Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung

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Schwerpunkt I

Grundlagen

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1 FBBE: Was sie meint und was sie leisten soll

1.1 Was ist FBBE?

Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung, Betreuung und Erziehung – von Geburt an. Die UN-Kinderrechtskonvention, welche dieses Bildungsrecht explizit festhält, fußt auf dem Grundgedanken, dass alle Rechte in erster Linie auf das Wohl des Kindes abzielen sollen. Das bedeutet, dass die Bedürfnisse des Kindes und nicht die Bedürfnisse der Eltern respektive der Erziehungsverantwortlichen im Mittelpunkt stehen müssen. FBBE muss deshalb im Hier und Jetzt gedacht werden. Nicht zufällig hat Janusz Korczak vom «Recht des Kindes auf den heutigen Tag» (Korczak, 1981, S.64) gesprochen. Gerade weil Kinder unsere Zukunft sind, müssen wir sie vom ersten Tag an, ohne Rücksicht auf ihre Herkunft, so fördern, dass sie sich kreativ und ihrem Potenzial entsprechend entwickeln können. Hinter dieser Vorstellung verbirgt sich das humboldtsche Bildungsverständnis des Kindes als «Aneignung von Welt» oder als Selbstbildung (Schäfer, 2004). In dieser Tradition ist Bildung von der subjektiven Eigenleistung abhängig. Sie ist es, die einen Lernprozess zu einem Bildungsprozess macht. Diese Sichtweise bekommt nun auch durch die Befunde der Hirnforschung, der Entwicklungsneurologie und der Systemtheorie Auftrieb.

Humboldts Grundgedanken bilden bis heute die regulative Grundidee des Bildungsbegriffs. Sie versteht Bildung als Verhältnis zwischen dem individuellen Ich und der Welt, wobei die Individualität nur durch das Gegenüber, durch das sie sich konturieren kann, entsteht. Die Bildung der Kräfte zu einem Ganzen kann dabei nur gelingen, wenn das junge Kind nicht mit funktionalen Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft gedacht wird. Für die Diskussion grundlegend ist auch Fröbels, Montessoris oder Piagets Verständnis der frühen Kindheit. Fröbel (1839/1982) spricht von der frühen Kindheit als früher Bildungszeit und vom selbsttätigen Handeln des Kindes im Rahmen seines Bildungsprozesses. Diesen Gedanken hat Montessori (Helming, 2002) weitergedacht und hat auf der Basis von Beobachtungen autodidaktisches, auf Sinneserfahrung basierendes Material entwickelt, das Kinder selbstständig nutzen können. Auf diese Weise können sie ein Verständnis der Welt entwickeln. Die Unterstützung der Erwachsenen im kindlichen Bildungsprozess versteht Montessori dabei als Hilfe zur Selbsthilfe. Von besonderem Interesse für die frühkindliche Bildung ist dabei, dass sie in den ersten zwei bis drei Lebensjahren von einem inflationären Reichtum kindlicher Eindrücke ausgeht, der erst durch die Führung der Erwachsenen in eine Ordnung gebracht werden kann. Diese Ordnung wird jedoch nicht durch die Persönlichkeit der erziehenden Person hergestellt, sondern durch die Sache selbst. |19◄ ►20| Piagets (1981) Kernaussage wiederum besagt, dass die kognitive Entwicklung einem selbstkonstruktiven Prozess entspricht, in welchem das Kind auf der Basis seiner kognitiven Fähigkeiten Wissen konstruiert. Erwachsene spielen dabei eine lediglich sekundäre Rolle.

Zwar sind sowohl Humboldt als auch Fröbel, Montessori oder Piaget für die aktuelle frühkindliche Bildungsdiskussion von großer Bedeutung. Sie alle berücksichtigen soziale Prozesse – jedoch nur insoweit, als Erwachsene die Eigenständigkeit des Kindes akzeptieren müssen. Diese Perspektive genügt allerdings kaum. Wenn Pluralität ein konstitutives Element unserer Gesellschaft und Diversität eine soziale Tatsache darstellt, dann kann es kaum universelle Gesetzmäßigkeiten – so wie von Piaget postuliert – geben. Frühkindliche Bildung muss vielmehr als sozialer und kulturell bestimmter Prozess verstanden werden, an dem das gesamte gesellschaftliche Umfeld beteiligt ist. Bildungskonzepte müssen deshalb auf den Kontext und auf die Tatsache ausgerichtet werden, dass jedes Kind anders ist.

Darauf verweisen auch verschiedene empirische Befunde zur vorschulischen Förderung. Seit der internationalen PISA-Studie wird sie verstärkt im Hinblick auf ihre Fähigkeit, Startchancengleichheit bei Schuleintritt zu erreichen, diskutiert. Bekanntlich liegen verschiedene Untersuchungen vor, welche auf die großen Kompetenzunterschiede von Vorschulkindern bereits bei Eintritt in den Kindergarten (Stamm, 2004) und auf die Schwierigkeiten verweisen, diese Unterschiede bis zum Schuleintritt zu egalisieren (Moser et al., 2008). Deshalb besteht heute in der scientific community weitgehend Einigkeit, dass eine langfristig wirksame Förderung früher einsetzen muss. Wenn somit frühkindliche Bildung einen Beitrag zur Minimierung der sozialen Differenz respektive zur Umsetzung von Startchancengleichheit leisten soll, dann greift das humboldtsche Verständnis, aber auch Fröbels und Montessoris Ideen frühkindlicher Bildung als Selbstbildung zu kurz, weil sie keine Aussagen zur soziokulturellen Diversität und sozialen Komplexität machen.

Wie jedoch soll der frühkindliche Bildungsbegriff weiterentwickelt werden? Einen ersten Vorschlag formuliert Fthenakis, indem er ihn als «ko-konstruktiven Bildungsprozess» (2002) bezeichnet. Dabei spricht er vom kompetenten Kind, das sich Wissen selbst konstruiert, aus sich heraus lernt, die Welt erkundet und den aktiven Dialog sucht. Dies sind Aktivitäten und Kompetenzen, die im Hinblick auf die sprachliche, soziale und emotionale Entwicklung besonders wichtig sind. Allerdings ist dieser Perspektive entgegenzuhalten, dass kindliche Eigenaktivität und Selbsttätigkeit nur so lange Gültigkeit haben können, wie das Kind in einem geschlossenen, der Mehrheitsgesellschaft entsprechenden Familiensystem lebt und keine direkte Steuerung von außen braucht. Dies trifft in erster Linie für Kinder mit privilegiertem Bildungshintergrund zu, die in anregungsreichen Milieus aufwachsen und deshalb vieles |20◄ ►21| beiläufig lernen. Für Kinder, die in Armut oder in sozial deprivierten Verhältnissen – unter Umständen kumuliert mit Benachteiligungen aufgrund eines Migrationshintergrunds – aufwachsen, genügt auch das Modell der Ko-Konstruktion kaum. Geeigneter erscheint hingegen das von Rauschenbach (2006) beschriebene Konzept der Koproduktion. Gemeint ist damit, dass Kinder zwar «selbst konstitutiv am Bildungsgeschehen zu beteiligen sind, dass sie auf der anderen Seite auch gezielte Lernstimuli und gestaltende Lernumgebungen benötigen, wenn erfolgreiche Bildungsprozesse mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zustande kommen sollen» (S.76). Dieses koproduktive Konzept überwindet sowohl das Konzept der Selbstbildung als auch dasjenige der Kokonstruktion auf zweifache Weise:

• indem es explizit den Austausch zwischen den Selbstbildungsfähigkeiten des Kindes und der Bereitstellung und Anregung von Bildungsmöglichkeiten durch die Umwelt, in Interaktion mit Gleichaltrigen und Erwachsenen, betont;

• indem es den gesellschaftlichen Blickwinkel einbezieht und die für eine erfolgreiche Schul- und Berufslauf bahn erforderlichen instrumentellen und sozialen Kompetenzen herausstreicht.

Was bedeutet eine solche Bildungskonzeption für das pädagogische Fachpersonal in familienexternen Betreuungsinstitutionen? Erstens erfordert sie ein neues, grundlegend anderes Betreuungs- und Instruktionsverständnis, das nicht mehr wie bis anhin ausschließlich auf Pflege und Versorgung respektive auf Begleitung, Unterstützung und Anregung ausgerichtet ist, sondern auf die behutsam-provokative Stärkung des Eigenanteils des Kindes an seiner vorschulischen Bildung. Zweitens erfordert sie eine Verstärkung schulvorbereitender Bildungsanstrengungen, die in erster Linie auf das junge Kind mit Minoritätshintergrund ausgerichtet sein sollen. Damit sind alle Kinder gemeint, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind und durch Lebensbedingungen und Lebensführung von der anerkannten schulischen Wissens- und Lernkultur weit entfernt aufwachsen.

1.2 Was soll FBBE leisten?

Nicht nur die UN-Kinderrechtskonvention erachtet Bildung als den zentralen Schlüssel, um sozialer Ausgrenzung vorzubeugen und ihr entgegenzuwirken. Auch die UNESCO hat in ihrem Aktionsplan «Bildung für alle» sechs Bildungsziele festgehalten, deren erstes die frühe Bildung, insbesondere für Kinder aus benachteiligten Familien, darstellt (UNESCO, 2007). Was bedeutet dies für Deutschland und die Schweiz, |21◄ ►22| wo die PISA-Studie gezeigt hat, dass die späteren Chancen eines jungen Kindes davon abhängen, welchen Bildungsstand seine Eltern haben, wie viel sie verdienen und welche Sprache in der Familie gesprochen wird? In erster Linie bedeutet dies die Verpflichtung, Rahmenbedingungen bereitzustellen, welche die Rechte jedes Kindes – auch und insbesondere desjenigen aus benachteiligten Familien – auf Wohlergehen und Bildung garantieren. FBBE kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Sie ist deshalb eine demokratische Verpflichtung, die auf drei miteinander eng verwobenen Ebenen zum Ausdruck kommt: auf der gesamtgesellschaftlichen, der organisatorischen und der praxisbezogenen Ebene.

• Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene ist die Aufgabe von FBBE dreigeteilt: Erstens geht es darum, herkunftsbedingte Chancenungleichheit auszumerzen und damit das verfassungsmäßig verbriefte Recht aller Menschen auf Gleichbehandlung konsequent zu realisieren. Zweitens hat sie den Auftrag, in volkswirtschaftlicher Hinsicht in das Aufwachsen junger Kinder zu investieren. Dass sich solche Investitionen in den Vorschulbereich aufgrund ihrer hohen Bildungsrendite lohnen, ist eine vielfach belegte Tatsache (Stamm et al., 2009; Burger, 2010). Die dritte gesamtgesellschaftliche Aufgabe liegt in der breiten, allen Sozialschichten zugänglichen Verankerung von FBBE-Angeboten.

• Auf der Ebene der Organisationsstrukturen kommt FBBE die Aufgabe zu, unterschiedliche Betreuungs- und Bildungskonstellationen zu ermöglichen: Dazu gehören innerfamiliäre Konstellationen, Betreuungsverhältnisse durch Dritte (Verwandte, Babysitter, Au-pairs) sowie institutionalisierte Betreuungsverhältnisse (Krippen, Tageseltern etc.). Notwendig ist dabei, dass die Diskussion im Hinblick auf die optimale Form von FBBE zwar auf der Gleichberechtigung dieser Betreuungskonstellationen beruht, jedoch von entwicklungspsychologisch vorgegebenen und sozioökonomisch bedingten Besonderheiten der frühen Kindheit geleitet wird. So sind beispielsweise familienexterne Betreuungskonstellationen bei benachteiligt aufwachsenden Kindern dann besonders wichtig, wenn diese sprachliche oder soziale Defizite aufweisen, die innerfamiliär nicht behoben werden können.

 

• Die Ebene der konkreten Praxis fragt nach der praktischen Ausgestaltung von FBBE. Im Mittelpunkt stehen sowohl der Ausgleich von Bedürfnissen, die sich bei einzelnen Kindern aufgrund ihrer sozialen und kulturellen Herkunft ergeben, als auch die Förderung individueller Potenziale, Talente und Begabungen. Herzstück ist dabei die pädagogische Professionalität des Fachpersonals und die Qualität des Angebots, der Inhalte und der Prozesse. Diese «pädagogische» Qualität

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meint, dass FBBE entwicklungsadäquat ausgerichtet, kulturell angemessen und hochwertig sein soll. Auf diese Weise wird durch FBBE Chancengerechtigkeit realisierbarer.

Die Beantwortung der normativen Frage, was FBBE leisten soll, orientiert sich letztlich an ihrer Wirksamkeit. Diese ist in dreifacher Hinsicht nachgewiesen: in Bezug auf (a) den internationalen Vergleich der Bildungssysteme, (b) Modellprojekte zur frühen Förderung benachteiligter Kinder und (c) den volkswirtschaftlichen Ertrag.

• Dass FBBE Startchancengleichheit schaffen kann, wenn Bildungsprozessen bereits in den ersten Lebensjahren eine grundlegende Bedeutung beigemessen wird, zeigen verschiedene der erfolgreichsten PISA-Länder im Vergleich: Kanada oder Finnland zeichneten sich nicht nur durch die Leistungen ihrer 15-Jährigen in Lesen, Mathematik oder Naturwissenschaften aus, sondern verfügen auch über gut ausgebaute FBBE-Systeme und fördern darüber hinaus auch Kinder aus unterprivilegierten, bildungsfernen Schichten nicht nur besonders gut, sondern auch besonders kontinuierlich während der gesamten Schulzeit. Insbesondere in Kanada werden dabei FBBE-Angebote mit kognitiven Inhalten verknüpft, d. h. nicht nur mit Betreuung und Pflege, sondern auch mit intellektueller Anregung in spezifisch lernförderlich gestalteten Umgebungen.

• Dass ein solcher Weg besonders erfolgreich ist, zeigt auch die Wissenschaft auf: Der Großteil der verfügbaren Untersuchungen zu Modellprojekten belegt, dass FBBE-Angebote für benachteiligte Kinder besonders wirksam sein können. Sind sie von hoher Qualität, dann sind sie nicht nur in der Lage, die von der Bildungspolitik vielfach eingeforderte Startchancengleichheit bei Schuleintritt umzusetzen, sondern auch einen Beitrag zum späteren Schulerfolg dieser Kinder zu leisten. Denn sie brauchen weniger sonderpädagogische Stützmaßnahmen, müssen seltener Klassen wiederholen und zeigen später auch weniger abweichendes und delinquentes Verhalten (vgl. Burger, 2010, sowie Kapitel 10).

In volkswirtschaftlicher Perspektive wird in vielen Studien nachgewiesen, dass frühe Bildungsförderung genau an der richtigen Stelle ansetzt: Gemäß Cunha und Heckman (2007) sind die ökonomischen Effekte enorm, wenn man Kinder, insbesondere benachteiligte, sehr früh fördert. Unterstützt man sie hingegen erst im Jugendalter, dann sind die Effekte minimal. Eine umfassende Investition in den Frühbereich vermag somit nicht nur Chancenungleichheit bestmöglich auszubalancieren, sondern auch Humankapital durch mehr Wachstum zu fördern (vgl. Kapitel 10).

Zusammenfassend lässt sich aus diesen Befunden folgern, dass mit einem gut ausgebauten FBBE-System das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft jährlich |23◄ ►24| bedeutsam gesteigert, das Ausmaß von Bildungsarmut und Kinderarmut hingegen gesenkt werden kann. Um dieses Ziel zu erreichen, sind jedoch ein Ausbau der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine bessere Qualität frühkindlicher Förderung durch eine Höherqualifizierung des Fachpersonals sowie eine Finanzierung erforderlich, die sich stärker an bildungsökonomischen Leitlinien orientiert. Auf diese Weise kann eine qualitativ hochstehende FBBE die Grundlage für das in einer Wissensgesellschaft wesentliche lebenslange Lernen schaffen. Dieses wiederum fördert die soziale, emotionale, physische, sprachliche und kognitive Entwicklung.

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2 Internationale Entwicklung

2.1 FBBE-Systeme

Dass ein Staat frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung als öffentliches Gut betrachten, sie systematisch ausbauen und qualitativ verbessern soll, ist heute international anerkannt. Doch wie sieht es in der Praxis tatsächlich aus? Ein Blick in die bildungs- und sozialpolitischen Agenden zu den Ausgaben für den Vorschulbereich zeigt beispielsweise, dass die Schweiz aktuell höchstens Mittelmaß ist und dass dies im Wesentlichen auch für Österreich, weniger jedoch für Deutschland, gilt. In Ländern wie England, Frankreich, den USA, Holland oder Skandinavien hat Frühförderung in Bildungs- und Sozialpolitik wie auch in der Forschung Tradition, und auch in Deutschland ist sie in den letzten Jahren zu einem Topthema geworden. Große Firmen wie McKinsey («McKinsey bildet: Frühkindliche Bildung») und Stiftungen wie die Naumann-Stiftung («Frühkindliche Bildung – Grundlage einer zukunftsfähigen Gesellschaft») oder die Bertelsmann-Stiftung («Kinder-früher-fördern»), aber auch deutsche Arbeitgeber verbände («Bessere Bildungschancen durch frühere Förderung») zeigen sowohl in finanzieller als auch in ideeller Hinsicht ein großes Engagement. Auch in der Schweiz engagieren sich Stiftungen zunehmend für die frühkindliche Bildung – beispielsweise im Rahmen der Grundlagenstudie «Frühkindliche Bildung in der Schweiz», die im Auftrag der UNESCO-Kommission durchgeführt worden war (Stamm et al., 2009), währenddem sich Engagements von Betrieben bislang eher in Grenzen halten.

2.1.1 Begrifflichkeiten als Abbilder der unterschiedlichen FBBE-Systeme

Bereits in der Einleitung wurde festgehalten, dass international unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet werden, wenn von frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung die Rede ist. Tabelle 2.1 präsentiert eine aktuelle Übersicht. Dabei ist zu beachten, dass die Bezeichnungen variieren und oft englischsprachige Begriffe wie childcare, daycare oder early education ohne Übersetzung in die Landessprache in internationalen Untersuchungen zu finden sind. Die Bezeichnungen sprechen sowohl von Bildung und Lernen als auch nur von Betreuung. Zum Beispiel verwendet Österreich noch weitestgehend den Begriff der «Kinderbetreuung». Es sind jedoch Diskussionen im Gang, vermehrt auf frühkindliche Bildung zu setzen (www.bildungsserver.de). |25◄ ►26|


SchweizFBBE
DeutschlandFBBE; Bildung und Erziehung in Kindertagesbetreuung, frühkindliche Bildung
Krippen, Kindertagespflege etc. (0 – 3 Jahre)
Kindergarten mit einem Vorschuljahr (3 – 6 Jahre)
ÖsterreichKinderbetreuung
Kindertagesstätten, Krippen, Tagesmütter (0 – 3 Jahre)
Kindergarten (3 – 6 Jahre)
FrankreichL’éducation préscolaire
école maternelle (2 – 6 Jahre)
cycle des apprentissages premiers (die ersten drei Jahre)
cycle des apprentissages fondamentaux (die letzten drei Jahre)
ItalienI servizi educativi per la prima infanzia
Asili nidi (0 – 3 Jahre) (Kinderkrippen)
Scuola dell’infanzia (2 – 6 Jahre) (Vorschule)
Scuola materna (3 – 6 Jahre) (Kindergarten)
FinnlandEarly Childhood Education and Care (in Finnland)
Child daycare and early childhood education am Departement für Soziales und Gesundheit (finnische Informationsseiten)
Vorschule (Esikoulu/Förskola) (1 – 7 Jahre)
DänemarkKindertagesbetreuung oder Vor- und Grundschule (Folkeskole)
Kinderkrippen (vuggestuer) (0 – 3 Jahre)
Kindergarten (børnehaver) (3 – 6/7 Jahre)
Kindergartenklasse (børnehaveklasse) (6 Jahre, als Übergang in die Schule)
SchwedenVorschulwesen (förskoleverksamhet)
Vorschule (förskola) (0 – 6 Jahre)
Familientagesheim (familjedaghem) (für alle Kinder, die weiter weg wohnen von einer förskola oder besondere Bedürfnisse haben)
Offene Vorschule (öppen förskola) (optionale Tagespflege für Kinder, deren Eltern nicht berufstätig sind und die Kinder nur teilweise abgeben möchten)
Freizeitzentren (fritidshem) (zusätzliche Betreuung, auch für Schulkinder)
GroßbritannienChildcare and Pre-School learning (0 – 5 Jahre)
Besondere Programme und Einrichtungen:
Programme wie Early Excellence Centre und Sure Start (Bildung und Betreuung sowie Unterstützung von Familien)
British Association for Early Childhood Education
Foundation stage 3 – 5 (Bildungsplan vorschulischer Bereich in Großbritannien)
(seit September 2000)

Tabelle 2.1: Internationale Bestandsaufnahme zu den Begrifflichkeiten

Dass die Diversität der Begrifflichkeiten letztlich ein Abbild der unterschiedlichen FBBE-Systeme darstellt, ist schon in Kapitel 1 angesprochen worden. Grundlage der nachfolgenden Betrachtung bilden die Ergebnisberichte Starting Strong I (2001) und II (2006). Dabei handelt es sich um eine thematische Untersuchung der OECD, die im März 1998 durch den OECD-Bildungsausschuss ins Leben gerufen worden war und an der sich zwölf Länder (Australien, Belgien [flämischer und französischsprachiger |26◄ ►27| Teil], Großbritannien, Dänemark, Finnland, Italien, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, die Tschechische Republik und die USA) beteiligten. Ziel war es dabei, länderübergreifende Analysen und Informationen über Systeme der Kindertagesbetreuung und der frühkindlichen Bildung in den einzelnen Ländern zu erhalten. In der zweiten Runde im Jahr 2004 nahmen auch Deutschland und Österreich teil, die Schweiz jedoch nicht. Ziel dieser zweiten Studie war es, den beteiligten Staaten Anregungen für die Weiterentwicklung der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung zu geben und die Erkenntnisse auf internationaler Ebene zu kommunizieren. Im Mittelpunkt der zweiten Studie standen neben dem Ländervergleich Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben sowie Schlüsselelemente für eine erfolgreiche Kindertagesstättenpolitik, Fragen zur Qualitätsentwicklung und Zukunftsaufgaben.

Tabelle 2.2 gibt einen Überblick über die verschiedenen Systeme in ausgewählten OECD-Ländern. Sie macht beispielsweise ersichtlich, dass in Großbritannien der Staat die alleinige Verantwortung für die sozial- und bildungspolitische Strategie trägt, dass in den anderen Ländern auch die Verantwortung der Regionen dazukommt und dass in Schweden die dezentralisierte Organisation bedeutsamer ist als die Verantwortung des Staates. Auch in Bezug auf die strategische Ausrichtung ist Schweden ein Sonderfall. Während in allen anderen dargestellten Ländern eine dichotome Ausrichtung sowohl auf Bildung als auch auf soziale Wohlfahrt praktiziert wird, ordnet Schweden diese der Bildungsperspektive unter. Gleiches gilt für die bedienten Altersgruppen, welche hier von null bis sechs Jahren alle Kinder umfassen, während sie in einigen anderen Ländern zweigeteilt sind (Schweiz, Deutschland, Österreich). Schweden und Großbritannien sind ferner die einzigen der ausgewählten Länder, die das Angebot auch für Neugeborene sichern, während die anderen Länder eine untere Alterslimite von drei Monaten (Frankreich, Italien), sechs Monaten (Dänemark) oder einem Jahr (Finnland) festlegen. Sowohl das Kriterium der Verfügbarkeit als auch das der Finanzierung verdeutlichen die enorme Heterogenität der adressierten Gruppen und das unterschiedliche staatliche Engagement.

 

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Tabelle 2.2: Frühkind iche Bildung und Betreung in ausgewählten OECD-Ländern

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2.1.2 Öffentliche Investitionen: Eine Ländertypologie

Das Ausmaß, in welchem sich ein Staat im FBBE-Bereich engagiert, beeinflusst die Finanzierung, den Fokus und den Status, aber auch die Prozesse frühkindlicher Bildung. Um die unterschiedlichen Modelle einzelner Staaten diskutieren zu können, schlägt Bennett (2003) ein Modell vor, das in Tabelle 2.3 dargestellt ist und drei unterschiedliche Typen zutage fördert. Es gruppiert sich um das Niveau der öffentlichen Investitionen: Länder mit hohen Investitionen in öffentliche Angebote, Länder mit mittleren Investitionen in Vorschulmodelle und Länder mit tiefen Investitionen in gemischte Modelle. Der erste Typ umfasst Länder mit einem Bruttosozialprodukt (BSP) größer 1,0 %. Dazu gehören Kanada, Italien, Skandinavien oder Neuseeland. In diesen Ländern sind Angebote sowohl als Unterstützungsleistungen für Eltern und Kinder als auch als bildungsorientierte Vorschulprogramme etabliert. Sie sind von staatlichen Mitteln getragen, und es wird keine Unterscheidung zwischen Betreuungs- und Bildungsdimensionen gemacht. Dabei handelt es sich durchgehend um Ganztagsangebote für alle Kinder. Der zweite Typ charakterisiert Länder mit einem BSP zwischen 0,5 und 1,0% und großen, flächendeckenden Bildungsangeboten für Drei-bis Vierjährige. Dazu gehören Frankreich, Großbritannien, die Niederlande oder die USA. In diesen Ländern werden Kinder üblicherweise mit vier oder fünf Jahren eingeschult. Es gibt eine deutliche politische Unterscheidung zwischen Bildungs- und Betreuungsangeboten. Dies zeigt sich darin, dass Vorschulangebote außerhalb des Schulsystems angesiedelt sind. Viele Angebote schließen eine kompensatorische Bildungsdimension ein. Am bekanntesten sind die US-amerikanischen Head-Start- und Early-Head-Start-Programme (Bowman et al., 2000). Die Mehrheit der Vorschulangebote ist als Betreuungsdienstleistung mit Fokus auf Gesundheit, Sicherheit und Fürsorge konzipiert. Ihre Finanzierung erfolgt meist auf privater Basis, die gewinnorientiert oder gemeinnützig sein kann. Der dritte Typ schließlich fasst Länder mit einem BSP kleiner 0,5% zusammen. Dazu gehören Staaten wie Österreich, Deutschland, die Schweiz, Irland oder Korea. Sie betonen vor allem den freien Markt und erachten als ihr erstes Ziel, die soziale Verantwortung zurückhaltend, bedürfnisorientiert und selektiv zu gestalten. Bildung und Betreuung junger Kinder liegt deshalb in der privaten Verantwortlichkeit der Eltern und gilt als Dienstleistung für arbeitende Mütter und Väter. Entsprechend niedrig sind die öffentlichen Interventionen. Ihre Familienpolitik ist vorwiegend auf arme und risikobehaftete Familien/Kinder ausgerichtet.

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Tabelle 2.3: Paradigmen vorschulischer Betreuungs- und Bildungsinvestitionen (nach Bennett, 2003)

Ungeachtet dieser Typologien haben die gesellschaftlichen Veränderungen, die zunehmend diverse Bevölkerung sowie der Wandel der familiären Bedingungen und ihrer Strukturen zu sozialpolitischen Grundsatzdiskussionen über das Angebot frühkindlicher Bildungs- und Betreuungsleistungen des Staates geführt. Einer der Gründe liegt darin, dass die in den letzten Jahren stark gestiegene Nachfrage nach außerhäuslichen Betreuungsplätzen die großen Schwierigkeiten der Familien ersichtlich gemacht hat, Berufs- und Familienarbeit auszubalancieren. Aufgrund der Notwendigkeit, dass vielfach beide Elternteile verdienen müssen, ist diese Praxis zu einem regulären Familienmuster geworden. Eine Folge davon ist, dass die historische Position der Frauen als Familien- und Haushaltbetreuerinnen und die Tradition vieler Staaten, Kinderbetreuung als private Familienangelegenheit zu betrachten, zunehmend hinterfragt wird. Die Vernachlässigung des frühkindlichen Bereichs hat dazu geführt, dass zu wenig Angebote zur Verfügung stehen, Familien in der Folge nur limitierte und kostenintensive Auswahlmöglichkeiten haben und sie ihre Kinder notgedrungen auch in Angeboten variabler Qualität platzieren müssen, in denen eine entwicklungsangemessene Unterstützung und Förderung nicht immer gewährleistet ist. Diese Problematik wird zu einem virulenten Dilemma. Einerseits ergibt es sich aus dem zunehmenden Druck zu finanziellen Kürzungen, andererseits aus der gewachsenen Erkenntnis, dass die frühkindliche Bildung und Betreuung ein wichtiges Fundament des Gesellschafts-und Bildungssystems darstellt, seine Wirksamkeit jedoch nur entfalten kann, wenn es qualitativ hochstehend ist. Hohe Qualität ist jedoch mit höheren als bisher üblichen Kosten verbunden.

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2.1.3 Schulvorbereitendes versus sozialorientiertes Paradigma

Die in Tabelle 2.2 dargestellten Merkmale der einzelnen Länder stehen auch für unterschiedliche Paradigmen. Das eine Paradigma fokussiert auf schulvorbereitende Wissens- und Kompetenzbereiche wie Sprachförderung (literacy) und Zahlenverständnis (numeracy). Diesem Paradigma liegt ein Verständnis von Bildung als Ressource für die Erzeugung von Humankapital, zur Aufrechterhaltung von Wettbewerbsfähigkeit und Funktionstüchtigkeit zugrunde. Das andere Paradigma betont die Entwicklung des Kindes als ein in verschiedenen Domänen lernendes Individuum. Es warnt ausdrücklich vor einer zu frühen Konfrontation mit akademischen Lehrinhalten und betont den Wert des Spiels und sämtlicher vom Kind selbst ausgehenden kulturell geprägten Aktivitäten. Während das erste Paradigma auf einem instrumentellen Bildungsverständnis beruht, das Bildung auf Wissen und Schulvorbereitung fokussiert und beispielsweise in Frankreich, Großbritannien oder etwa in der französischsprachigen Schweiz zur Anwendung gelangt, basiert das zweite Paradigma auf einem subjektiv-konstruktivistischen Persönlichkeitsverständnis, das in der Tradition der fröbelschen Bildungsidee respektive der Reggio-Pädagogik liegt und die Sozialisation, Selbstbildung sowie Autonomie des Individuums und damit die Abgrenzung von der Schule betont. Dieses Paradigma ist in der deutschsprachigen Schweiz, in Österreich, Deutschland, Italien, Schweden oder Dänemark grundlegend.

Obwohl sich die Schwerpunkte der Vorschulprogrammatik und das Verständnis von Bildungs- und Betreuungsprozessen in den einzelnen Ländern dem vorherrschenden Paradigma entsprechend unterscheiden, lassen sich zwei allgemeine Tendenzen festhalten: Erstens ergeben sich sozusagen in allen Ländern Probleme im Übergangsbereich Vorschule – Primarschule, denen man auf unterschiedliche Art und Weise entgegenzutreten versucht. So ist in Irland bereits im 19. Jahrhundert die Integration der Vorschule in den Primarbereich erfolgt, in den Niederlanden ist dies seit 1985 der Fall. Verschiedene Länder haben in den letzten Jahren auch Bildungspläne für die frühe Kindheit entwickelt, so Neuseeland 1996, Schweden 1998 und England 2000 sowie in jüngster Zeit auch Deutschland. Zweitens wird in vielen Ländern versucht, die Sozialisations- und Bildungsfunktion zu kombinieren. Diejenigen Länder, die traditionell eher auf kognitive Bildung ausgerichtet sind, bemühen sich verstärkt um eine Annäherung an soziale Bildungsziele, während Länder wie die Schweiz oder Deutschland die soziale Funktion besonders betonen, sich jedoch mit neuen Schuleingangsmodellen vermehrt um die Förderung der intellektuellen Entwicklung bemühen (OECD, 2006, S. 33) und sich dabei an einem dynamischen Lern- und Leistungsbegriff orientieren.

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2.2 FBBE-Forschung

2.2.1 Historischer Rückblick

Die FBBE-Praxis hat eine lange Tradition. In den USA umfasst sie seit der Einführung der infant schools, der nursery schools oder der day care centers mehr als 150 Jahre. Ähnliches gilt für den deutschsprachigen Raum: Der erste Kindergarten ist von Fröbel im Jahr 1840 eingeführt worden, die erste Kinderkrippe bereits 1802 von Fürstin Pauline von Lippe. Die FBBE-Forschung jedoch hat eine deutlich kürzere Geschichte. Sie lässt sich in vier Wellen einteilen.

• Bis in die 1960er-Jahre fokussierte die einzige, meist angloamerikanische Forschung zu jungen Kindern ausschließlich auf die Entwicklungspsychologie. Vor allem die Reifungstheorie von Arnold Gesell blieb die akzeptierte entwicklungspsychologische Theorie. Sie postulierte, dass die meisten menschlichen Eigenschaften vorwiegend genetisch determiniert seien und deshalb bereits bei der Geburt festgesetzt seien. Deshalb würde feststehen, dass eine durch Reifungsmechanismen bestimmte Entwicklung in ihrer reinen Form unabhängig von Förderung und Unterricht verlaufe und die Intelligenz eines Menschen nicht verbessert oder modifiziert werden könne. Dementsprechend galt der Kindergarten als Ort, an dem die Kinder betreut werden sollten, damit sie ihre Sozialkompetenz entwickeln konnten. Die Bildung jedoch blieb der Grundschule vorbehalten.