Epistolare Narrationen

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Z serii: Classica Monacensia #55
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Der dritte und letzte Akt dieses epistolaren Dramuletts handelt von der Verwicklung des Licinianus in den Fall (11‒14): Wurde am Beginn des Briefes suggeriert, dass er selbst für die Entehrung der Vestalin verantwortlich war (4: incesti scelere macularit), so stellt sich nun heraus, dass ihm nur vorgeworfen wurde, eine Freigelassene der Cornelia auf seinem Landgut versteckt zu haben (11).43 Mit der Verurteilung der Vestalin hatte Domitian sich den üblen Ruf der Grausamkeit und Ungerechtigkeit zugezogen,44 und die Anwälte des Licinianus rieten diesem, zu einem Geständnis Zuflucht zu nehmen, um der Auspeitschung auf dem Comitium zu entgehen. Licinianus befolgte diesen Rat (11: fecit) und wurde in seiner Abwesenheit vor dem Kaiser von niemandem geringeren als Herennius Senecio45 vertreten, der vom Geständnis seines Mandanten mit Worten im Sinne des homerischen κεῖται Πάτροκλος berichtet haben soll (12): ait enim: ‘ex advocato nuntius factus sum; Licinianus recessit.’ Durch das Homer-ZitatHomerIl. 18.20 wird Senecio indirekt mit Antilochos verglichen, der Achill im 18. Gesang der Ilias die Nachricht vom Tod des Patroklos überbringt,46 wobei die lateinische Junktur Licinianus recessit die berühmten Worte aus dem Epos in chiastischer Folge imitiert.47 Nach Senecio kommt auch dessen evil counterpart Domitian in direkter Rede zu Wort, wenn er sich selbst in seiner Freude über das Geständnis des Licinianus verrät und sagt absolvit nos Licinianus (13). Dies ist die einzige Stelle im Briefkorpus, wo wir DomitianPlinius der JüngereEpist. 4.11 sprechen hören – seine weitere Rede, in der der Kaiser den Angeklagten mit einer milden Verbannung sozusagen „belohnte“ (13: exsiliumque molle velut praemium dedit), gibt Plinius in oratio obliqua wieder (13: adiecit etiam non esse verecundiae eius instandum…). Senecio und Domitian sind somit die Hauptprotagonisten des dritten Aktes, in dem Licinianus als Figur abseits der Bühne erscheint. Angesichts des weiteren Schicksals des Senecio, über das der Leser der Briefsammlung an diesem Punkt bereits Bescheid weiß,48 gewinnt diese Szene einiges an dramatischer Spannung.49 Die Narration über den Inzest-Skandal endet mit einem kurzen Hinweis auf die clementia Nervas, durch die Licinianus später nach Sizilien gebracht wurde, wo er nun als Redelehrer tätig sei und sich in seinen praefationes am Schicksal räche (14: ubi nunc profitetur seque de fortuna praefationibus vindicat). Mit nunc ist die Brücke zum Beginn des Briefes geschlagen, wo Plinius seinem Adressaten aktuellen „Klatsch“ zu berichten vorgibt, den er anschließend im Rahmen einer Analepse zu einer dramatischen Mini-Historie ausweitet.

Die Version des Plinius über die Verurteilung der Vestalin CorneliaPlinius der JüngereEpist. 4.11 unterscheidet sich auffällig von derjenigen Suetons, die wir in der Domitian-Vita lesen. SuetonSuetonDom. 8 berichtet von dem Vorfall im Kontext der Darstellung von Domitians juristischen Maßnahmen, die noch in den Abschnitt vor der Veränderung des Prinzeps zum grausamen Tyrannen gehören (8,1: ius diligenter et industrie dixit).50 Sueton, der von Cornelias Fall im für ihn typischen Protokollstil berichtet, liefert uns ein wichtiges Detail, das Plinius in seiner Version verschweigt, nämlich dass Cornelia in einem früheren Prozess schon einmal wegen incestum angeklagt und freigesprochen worden war, viele Jahre später jedoch erneut belangt und verurteilt wurde.51 Im Unterschied zu Sueton ist Plinius überhaupt nicht daran interessiert, die Rolle des Kaisers in irgendeiner Form positiv oder zumindest neutral zu beleuchten, sondern spitzt die Handlung auf einen Punkt – den zweiten Prozess – zu und lässt Domitian in seinem Brief als Musterexemplar des grausamen Tyrannen auftreten, komponiert gleichsam eine fabula praetexta in Prosa. Anders als Sueton, der Licinianus nicht namentlich erwähnt, sondern nur von einem vir praetorius spricht, und auch die Personen des eques Romanus Celer und des Anwalts Herennius Senecio nicht näher identifiziert, greift Plinius diese Charaktere heraus52 und funktionalisiert den einen als Gegenstand des Gesprächs mit dem Adressaten Minicianus, die anderen beiden als handelnde bzw. sprechende Figuren im epistolaren Domitian-Drama.

Nachdem Minicianus, der Adressat des Briefes, durch eine Zwischenbemerkung die Narration über den Cornelia-Fall motiviert hat (4), danach jedoch aus der Erzählung ausgeblendet worden ist, wird er am Schluss wieder integriert und von Plinius direkt angesprochen (15): vides, quam obsequenter paream tibi, qui non solum res urbanas, verum etiam peregrinas tam sedulo scribo, ut altius repetam. Bereits in Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9.27 wurde Minicianus als jemand charakterisiert, der sich neugierig nach den Ereignissen in Rom erkundigt (27), und in Epist. 4,11 führt Plinius diese Charakterisierung weiter, indem er nun neben den res urbanae auch res peregrinae liefert und dabei sogar weiter ausholt, wie die narrative Analepse in Epist. 4,11Plinius der JüngereEpist. 4.11 verdeutlicht. Plinius war davon ausgegangen, dass sein Adressat aufgrund seiner damaligen Abwesenheit (15: quia tunc afuisti) nur von der Verbannung des Licinianus ob incestum gehört habe, das heißt nur über Hörensagen, das ja nur den Ausgang des Geschehens, nicht aber seinen Hergang berichte (15: summam enim rerum nuntiat fama, non ordinem). Diese Aussage wirft die Frage auf, inwieweit Plinius, der seinem Freund von dem Geschehen erzählt, selbst als Augenzeuge daran beteiligt war – der Fall wurde ja außerhalb Roms in Domitians Villa Albana verhandelt und spielt dann im subterraneum, lediglich Celer wird öffentlich ausgepeitscht. Da Plinius in seiner Narration die Person des Herennius Senecio herausstreicht, den er an anderer Stelle als Freund und Kollegen charakterisiert,53 lässt sich vermuten, dass dieser als Verteidiger des Licinianus die Quelle für Plinius ist. Oder gehörte etwa Plinius selbst, der mit Senecio zusammen auch gegen Baebius Massa auftrat,54 zu den Anwälten des Licinianus (4,11,11: quibus erat curae)? Während der Epistolograph in anderen Narrationen durchaus deutlich macht, ob er eine Geschichte selbst miterlebt oder aus anderer Quelle erfahren hat,55 fehlen solche Anhaltspunkte in Epist. 4,11. Auffällig ist auch der Hinweis auf den Hergang einer Geschichte (ordo), den ein Gerücht angeblich nicht beibehalte. Die Frage der Reihenfolge in einer Narration wurde auch in der ebenfalls an Minicianus gerichteten Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 aufgeworfen, wo Plinius das Problem nicht nur mit Verweis auf Homer thematisiert, sondern auch mit dem Kunstgriff des Hysteron-Proteron spielt, indem er gleich zweimal Informationen nachträgt, die chronologisch an einem früheren Punkt der Erzählung hätten geliefert werden müssen. Auch in Epist. 4,11Plinius der JüngereEpist. 4.11 ist die chronologische Ordnung verkehrt, indem Plinius den Brief mit den jüngsten Ereignissen beginnt und erst danach die Vorgeschichte erzählt. Der Vergleich mit Sueton hat zudem gezeigt, dass auch Plinius den ordo rerum keineswegs so verlässlich nachzeichnet, wie er behauptet, da er die erste Verhandlung, in die Cornelia involviert war, überhaupt nicht erwähnt. So gesehen ist auch seine Version eher eine auf bestimmte Aspekte zugespitzte summa rerum und kein historisch akkurater Bericht.Plinius der JüngereEpist. 4.11

Es zeigt sich, dass Minicianus in den Briefen 3,9 und 4,11 als epistolares Du erscheint, mit dem Fragen diskutiert werden, die in der modernen Narratologie den Kategorien der Reihenfolge und Dauer bzw. Erzählzeit entsprechen;56 zudem hat Minicianus als Interlokutor auch einen direkten Einfluss auf die Gestaltung der jeweiligen Narration, die als Teil eines epistolaren Dialogs präsentiert wird. So wünscht sich Plinius am Ende der Epist. 4,11 auch eine Gegenleistung für seinen Bericht und fordert Minicianus dazu auf, seinerseits Neuigkeiten aus seinem oppidum und dessen Umgebung zu schreiben (16: mereor, ut vicissim, quid in oppido tuo, quid in finitimis agatur – solent enim quaedam notabilia incidere –, perscribas). Wo dieses oppidum liegt, erfahren wir hier noch nicht – erst aus Epist. 7,22Plinius der JüngereEpist. 7.22 geht hervor, dass es sich um die Heimatregion des Plinius handelt (2: regionis meae). Falls sich dort gerade nichts Bemerkenswertes ereignet, soll Minicianus wenigstens einen auf Zeile und Silbe gleich langen Brief über ein beliebiges Thema verfassen (4,11,16).

War Cornelius Minicianus in Epist. 7,22 selbst Gegenstand eines Charakterporträts, so erhält er mit Epist. 8,12Plinius der JüngereEpist. 8.12 einen Brief, in dem Plinius den Literaten Titinius Capito porträtiert.57 Auf den ersten Blick unterscheidet sich dieses Schreiben insbesondere formal von den Briefen 3,9 und 4,11, doch bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass hier wie dort das Thema Erzählen eine wichtige Rolle spielt. Plinius beginnt den Brief 8,12 mit der Ankündigung, dass er sich „nur für diesen Tag“ entschuldige, um die Rezitation des Titinius Capito zu besuchen (1: hunc solum diem excuso); warum sich Plinius gegenüber Minicianus zu entschuldigen hat, bleibt offen. Der Epistolograph fügt hinzu, dass er den Vortrag Capitos sowohl besuchen muss als auch will (1: quem ego audire nescio magis debeam an cupiam), und fährt dann fort mit einem Lob auf diesen Mann, der die Studien liebt, pflegt und fördert (1), sein eigenes Haus für Rezitationen zur Verfügung stellt und selbst eifrig die Vorlesungen anderer besucht, zu denen auch Plinius gehört (2: mihi certe, si modo in urbe, defuit numquam). Plinius sei deshalb dazu verpflichtet, zu Capitos Rezitation zu gehen, und tue dies auch gerne (3‒4), sowohl wegen Capitos literarischem Talent als auch des von ihm gewählten Stoffes: exitus inlustrium virorum (4).58 Zu diesen viri illustres, deren Lebensende CapitoPlinius der JüngereEpist. 8.12 beschreibe, gehören auch einige, die von Plinius sehr geschätzt wurden (4: in his quorundam mihi carissimorum), wobei wir keine konkreten Namen erfahren. Der Besuch der Rezitation ersetze für Plinius die Teilnahme an den Begräbnissen der Männer, gleiche sozusagen der Erfüllung einer frommen Pflicht, (5: fungi pio munere) und schaffe die Möglichkeit, zwar verspäteten, aber umso aufrichtigeren laudationes funebres beizuwohnen (5: seris quidem, sed tanto magis veris).

 

Dieser Akt der Pietät entspricht demjenigen, was wir in Epist. 1,17Plinius der JüngereEpist. 1.17 über Titinius Capito erfahren, wo Plinius diesen Mann ebenfalls porträtiert59 – als Adressat dieses Briefes findet sich in den modernen Editionen ein ansonsten unbekannter Cornelius Titianus.60 Über Titinius Capito schreibt Plinius in Epist. 1,17, dass er ein Musterbeispiel sei für jemanden, der sich Verstorbenen gegenüber pflichtbewußt verhält, da es ihm gelungen sei, vom Kaiser eine Genehmigung für die Errichtung eines Standbildes des L. Silanus, eines der Opfer Neros, auf dem Forum zu erwirken (1).61 Überhaupt sei es ein besonderer Wesenszug Capitos, berühmte Männer zu verehren (2: est omnino Capitoni in usu claros viros colere), was auch darin zum Ausdruck komme, dass er bei sich zu Hause die Standbilder eines Brutus, Cassius und Cato in Ehren halte (3) und dem Leben eines jeden berühmten Mannes hervorragende Gedichte widme (3: idem clarissimi cuiusque vitam egregiis carminibus exornat). Durch sein löbliches Verhalten sorge Capito nicht nur für die Unsterblichkeit von Männern wie Silanus, sondern auch für seine eigene (4).

Capitos Würdigungen von viri illustres durch Standbilder und literarische Werke entsprechen die Plinius-Briefe 1,17 und 8,12, in denen Capito,Plinius der JüngereEpist. 8.12 freilich als noch lebender Zeitgenosse, selbst den Gegenstand einer Huldigung bildet.62 Es dürfte kein Zufall sein, dass die beiden Briefe, in denen das literarische Wirken und historische Pflichtbewusstsein Capitos gepriesen werden, einen Brief rahmen, in dem Capito die Rolle des Adressaten übernimmt und uns noch dazu als jemand begegnet, der Plinius zum Verfassen einer Historie rät (Epist. 5,8,1Plinius der JüngereEpist. 5.8: suades, ut historiam scribam). Wie schon in anderem Zusammenhang erörtert wurde, liefert Plinius hier u.a. eine Synkrisis der narrativen Techniken in Historiographie und Redekunst und bittet Capito, sich über einen geeigneten Stoff für ein Geschichtswerk Gedanken zu machen.63 Indem Plinius seinen Adressaten in Epist. 1,17Plinius der JüngereEpist. 1.17 schon vorab charakterisiert hat und dies in Epist. 8,12 wiederholt, suggeriert er, dass diese Aufforderung aus besonders berufenem Mund erfolgt. Im Brief 8,12 überschneidet sich die Minicianus-Serie mit der Capito-Serie, beide Figuren tauchen im Briefkorpus sowohl als Adressaten als auch handelnde Figuren bzw. Gegenstand kürzerer Charakterporträts auf. Zudem spielen in beiden Zyklen die Themen des Erzählens und der historischen Erinnerung eine wichtige Rolle und werden in den einzelnen Briefen aus unterschiedlicher Perspektive und mit unterschiedlicher Beteiligung der Adressaten reflektiert.Plinius der JüngereEpist. 8.12

Nach den hier angestellten Überlegungen zu den narratologischen Aspekten wie Stimme, Zeit, Raum und Figurenarsenal sollen im nächsten Abschnitt einzelne Briefe, Briefpaare und Briefzyklen interpretiert und ihre Narrativität näher untersucht werden. Es werden in weiterer Folge vier Themenfelder herausgegriffen, die für die Selbstdarstellung des Plinius zentral sind: Den Beginn macht ein Kapitel über die im Briefkorpus häufig zu findenden Berichte über Prozesse vor dem Senat und Zentumviralgericht, in denen Plinius zumeist selbst die Hauptrolle spielt und uns als Erzähler der Briefe seine rhetorischen Fertigkeiten als handelnde Figur am Schauplatz Gericht vor Augen führt (II.1). Es folgt ein Kapitel über Briefpaare, in denen verschiedene Formen von Schriftlichkeit diskutiert werden und zugleich das Standesbewusstsein des Plinius als Senator zum Ausdruck kommt (II.2). Plinius’ Aktivitäten im otium stehen wiederum in Kapitel II.3 und II.4 im Vordergrund, wenn der Epistolograph seine Biographie als Dichter von Kleinpoesie konstruiert und sich als Perieget, Naturbeobachter und Paradoxograph präsentiert.

II Narrative Strategien

1 Narrationen über rhetorische Performanz am Schauplatz Gericht
1.1 Gerichtsverhandlungen unter Domitian in Buch 1

Das erste Mal begegnet uns Plinius vor Gericht1 in Epist. 1,5Plinius der JüngereEpist. 1.5 an Voconius Romanus2, wo er mit M. Aquilius Regulus3 abrechnet, den er als berüchtigten Delator unter Nero und als Günstling Domitians charakterisiert.4 Hatte Regulus unter Nero und Domitian noch alle möglichen Schandtaten verübt, so zeigt er sich nach dem Tod des letzten Flaviers als ängstlich und feige, ja insbesondere fürchtet er sich vor Plinius’ Zorn, wie es heißt (1: coepit vereri, ne sibi irascerer; nec fallebatur, irascebar).5 Während der Regierungszeit Domitians setzte Regulus insbesondere Arulenus Rusticus und Herennius Senecio6 hart zu (2–3). Zu diesen Opfern des Domitian-Regimes hätte beinahe auch Plinius selbst gehört, wie uns der folgende Abschnitt suggeriert (4‒8):

Praeterea reminiscebatur, quam capitaliter ipsum me apud centumviros lacessisset. aderam Arrionillae Timonis uxori, rogatu Aruleni Rustici; Regulus contra. nitebamur nos in parte causae sententia Metti Modesti optimi viri: is tunc in exsilio erat, a Domitiano relegatus. ecce tibi Regulus ‘Quaero’, inquit, ‘Secunde, quid de Modesto sentias.’ vides quod periculum, si respondissem ‘bene’; quod flagitium si ‘male’. non possum dicere aliud tunc mihi quam deos adfuisse. ‘respondebo’ inquam ‘si de hoc centumviri iudicaturi sunt.’ rursus ille: ‘quaero, quid de Modesto sentias.’ iterum ego: ‘solebant testes in reos, non in damnatos interrogari.’ tertio ille: ‘non iam quid de Modesto, sed quid de pietate Modesti sentias quaero’. ‘quaeris’ inquam ‘quid sentiam; at ego ne interrogare quidem fas puto, de quo pronuntiatum est.’ conticuit; me laus et gratulatio secuta est, quod nec famam meam aliquo responso utili fortasse, inhonesto tamen laeseram, nec me laqueis tam insidiosae interrogationis involveram. nunc ergo conscientia exterritus adprehendit Caecilium Celerem, mox Fabium Iustum; rogat ut me sibi reconcilient…

Von der Gegenwart des an Voconius Romanus geschriebenen Briefes post Domitiani mortem7 (1‒4a) richtet Plinius den Blick zurück auf die Herrschaftszeit Domitians (4b‒7); der Verlauf der hier geschilderten Handlung gleicht in seiner Struktur8 und aufgrund der vielen direkten Reden einem Drama in nuce. Durch die Formulierung reminiscebatur quam capitaliter ipsum me…lacessisset wird der Leser schon in einer Art Prolepse auf das Folgende eingestimmt.9 Zunächst schildert PliniusPlinius der JüngereEpist. 1.5 die Ausgangssituation im betreffenden Prozess (5: aderam…relegatus) ‒ auf Bitte des Arulenus Rusticus vertrat Plinius die Arrionilla10 ‒ und leitet dann mit ecce (5) zum direkten Wortwechsel mit Regulus über, in dem sich Frage und Antwort dreimal wiederholen (5‒7: ecce tibi Regulus…rursus ille…tertio ille).11 Plinius hebt das periculum hervor, dem er durch die Frage seines Kontrahenten über den verbannten Mettius Modestus12 ausgesetzt war (5), und zieht dadurch eine Parallele zwischen sich selbst und dem zuvor genannten Arulenus Rusticus (2: Rustici Aruleni periculum foverat).13 Zweifellos stellt die schlagfertige Antwort des Plinius auf die dritte Frage seines Gegners die Klimax der Episode dar, da Regulus nun zum Verstummen gebracht wurde (7: conticuit). Plinius hat den Spieß umgedreht und seinerseits die Loyalität des Regulus gegenüber dem Kaiser angezweifelt.14 Indem Plinius in dieser „Paradeepistel“15 seine altercatio mit Regulus im Zentumviralgericht so anschaulich wiedergibt, dürfte er Ciceros Brief 1,16CiceroAtt. 1.16 an Atticus imitieren,16 wo wir im Zusammenhang mit dem Bona-Dea-Skandal vom verbalen Schlagabtausch Ciceros mit Clodius während einer Senatssitzung lesen (10).17 Wie Plinius gelingt es auch Cicero, seinen Gegner durch seine Schlagfertigkeit verstummen zu lassen (Att. 1,16,10: magnis clamoribus adflictus conticuit et concidit), und der Leser ist somit animiert, Regulus mit Ciceros Erzfeind Clodius zu assoziieren. Plinius lässt die Gerichts-Episode mit einer conclusio enden, in der wir von den positiven Reaktionen der Zuhörer erfahren (7: me laus et gratulatio secuta est, quod nec…involveram),18 schließt die Rückblende in die Zeit des letzten Flaviers ab und kehrt mit nunc (8) wieder in die Gegenwart zurück, in der sich Regulus angeblich vor Plinius’ Zorn fürchtet. So handelt dann auch der Rest des BriefesPlinius der JüngereEpist. 1.5 von weiteren Versuchen des Regulus, Plinius zu besänftigen (8‒14), der jedoch die Rückkehr des Iunius Mauricus aus der Verbannung abwarten will, um über seine Vorgangsweise gegen Regulus zu entscheiden (10; 15‒16).19 Wenngleich der Epistolograph im restlichen „Regulus-Zyklus“ der Briefsammlung20 mehrmals verschiedene negative Charaktereigenschaften seines Kontrahenten hervorhebt, ist in keinem der betreffenden Briefe von einer Anklage durch Plinius die Rede. Dass womöglich zu wenig Belastendes gegen Regulus vorlag, blendet Plinius gekonnt aus;21 stattdessen dient der Brief an Voconius Romanus dazu, am Anfang der Sammlung Plinius als positives Kontrastbild zu Figuren wie Regulus zu stilisieren.Plinius der JüngereEpist. 1.5

Die erste Szene vor Gericht in der Briefsammlung führt uns also in die Herrschaftszeit Domitians zurück und ist zudem äußerst anschaulich gestaltet, der Leser wird gleichsam zum Zuschauer der Auseinandersetzung zwischen Plinius und RegulusPlinius der JüngereEpist. 1.5 – diesen Kunstgriff der enargeia thematisiert der Epistolograph in anderen Prozessbeschreibungen sogar explizit, wie wir später noch sehen werden.22 Was die restlichen in Buch 1 geschilderten Szenen vor Gericht betrifft, fällt auf, dass sie mehrheitlich in der Regierungszeit Domitians zu verorten sind, bevor wir dann in Buch 2 von aufsehenerregenden Verhandlungen unter Kaiser Trajan lesen.

In der an Octavius Rufus23 gerichteten EpistelPlinius der JüngereEpist. 1.7 1,724 befindet sich Plinius, anders als in 1,5, außerhalb Roms (4: me circa idus Octobris spero Romae futurum) und erklärt seinem Adressaten, dass er die Entscheidungsfreiheit habe, die Provinz Baetica in einem nicht näher beschriebenen Prozess contra unum hominem (2) weder zu vertreten noch anzuklagen.25 Der Brief eröffnet den Zyklus über verschiedene Repetundenprozesse, der sich über die Bücher 1‒7 erstreckt26 und in den folgenden Kapiteln noch näher analysiert werden soll. Seine Weigerung, gegen die Provinz Baetica aufzutreten, rechtfertigt Plinius damit, dass er sich die Provinz durch frühere Dienste verpflichtet habe (2): provinciam, quam tot officiis, tot laboribus, tot etiam periculis meis aliquando devinxerim. Besonders das dritte Glied innerhalb dieser tot-Anapher dürfte den Leser, der auch mit Epist. 1,5Plinius der JüngereEpist. 1.5 vertraut ist, aufhorchen lassen: Als pericula waren in 1,5 die Gefahren, denen man sich unter dem Domitian-Regime als Vertreter der stoischen Opposition ausgesetzt sah, bezeichnet worden;27 eine lineare Lektüre des Briefkorpus macht deutlich, dass hier abermals auf die Herrschaftszeit Domitians angespielt wird. Wann genau und unter welchen Umständen sich Plinius für die Provinz Baetica eingesetzt hat, ist in 1,7,2 durch aliquando wohl mit Absicht nur vage angedeutet; in dem an Tacitus gerichteten Brief 7,33Plinius der JüngereEpist. 7.33 wird das Geschehen dann zeitlich konkreter verortet:28 Dort lesen wir von Plinius’ heldenhaftem Auftreten zusammen mit Herennius Senecio, durch das die Interessen der Provinz Baetica im Repetundenprozess29 gegen den Statthalter und Domitian-Günstling Baebius Massa im Jahr 93 n. Chr. vertreten werden sollten30 – ein Ereignis, von dem Plinius sich wünscht, Tacitus möge es in seine Historien aufnehmen (7,33,1: illis…inseri cupio).

Octavius Rufus, der Adressat von 1,7, ist ähnlich wie TacitusPlinius der JüngereEpist. 1.7 Schriftsteller (Epist. 1,7,5 und 2,10Plinius der JüngereEpist. 2.10 charakterisieren ihn als Dichter), und so passt es, dass Plinius seine Korrespondenz mit ihm durch Homer-Zitate anreichert. In seinem Schreiben an Plinius hatte Octavius seinen Freund anscheinend scherzhaft mit Zeus bei HomerHomerIl. 16.250 verglichen, der Bitten entweder gewähren oder abschlagen kann (1,7,1 = Il. 16,250): τῷ δ᾽ ἕτερον μὲν ἔδωκε πατήρ, ἕτερον δ᾽ ἀνένευσεν.31 Plinius greift das von Octavius gebrauchte Zitat auf und verleiht seiner Entscheidung im Zusammenhang mit dem Prozess um die Provinz Baetica somit episches Kolorit; dieses literarische Spiel wird im Verlauf des Briefes weitergeführt (1,7,4; vgl. Il. 1,528)HomerIl. 1.528: Ἦ καὶ κυανέῃσιν ἐπ' ὀφρύσι νεῦσε. Cur enim non usquequaque Homericis versibus agam tecum?32 Indem Plinius seine Unterhaltung mit Octavius Rufus durch Homerzitate anreichert, evoziert er womöglich ein Schreiben Ciceros an Trebatius, wo wir ein ähnliches Spiel mit Zitaten aus der Medea Exul des EnniusEnniusMed. fr. 4.259‒61 Vahlen beobachten können (Fam. 7,6,2:CiceroFam. 7.6.2 et quoniam Medeam coepi agere).33 Während Cicero zu Trebatius sozusagen in der theatralen Rolle Medeas spricht (Medeam agere), verwendet Plinius das Verb agere im Sinne von „mit jemandem Umgang pflegen“, bzw. „kommunizieren“34 – die KorrespondenzPlinius der JüngereEpist. 1.1 über einen bevorstehenden Repetundenprozess gewinnt damit sozusagen eine epische Dimension.Plinius der JüngereEpist. 1.7

 

Sowohl das Thema des Prozessierens vor Gericht als auch das Einstreuen von Homer-Zitaten bilden eine Verbindung zur Epistel 1,18Plinius der JüngereEpist. 1.18 an Sueton. Plinius antwortet hier auf ein Schreiben Suetons, in dem dieser von einem schlechten Traum berichtet (1: scribis te perterritum somnio vereri) und Plinius gebeten hat, eine bevorstehende Gerichtsverhandlung zu verschieben, da er den Traum als schlechtes Omen deutet.35 Plinius willigt ein, es zu versuchen, mit der Begründung καὶ γάρ τ' ὄναρ ἐκ Διός ἐστιν (1,18,1 = Il. 1,63)HomerIl. 1.63.36 Es folgt eine Passage, in der Plinius Sueton davon zu überzeugen versucht, dass man schlechte Träume auch positiv auslegen könne, so wie er selbst es einmal vor dem Prozess des Iunius Pastor37 gemacht habe: Plinius sei im Schlaf die Schwiegermutter38 erschienen und habe ihn angefleht, nicht vor Gericht aufzutreten (3). Plinius war damals noch ein ganz junger Mann, und der Fall hatte einiges an politischer Brisanz (3):

Et eram acturus adulescentulus adhuc, eram in quadruplici iudicio, eram contra potentissimos civitatis atque etiam Caesaris amicos; quae singula excutere mentem mihi post tam triste somnium poterant.

Die drei durch anaphorisches eram eingeleiteten Glieder dieser Aufzählung heben die Schwierigkeiten hervor, mit denen Plinius adulescentulus bei dem bevorstehenden Prozess konfrontiert war. Um welchen Kaiser es sich hier handelt, gegen dessen Freunde Plinius vorzugehen beabsichtigte, ist nicht näher erwähnt, jedoch dürfte der Leser nach der bisherigen Lektüre von Buch 1 auch hier an Domitian denken.39 Indem sich Plinius als junger Mann präsentiert, der vor Gericht gegen mächtige Männer kämpfte, spielt er auf Ciceros Selbstdarstellung in Off. 2,51CiceroOff. 2.51 (vgl. S. Rosc. 1CiceroS. Rosc. 1) an:40

Maxime autem et gloria paritur et gratia defensionibus, eoque maior, si quando accidit, ut ei subveniatur, qui potentis alicuius opibus circumveniri urgerique videatur, ut nos et saepe alias et adulescentes contra L. Sullae dominantis opes pro Sex. Roscio Amerino fecimus, quae, ut scis, extat oratio.

Ähnlich wie Cicero, der als adulescens erfolgreich für Sextus Roscius Amerinus gegen Sullas Günstling Chrysogonos gekämpft hatte,41 setzte sich Plinius als adulecentulus42 für Iunius Pastor ein gegen die einflussreichen Freunde des Kaisers.

Ungeachtet seines Traumes und der genannten Hürden beschloss PliniusPlinius der JüngereEpist. 1.18, in Erinnerung an ein Homer-Zitat, vor Gericht zu erscheinen (4): Egi tamen λογισάμενος illud εἷς οἰωνὸς ἄριστος ἀμύνεσθαι περὶ πάτρης (vgl. Il. 12,243)HomerIl. 12.243.43 An die Stelle der homerischen πάτρη trat für Plinius die fides gegenüber seinem Mandanten, und so ging dieser Prozess denn auch erfolgreich aus (4): illa actio mihi aures hominum, illa ianuam famae patefecit. Zum Schluss fordert Plinius Sueton dazu auf, seinem exemplum zu folgen (5) – andernfalls44 werde er schon für eine Aufschiebung der Verhandlung sorgen (6). Der BriefPlinius der JüngereEpist. 1.18 ist vordergründig als Diskussion über Möglichkeiten der Traumdeutung „getarnt“, behandelt jedoch als eine Art narrative Analepse im Kontext von Buch 1 eine wichtige Phase in Plinius’ Biographie als Prozessredner ‒ seine ersten Anfänge auf diesem Gebiet ‒ und stellt überdies seine Unerschrockenheit und Charakterstärke heraus. Zudem parallelisieren die Anspielungen auf Homer und Cicero Plinius’ Auftreten vor dem Zentumviralgericht mit Heldentaten aus der Welt des Epos und der römischen Republik.45Plinius der JüngereEpist. 1.18