Goldene Hände

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Könnerschaft als Verwirklichung der Praktischen Intelligenz

Der unaufhörlich voranschreitende Trend zur Akademisierung zeigt sich darin, dass Hochschulabschlüsse, Zertifikate und entsprechende Titel immer wichtiger werden. Doch hat die Überzeugung, dass die «Akademische Intelligenz» das zum Erfolg führende Kriterium ist, dazu geführt, dass die grosse Bedeutung der Praktischen Intelligenz fast vollkommen ausgeklammert und auch falsch verstanden worden ist. Praktische Intelligenz ist nicht einfach handwerkliches Geschick von weniger Begabten, sondern die Fähigkeit, Fachwissen auf hohem Niveau in der Praxis auch anwenden zu können. Praktische Intelligenz provoziert Könnerschaft. Für die Berufsbildung ist dies eine zentrale Herausforderung, weil sie ganz besonders mit der Theorie-Praxis-Problematik vertraut ist.

Die ausschliessliche Konzentration auf die Akademische Intelligenz ist falsch

Eine solche Erkenntnis hat jedoch einen schweren Stand. Denn Akademische Intelligenz gilt als Tor zum Berufs- und Lebenserfolg. Dahinter steckt die Überzeugung, dass das Wissen die unabdingbare und einzige Grundlage für das Können und damit für Expertise sei. Ist jemand nicht professionell genug, dann ist man überzeugt, dass die Wissensvermittlung und somit die Ausbildung versagt hat.

Diesem Denken ist nicht grundsätzlich zu widersprechen. Im Globalisierungskontext entwickelt sich die Schweiz nun einmal zu einer Bildungs- und Wissensgesellschaft. Dass ein wachsender Anteil der Berufstätigen eine höhere Bildung hat, ist somit alles andere als negativ. Immer besser ausgebildete Berufsleute sind im Hinblick auf die internationale Anschlussfähigkeit ein Muss. Aber unser Denken, wonach hohes Wissen und eine hohe Akademische Intelligenz die zentralen Ursachen für Könnerschaft und Expertise seien, ist zu einseitig und klammert die grosse Bedeutung der Praktischen Intelligenz aus.

Hinter der Akademischen Intelligenz verbergen sich oft praktische Talente, die nicht sichtbar werden können, weil man ihnen keine Möglichkeiten zur Entfaltung gibt. Natürlich gilt Gleiches auch umgekehrt, doch steht dies hier nicht zur Diskussion. Ebenso kennen wir alle Menschen, die auf wissenschaftlich hochstehende Weise über ein Problem sprechen, zu dessen Lösung aber wenig beitragen können. Andererseits beobachten wir immer wieder, dass auch viel Fleiss und Motivation noch keine Könner hervorbringt. Der Grund liegt in beiden Beispielen darin, dass es solchen Menschen an ausreichender Praktischer Intelligenz mangelt. Deshalb ist die Fähigkeit, mit realen Problemen erfolgreich umzugehen, das wichtigste Element von Berufskompetenz.

Kapitel 2 Talente Wer sie sind und wie sie sich entwickeln

Nicht nur in der Berufsbildung, auch im Personalmanagement von Unternehmen ist der «Kampf um die Talente» allgegenwärtig. Angesprochen sind mit diesem Slogan die Arbeitsmarktengpässe und der Fachkräftemangel. Qualifiziertes Personal zu finden wird heute als entscheidender Wettbewerbsfaktor verstanden und nicht mehr wie bisher Maschinen, Kapital oder die geografische Lage eines Betriebs. Als Gründe für den beklagten Mangel an Talenten werden der demografische Wandel genannt, Veränderungen in der Arbeitswelt, wie beispielsweise der Wandel von der produktions- hin zu wissensbasierten Arbeitsformen, aber auch die Folgen der Masseneinwanderungsinitiative. Der Wettbewerb um Talente (oft auch «high potentials» genannt) nimmt deshalb zu und daraus resultierend auch die Bedeutung des Talentmanagements.[5] Talentmanagement wird definiert als systematische Suche nach und Nutzung von Begabungs- und Talentreserven.

In dieser Hinsicht steht die berufliche Grundbildung vor besonderen Herausforderungen. Zum einen zwingt sie die trotz des zahlenmässigen Rückgangs an Jugendlichen ungebrochene Attraktivität der Gymnasien zum Nachdenken, inwiefern sie ihre leistungsbesten Auszubildenden zu verlieren droht. Zum anderen erfordert der drohende Nachwuchsmangel in bestimmten Ausbildungsberufen neue Strategien, leistungsstarke und motivierte Lernende zu finden. Die aktuelle bildungspolitische Situation rund um den Nachwuchs- und Fachkräftemangel ist somit günstig, um Talentfragen endlich verstärkt in den Blick zu nehmen. Eine bessere Ausschöpfung der Begabten- und Talentreserven stellt nicht nur eine grosse Herausforderung dar, sondern ebenso eine Chance, das Potenzial bestimmter Gruppen besser oder anders auszuschöpfen.

Doch, wer sind die Begabten und Talentierten[6] in der beruflichen Grundbildung, und wie entwickeln sie sich? Zwei unserer Forschungsprojekte liefern hierzu wichtige Erkenntnisse. Beide Studien wurden von der Berufsbildungsforschung des SBFI finanziell gefördert.

Goldene Hände brauchen keine klügsten Köpfe

Die Frage, inwiefern wir in der Schweiz die Begabten- und Talentreserven tatsächlich ausschöpfen, lässt sich mit einem «Ja und nein» beantworten. So lautet die Schlussbilanz der repräsentativen Längsschnittstudie «Begabung und Leistungsexzellenz in der Berufsbildung», die wir zwischen 2005 und 2009 an der Universität Fribourg durchgeführt haben.[7] Untersuchungsbasis bildete eine Gesamtstichprobe mit 21 Deutschschweizer Berufsschulen und 2 706 Auszubildenden des ersten Lehrjahres, welche zwei kognitive Fähigkeitstests absolvierten. 196 von ihnen erzielten überdurchschnittlich hohe Werte, weshalb sie einem «Talentpool» zugeteilt wurden. Ihm wurde eine Vergleichsgruppe mit 189 Personen gegenübergestellt, die lediglich durchschnittliche Werte erzielt hatten. Die Auszubildenden des Talentpools unterschieden sich somit von der Vergleichsgruppe primär durch ihre überdurchschnittliche Intelligenz. Zusammen bildeten die insgesamt 385 Personen die Stichprobe, die wir während der gesamten Ausbildungszeit in drei Erhebungen untersuchten.

Begabte Auszubildende sind eine soziale Tatsache

177 der dem Talentpool zugeteilten Personen mit einem Intelligenzquotienten (IQ) von über 120 Punkten machten 7.2 Prozent der Stichprobe aus. Weitere 19 Personen (0.6 Prozent) verfügten sogar über einen Wert von mehr als 130 Punkten. Weil die klassische Begabungsforschung bei einem IQ von 120 Punkten von überdurchschnittlicher Begabung und bei einem IQ ab 130 Punkten von Hochbegabung spricht, kann davon ausgegangen werden, dass die berufliche Grundbildung mit ca. 7.8 Prozent überdurchschnittlich begabten Auszubildenden rechnen kann und diese somit eine soziale Tatsache darstellen.

Interessanterweise liessen sich solche Auszubildenden in allen Berufsfeldern finden und keineswegs nur in denjenigen, die zu den anforderungshöchsten gehören und in die Berufsmatura einmünden. Der Talentpool umfasste somit auch Personen aus traditionellen Handwerksberufen wie Köche, Zimmerleute, Maurer, Bodenleger, Metzger oder Sanitätsinstallateure.

Wie entwickelten sich diese beiden Gruppen im Verlauf ihrer Ausbildung? Welche Rolle spielte dabei die Intelligenz? Um diese Hauptfrage zu beantworten, befragten wir einerseits die Berufsbildnerinnen und Berufsbildner zu ihren Erfahrungen und Einschätzungen des oder der Auszubildenden und andererseits die Auszubildenden selbst zu ihrer eigenen Person, ihre beruflichen Erfahrungen, ihrer Familie und ihren Freunden sowie zum Verlauf der obligatorischen Schulzeit.

In Abbildung 1 sind die Ergebnisse aus den Befragungen der Berufsbildenden eingetragen. Sie hatten im ersten (t1), zweiten (t2), dritten (t3) und vierten (t4) Ausbildungsjahr die Kompetenzen ihres resp. ihrer Lernenden auf einer fünfstufigen Skala zu den materiellen und formalen Kenntnissen sowie den personalen und sozialen Fähigkeiten einzuschätzen. Der Verlauf der beiden Leistungskurven zeigt etwas Erstaunliches und kaum Erwartetes. Nachdem der Talentpool die Vergleichsgruppe in den beiden ersten Ausbildungsjahren (t1 und t2) deutlich überflügelt hatte, war im dritten Lehrjahr (t3) das Gegenteil der Fall. Im vierten Lehrjahr (t4), kurz vor der Lehrabschlussprüfung, hatte die Vergleichsgruppe den Talentpool im Urteil ihrer Berufsausbildenden immer noch überholt. Dies bedeutet somit, dass die zu Ausbildungsbeginn gemessenen kognitiven Fähigkeiten auf die betrieblichen Leistungen beim Ausbildungsabschluss kaum einen Einfluss ausübten. Mit anderen Worten: Kluge Köpfe allein garantieren offenbar noch keine Könnerschaft in Form goldener Hände.

Abbildung 1: Leistungsverläufe von Talentpool und Vergleichsgruppe im Urteil der Berufsbildenden


Die berufliche Ausbildung als zweite Chance

Vor diesem Hintergrund interessiert natürlich eine Frage am stärksten: Wer sind denn die tatsächlich Leistungsbesten, wenn doch die Intelligenz kaum eine Rolle spielt? Was steckt hinter ihnen? Um diese Frage zu beantworten wurde eine Rangliste mit allen 385 Teilnehmenden erstellt und das vorderste Drittel, das heisst 119 Personen, genauer untersucht und mit dem Rest der Stichprobe verglichen. Dazu gehörten 58 Personen des Talentpools und 61 Personen der Vergleichsgruppe. 31 Personen stammten aus einfachen Migrantenfamilien. Insgesamt lassen sich die auf diese Weise eruierten Ergebnisse wie folgt zusammenfassen:

Auch ein Realschulabschluss kann zu Könnerschaft führen: 30 Prozent der Leistungsbesten verfügten lediglich über einen Realschulabschluss, 45 Prozent einen mittleren Sekundarschulabschluss und nur 25 Prozent über einen progymnasialen Abschluss.

 

Holprige Schullaufbahnen sind kein Hindernis für exzellente Leistungen: 23 Prozent der Leistungsbesten hatten einmal, 10 Prozent sogar zweimal, eine Klasse wiederholt. Im Widerspruch zu gängigen Überzeugungen zeigt sich damit, dass eine Klassenwiederholung an sich keine Aussagen über den Ausbildungserfolg erlaubt.

Die berufliche Ausbildung kann zur «zweiten Chance» werden: Mehr als 30 Prozent der Leistungsbesten hatten während der obligatorischen Schulzeit bei ihren Klassenlehrkräften oft als «Minderleister» gegolten («Wenn du nicht so faul wärst, könntest du etwas erreichen» oder «Mit deinem Minimalismus wirst du nicht weit kommen»). Offenbar konnten sie ihr Potenzial infolgedessen erst in der beruflichen Ausbildung entwickeln. Damit ist für sie die berufliche Ausbildung zu einem Neuanfang oder gar zu einer «zweiten Chance» geworden.

Persönlichkeitsmerkmale schlagen Intelligenz: Arbeitsmotivation und -identifikation, Stressresistenz, Fleiss und Beharrlichkeit waren bei den Leistungsbesten deutlich höher ausgeprägt als beim Rest der Stichprobe und erwiesen sich demzufolge als bedeutsamere Erfolgsfaktoren denn die Intelligenz.

Der Betrieb spielt eine herausragende Rolle: Die Merkmale des Betriebes – beispielsweise Betriebsklima, Leistungsanerkennung, Unterstützung, Herausforderung, Anregung und Training – hängt signifikant positiv mit den Leistungen der Spitzengruppe zusammen. Zum Leistungsbesten wird man somit nicht nur, wenn man über geeignete Persönlichkeitsmerkmale verfügt, sondern auch in den Genuss von spezifischer betrieblicher Unterstützung kommt.

Leistungsstarke Migranten: die unerwarteten Talente

Um den aktuellen Herausforderungen entgegenzutreten, die sich der Berufsbildung zur Ausschöpfung der Begabungs- und Talentreserven im Hinblick auf den Fachkräftemangel ergeben, hat es bis zur Annahme der Masseneinwanderungsinitiative zwei Möglichkeiten gegeben: noch mehr qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland zu holen oder die Potenziale von Migrantinnen und Migranten, die bereits bei uns leben, zu entdecken respektive zur Kenntnis zu nehmen und sie besser und zielgerichteter zu fördern. Da die erste Möglichkeit heute enorm eingeschränkt ist und der Fachkräftemangel stärker mit Einheimischen statt mit zugewandertem Fachpersonal behoben werden muss, werden die hier lebenden Migrantinnen und Migranten zur Bevölkerungsgruppe mit den wohl am häufigsten nicht entdeckten Begabungsreserven.

Weshalb die Herkunft so wichtig ist

Unsere Herkunft bestimmt zu grossen Teilen unsere Zukunft. Wir sprechen zwar immer von Chancengleichheit, leben in Wirklichkeit aber in einer Gesellschaft, in welcher der Zufall, in welche Familie wir hineingeboren werden, einen grossen Einfluss auf unseren Bildungsweg hat. Diese Tatsache wird jedoch in der Diskussion über den «Kampf um die Talente» viel zu wenig berücksichtigt, weshalb auch die Suche nach ihnen zu wenig ausgewogen ist. Es sind vor allem drei Gründe, die für die enorme Bedeutung der sozialen Herkunft verantwortlich sind.

Einen «Migrationshintergrund» zu haben: Allein für sich genommen ist ein «Migrationshintergrund» bereits ein Nachteil. Der fast durchgängig negative Blick auf junge Menschen mit Migrationshintergrund und ihre Familien zeigt sich schon daran, wie sehr sie in der Öffentlichkeit vor allem als Träger von Defiziten stigmatisiert werden. Kriminalität, Fundamentalismus, Zwangsehen, Sprachprobleme oder mangelnde schulische Unterstützung durch das Elternhaus sind nur ein paar Stichworte einer langen Liste ihres Ungenügens, die unser Bild des kostenverursachenden Ausländers nähren und zur Kritik an der gescheiterten Integration und zur Forderung nach einer Beschränkung der Zuwanderung beitragen.

Zum Bildungsverlierer gemacht zu werden: Logischerweise äussert sich ein derart negativer Blick auch in empirischen Daten zum «gescheiterten Migranten als Bildungsverlierer». Bereits ein flüchtiger Blick in aktuelle Statistiken bestätigt dies: Den direkten Übergang in eine Berufsausbildung schaffen im Gegensatz zu 68 Prozent der Schweizer Jugendlichen nur 48 Prozent mit Migrationshintergrund. Zudem gibt es (bei gleichem Bildungsniveau der Eltern) mehr Jugendliche mit Migrationshintergrund als Einheimische, die keine postobligatorische Ausbildung erlangen.[8] Auch am oberen Ende der Skala spricht die Statistik eine deutliche Sprache: Beispielsweise sind junge Menschen mit benachteiligendem Migrationshintergrund in allen Schweizer Begabtenförderprogrammen deutlich unterrepräsentiert,[9] und es macht auch nur jeder zehnte Schüler dieser Gruppe eine Matura.

Geringere Chancen für eine anspruchsvolle Ausbildung zu haben: Seit der PISA-Studie wissen wir auch empirisch fundiert, dass in der Schweiz der Bildungserfolg ausgesprochen stark vom Herkunftsmilieu abhängt. So ist der Bezug zwischen der sozialen Herkunft und den Schulleistungen enger als zwischen ihr und der Intelligenz. Dies zeigt sich etwa darin, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund und aus benachteiligten Sozialschichten bei gleichen Schulleistungen eine zwei- bis dreimal geringere Chance haben, einen anspruchsvollen Ausbildungsplatz zu bekommen oder den Sprung ins Gymnasium zu schaffen als solche aus privilegierteren Sozialschichten. Die weit verbreitete Annahme ist jedoch falsch, Jugendliche mit Migrationshintergrund seien allgemein weniger intelligent als Kinder aus gut situierten Familien.[10]

Man kann somit von einer «Sozialvererbung» der Bildungschancen sprechen. Weil Chancengerechtigkeit und Kompetenzerwerb ungünstig kombiniert sind, wird das Leistungspotenzial in den unteren Sozialschichten – und dazu gehören insbesondere auch junge Migrantinnen und Migranten aus einfachen Verhältnissen – nicht wirklich ausgeschöpft. Und zwar in überwiegendem Ausmass gerade nicht, weil sie dumm sind, sondern, weil bei ihnen kein Potenzial erwartet, es daher nicht erkannt und auch nicht gefördert wird.

Dieser Defizitblick kommt auch in der Tatsache zum Ausdruck, dass sich die Suche nach Begabungen bisher vor allem auf die einheimische Mittel- und Oberschichtbevölkerung konzentriert hat. Leistungsstarke Jugendliche mit Migrationshintergrund tauchen in keiner Statistik auf und finden auch in der PISA-Studie keine Erwähnung.

Merkmale leistungsstarker Migranten[11]

Wo sind sie somit, die leistungsstarken Migrantinnen und Migranten? Was steckt hinter ihnen, und weshalb sind sie so erfolgreich geworden? Diese Frage war die Grundlage für unsere «MIRAGE»-Studie («Migranten als gesellschaftliche Aufsteiger»). Sie untersuchte zwischen 2009 und 2013 die Faktoren des Ausbildungserfolgs der besten Deutschschweizer Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger, ihren Berufseinstieg und ihren weiteren beruflichen Werdegang. Dabei differenzierte sie zwischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund («Migranten») und denjenigen, deren Eltern beide in der Schweiz geboren sind («Einheimische»).

Grundlage bildet eine für die deutsche Schweiz repräsentative Gruppe von 757 Personen, welche im Jahr 2009 Spitzenergebnisse in der Lehrabschlussprüfung (LAP) erzielt hatten. Davon waren N = 305 Migrantinnen und Migranten sowie N = 452 Einheimische. In einer ersten Runde beantworteten alle Teilnehmenden einen Fragebogen mit folgenden Schwerpunkten: Einstellungen zur beruflichen und schulischen Ausbildung; Familie, ihre Unterstützung und die Erziehungsziele der Eltern; persönlicher Ausbildungsverlauf; persönliche Merkmale und Interessen; Zukunftspläne. In der zweiten Runde wurden sie zweimal zum Verlauf ihrer beruflichen Laufbahn befragt. Als «Migranten» wurden dabei jene Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger bezeichnet, von denen mindestens ein Elternteil im Ausland geboren ist.

Zunächst zeigte sich, dass die untersuchte Migrantengruppe aus vielen verschiedenen Ländern stammte, wobei Italien (15 Prozent), Deutschland (13 Prozent), Bosnien und Albanien/Kosovo (je 10 Prozent) sowie Serbien/Montenegro und Mazedonien (je 5 Prozent) am stärksten vertreten waren. Ferner fanden sie sich in allen Berufsgruppen. Laut Tabelle 1 waren sie mit 25 Prozent – ähnlich wie die Einheimischen – am häufigsten in den technischen Berufen vertreten, gefolgt von Berufen im Gesundheits- und Sozialwesen mit 18 Prozent. Im Verkauf sowie im Büro- und Informationswesen fanden sich etwas mehr Absolventen mit Migrationshintergrund als Einheimische. Demgegenüber waren die Einheimischen im Informatikbereich sowie im verarbeitenden Gewerbe leicht übervertreten.

Tabelle 1: Verteilung der Leistungsbesten nach Berufsbranchen


Migranten Einheimische
Berufsgruppen Häufigkeiten Prozent Häufigkeiten Prozent
Technische Berufe 68 25.1 91 23.1
Gesundheits- und Sozialwesen 49 18.1 94 23.9
Verkauf 41 15.1 42 10.7
Büro- und Informationswesen 40 14.8 38 9.6
Dienstleistungen 25 9.2 35 8.9
Druck, Design und Kunstgewerbe 13 4.8 17 4.3
Informatik 12 4.4 23 5.8
Verarbeitendes Gewerbe 12 4.4 26 6.6
Architektur und Baugewebe 9 3.3 16 4.1
Landwirtschaft 2 0.8 12 3.0
Gesamt 271 100 394 100

Blickt man auf die soziale Herkunft der untersuchten Migrantengruppe, so dominiert die Vielfalt. Aus Abbildung 2 wird ersichtlich, dass sie im Vergleich zu den Einheimischen in Bezug auf den höchsten Schulabschluss des Vaters sowohl am oberen als auch am unteren Ende der Skala übervertreten waren. Während 12 Prozent der Migranten einen Vater mit einem Hochschul- oder Universitätsabschluss hatten, waren es nur 8 Prozent der Einheimischen. Von diesen wiederum waren nur 8 Prozent der Väter ohne Schulabschluss, während dies für 34 Prozent der Migranten zutraf. Einen Migrationshintergrund zu haben, ist somit per se kein prägnanter Indikator für Leistungserfolg. Migranten und Migrantinnen kommen sowohl aus privilegierten Schichten, ganz besonders häufig jedoch aus Elternhäusern mit Vätern, die nur über eine minimalste Schulbildung verfügen und einer Tätigkeit als ungelernter Arbeiter nachgehen.

 

Abbildung 2: Ausbildungsabschlüsse der Väter


Zwischen den beiden Gruppen lassen sich weitere Unterschiede finden, wobei fünf Ergebnisse von besonderer Bedeutung sind:

Instabile Schullaufbahnen: Oft verzeichneten die erfolgreichsten Migranten weder gradlinig verlaufende Ausbildungswege noch verfügten sie über Schulabschlüsse anforderungshoher Niveaus. So hatten sie viel häufiger als Einheimische lediglich einen Hauptschul- oder einen Werkschulabschluss, und auch Klassenwiederholungen kamen fast doppelt so oft vor. Zudem erfolgte der Start in die berufliche Ausbildung relativ häufig, verlangsamt, d. h. durch einen kürzeren oder längeren Verbleib im Übergangssystem. Allerdings spielte das Einreisealter eine Rolle. So zeigten in der Schweiz geborene Migrantinnen und Migranten ein insgesamt günstigeres Profil als die nicht in der Schweiz Geborenen. Sie hatten deutlich seltener eine Klasse wiederholen müssen als später Eingereiste und erzielten bessere Noten in der Lehrabschlussprüfung. Diese leistungsbesten Migrantinnen und Migranten sind somit zur Leistungsspitze vorgedrungen, obwohl sie sich nicht durch gute deutsche Sprachkompetenzen oder Schulnoten hervorgetan hatten, wohl jedoch unter anderem durch ihre Fähigkeit zur Mehrsprachigkeit. Im Gegensatz zur Einheimischengruppe, welche im Durchschnitt 2.5 Sprachen beherrschte, waren es bei den Migranten 3.8 Sprachen. Die Mehrsprachigkeit hat sich somit ausbezahlt.

Bildungsambitionierte Familien: Die Migrantengruppe konnte durchschnittlich weniger auf materielle Ressourcen zurückgreifen als Einheimische, weil viele Eltern lediglich über bescheidene Bildungsabschlüsse und Deutschkenntnisse verfügten und dadurch das Schweizer Bildungssystem nur schlecht kannten. Andererseits hatten gerade diese Familien weit höhere Ausbildungsambitionen und Erwartungshaltungen als die Familien Einheimischer. Solche Erwartungen wurden durch die Bereitschaft der Migrantinnen und Migranten erwidert, die erwarteten Leistungen ihrer Eltern auch tatsächlich zu erbringen. Ihre erfolgreichen Ausbildungslaufbahnen sind somit in vielerlei Hinsicht das Ergebnis der familiären Sozialerfahrungen und Ansprüche. Der enge Zusammenhalt zwischen den Generationen sichert, dass die für den Ausbildungserfolg wichtigen Normen stärker befolgt werden als in einheimischen Familien. Allerdings zeigte sich auch, dass sich lange nicht alle Migrantinnen und Migranten der Familie gegenüber solidarisch und dankbar verpflichtet fühlten, weshalb auch von vielen Spannungen und Loyalitätskonflikten berichtet wurde.

Die grosse Bedeutung älterer Geschwister: Auch ältere Geschwister trugen dazu bei, die häufig fehlenden Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern zu kompensieren. Der oft und immer wieder formulierte vermeintlich mangelnde Bildungswille von Migrantenfamilien erweist sich somit als eine unzulässige Stereotypisierung. In mehr als einem Drittel der Fälle waren auch Geschwisterbeziehungen wichtig. Sie trugen wesentlich zum Ausbildungserfolg der jüngeren Familienmitglieder bei und übernahmen bei der Unterstützung von Hausaufgaben eine wichtige Stellvertreter- und Beraterfunktion.

Weniger Netzwerke, aber bedeutsame Schlüsselpersonen: Allgemein bekannt ist, dass Migranten einen deutlich schlechteren Zugang zu berufsrelevanten Netzwerken haben. Dass dies in unserer Studie auch für die Gruppe der Erfolgreichsten zutraf, ist eher erstaunlich. Im Gegensatz zu Schweizer Jugendlichen hatten nur 10 Prozent angegeben, über gute Kontakte zu verfügen, welche als Türöffner für ihre beruflichen Tätigkeiten dienlich gewesen waren. Aufgrund ihrer hervorragenden Leistungen ist somit anzunehmen, dass Verwandtschaft und Familie zwar ein erwartungsvoller Unterstützungskontext, aber keine ausschlaggebende Hilfe bei der Lehrstellensuche oder beim Übergang in den Arbeitsmarkt gewesen sind. Dabei spielte das Einreisealter keine Rolle. Wesentlicher als Netzwerke und ausschlaggebend für den Ausbildungserfolg scheint in vielen Fällen eine Begegnung mit einer Schlüsselperson gewesen zu sein: ein einheimischer Schulkamerad aus einem bildungsnahen Elternhaus, eine Nachbarin, ein Fussballtrainer oder auch eine Lehrperson. Doch wurde auch relativ oft berichtet, dass gerade Lehrkräfte den Migrantinnen und Migranten wenig zugetraut hätten, sodass man sich aus eigener Kraft habe hochkämpfen müssen, vom Ehrgeiz oder vom Trotz angetrieben, etwa nach dem Motto: «Ich werde es euch zeigen.»

Grosse Unterschiede in Persönlichkeitsmerkmalen: Im Hinblick auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale zeigte sich die Migrantengruppe ebenso leistungsmotiviert und erfolgszuversichtlich wie die Einheimischen. Jedoch überragte sie diese im Selbstvertrauen und in ihrer Fähigkeit, sich selbst zu organisieren. Trotz Migrationshintergrund ausbildungserfolgreich zu werden, ist somit auch eine Frage solcher Persönlichkeitsmerkmale. Ihnen kommt gesamthaft eine grössere Bedeutung für die Entwicklung von Leistungsexzellenz zu als den Effekten der Intelligenz.

Beruflicher Werdegang: höherer Status, aber weniger zufrieden

Ausbildungserfolg ist nicht das Gleiche wie Berufserfolg. Deshalb ist von besonderem Interesse, wie sich die Einmündungswege in die Berufstätigkeit gestalteten. Zwar gelang beiden Gruppen der Einstieg fast durchgehend direkt und problemlos. Die Migrantengruppe überflügelte jedoch die Gruppe der Einheimischen. Dies wird in Abbildung 3 an den sogenannten ISEI-Werten ersichtlich.[12] Das ist eine Operationalisierung der sozioökonomischen Stellung. Während die Gruppe der Migranten im Jahr 2011 einen Mittelwert von 41.16 erreichte, blieben die Einheimischen mit einem Mittelwert von 38.86 deutlich zurück.

Abbildung 3: Beruflicher Status nach Abschluss der Ausbildung (ISEI-Werte)


Abbildung 4: Vergleich der Saläre (CHF)


Auch im Hinblick auf das Salär zeigt sich ein ähnliches Bild. So konnten beide Gruppen seit Abschluss der Ausbildung ihr Salär signifikant steigern, die Migrantengruppe jedoch etwas stärker als die Einheimischen, so dass sie Ende 2011 deutlich mehr verdiente (3 884 CHF zu 3 508 CHF). Allerdings trifft dies vor allem auf in der Schweiz geborene Migranten zu.

Einschränkend muss dabei sowohl im Hinblick auf den beruflichen Status als auch das Salär beachtet werden, dass die Unterschiede auch darauf zurückzuführen sind, dass Einheimische nach Abschluss der Berufslehre deutlich stärker auf Vollzeitausbildungen setzten und deshalb nicht berufstätig waren und weniger verdienten als Migranten.

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