzentuiert:29 Vitium bezeichnet etwa in sat. 1, 3, 20; 1, 3, 39 und 1, 3, 70 oder auch 1, 4, 131 einen moralischen Fehler, die Lasterhaftigkeit eines Charakters im Gegenteil zum Begriff virtus.30 Auch denotiert vitium bei Horaz „mental disorder“ als Ersatz für die erwartete Bezeichnung morbus.31 Darüber hinaus steht vitium für einen ästhetischen Makel (etwa in 1, 3, 44 und 68) und, ebenfalls ohne philosophische Implikationen, für fehlerhaftes Verhalten, wenn es um Feinkost geht (so in der Lehrgedichtsparodie in sat. 2, 4). In der dritten Satire (1, 3) stehen nun die ersten beiden Aspekte von vitium im Zentrum, wobei zunächst die moralischen Mängel der Freunde fokussiert werden (vgl. V. 26, 28, 35). In der Analogieforderung, dass man sich ein Beispiel am Verhalten von Geliebten oder Vätern nehmen sollte, sieht man jedoch eine Verschiebung: vitium bezeichnet in den folgenden Versen ausschließlich Schönheitsmängel (vgl. V. 39, 44), bis Horaz im Rahmen der gnomischen Sentenz nam uitiis nemo sine nascitur (V. 68) eine ambigue Deutung zulässt. Sowohl in V. 68 als auch in V. 70 lässt sich vitium m. E. in seiner moralischen und zugleich seiner ästhetischen Bedeutung verstehen,32 wodurch sich die beiden vorangehenden Argumentationsstränge verbinden lassen. „Denn niemand wird ohne Fehler geboren“ passt, dem unmittelbaren Kontext entsprechend, einerseits auf Fehlbildungen oder ästhetische Eigenheiten von Geburt an; andererseits erkennt man auch den gnomischen Charakter dieser Sentenz, wodurch der Terminus des Naturdefekts auch auf Persönliches und Charakterliches ausgeweitet werden kann.33 Ab V. 76, wenn sich die horazische Persona zur philosophischen Perspektive auf Emotionen à la Panaitios und den Peripatetikern bekennt,34 ist die ästhetische Sicht auf vitium jedoch wieder ausgeblendet35– für den Rest des ersten Buches ist erneut ausschließlich die moralische Bedeutung von vitium fokussiert.

In den Remedia wird der Begriff vitium in den Versen 53f. (utile propositum est saeuas extinguere flammas / nec seruum uitii pectus habere sui) und 133f. (quin etiam accendas uitia irritesque uetando, / temporibus si non aggrediare suis) zunächst als Synonym zu morbus36 gebraucht und bezeichnet die Liebeskrankheit, die zu heilen das Ziel der Remedia ist. In der Passage, in welcher der Schüler nun aufgefordert wird, an die Fehler der Geliebten zu denken und sich diese schlechtzureden, stellt vitium den „Schlüsselbegriff des ganzen Abschnitts“37 dar. Vitium wird dabei ausschließlich auf das Thema des körperlich-ästhetischen Makels begrenzt.38 Dass sich nun sowohl Horaz’ Satire 1, 3 als auch die Remedia über die inhaltliche Nähe und Rezeption gleicher Topoi hinaus desselben Leitbegriffes bedienen, unterstützt die These der intertextuellen Beziehung – wobei zugleich ars 2, 641–66239 zu nennen ist. Auch dort, wie ebenfalls in Ars 1 und Ars 3,40 findet diese Bedeutungs-Reduktion statt. Selbst wenn dadurch die intratextuelle Verbindung der Tetralogie deutlich wird – die Satire- und Horaz-affine Sprechhaltung in diesem Abschnitt erlaubt es, die Remedia nicht nur stets in Verbindung mit den vorausgehenden drei Büchern der Liebeskunst, sondern auch isoliert von der Ars zu betrachten und allein mit den satirischen Texten zu verbinden.41 Welche Folgerungen lassen sich nun aus den bisherigen Beobachtungen ziehen?

Horaz akzentuiert (moralische und ästhetische) Fehlerhaftigkeit – doch sollte man die horazische Persona nicht auf einen philosophischen Moralisten beschränken:42 Denn ridentem dicere uerum (vgl. sat. 1, 1, 24) ist schließlich die Sprechhaltung, welche die Persona von Anfang an, auch bei den moralphilosophisch-diatribischen Satiren am Beginn der Sammlung, einnimmt. Horaz belehrt und unterhält durch seinen kolloquial-assoziativen Stil43 und fügt auch Aspekte der Erotik in seine Argumentation mit ein. Er parodiert dabei die philosophische Tradition,44 welche den Rahmen für Inhalt und Sprache von Satire 1, 3 liefert – etwa, indem er seriöse Belehrung mit Elementen des Spotts vermischt: „[H]umorvoll attackiert“45 er die stoische Doktrin, die darin besteht, dass alle Verfehlungen und Laster gleichwertig seien (vgl. sat. 1, 3, 96) und nur der Weise ein König sei (vgl. sat. 1, 3, 141f.).46 So bewegt er sich im Rahmen „einer epikureischen Kritik stoischer Moralsätze“47 und gleichzeitig einer komischen Karikierung des epikureischen Kritikers; einer Kritik, die wie in den anderen beiden Moralsatiren am Anfang der Sammlung somit nicht ernst zu nehmen ist, sondern deren lächerliche und durchaus ‚vulgäre‘ Elemente darauf verweisen, welche Rolle Humor und Parodie von u. a. philosophischen Diatribe-Traditionen spielen.48 Und auch die Mischung der beiden unterschiedlichen Bedeutungen von vitium lässt sich aus parodistischer Perspektive interpretieren. An keiner anderen Stelle im Satirenkorpus verwendet Horaz die Defektivität im ästhetischen Sinn,49 und in sat. 1, 3 nutzt er sie zudem funktional: Die Adaption der Autosuggestions-Passage bricht mit dem ursprünglich diatribisch-erotischen Kontext bei Lukrez und öffnet das Feld des Schönredens für das Freundesthema. Doch der Einzug der ästhetischen Komponenten mit dem Blick auf die Fehlerhaftigkeit der Freunde transformiert wiederum den moralphilosophischen Kontext und bringt Witz in diese Passage. Betrachtet man die Präsenz des konkret Körperlich-Ästhetischen als ein wichtiges Mittel für Horaz’ parodistischen Umgang mit der philosophischen Tradition, so lässt sich dies eben paradigmatisch am Begriff vitium nachvollziehen, der in sat. 1, 3 zwischen beiden Denotationen ‚schwankt‘ und sie schließlich ambig verbindet, bevor der ästhetische Aspekt erneut verschwindet.50

Bei Ovid spielt nun die moralphilosophische Bedeutung des Terminus vitium keine Rolle, vielmehr begrenzt er ihn, wie auch den Freundschafts-Kontext des Horaz, auf das Körperliche und Erotische,51 und führt dabei in den Remedia diese Tendenz aus der Ars amatoria fort. Wie auch Horaz nimmt Ovid hier m. E. eine parodistische Grundhaltung an. Während Horaz also Aspekte der Moralphilosophie teilweise parodiert und teilweise übernimmt, parodiert Ovid Kontext und Dimensionen der Passage zur Euphemisierung und des Begriffes vitium durch Begrenzung auf Körperlichkeit und Erotik – und das mit Blick auf den vitium-Begriff in der besprochenen Remedia-Passage sowie der gesamten liebesdidaktischen Tetralogie. Berücksichtigt man die antike Perspektive auf Parodien, die als ein per se intertextuelles Phänomen wahzunehmen sind und auf dem „comic refunctioning of preformed linguistic or artistic material“52 beruhen, lässt sich mit Blick auf Ovids Umgang mit Horaz folgende These bestätigen: Ovid geht, wie man aus der Häufung der genannten Vergleichspunkte in summa schlussfolgern kann, eine intertextuelle Beziehung zu Horaz’ Satire 1, 3 ein, übernimmt den Grundzug horazischer Sprechhaltung und ihren lockeren, parodistisch-transformierenden Umgang mit Traditionen, geht von dort aus aber weiter und parodiert, zumindest partiell, Horaz selbst.

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